Colson Whiteheads Bestseller über eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte Amerikas - ausgezeichnet mit dem Pulitzer Preis 2017 und ab 14. Mai bei Amazon Prime unter der Regie von Academy-Award-Gewinner Barry Jenkins Cora ist nur eine von unzähligen Schwarzen, die auf den Baumwollplantagen Georgias schlimmer als Tiere behandelt werden. Alle träumen von der Flucht - doch wie und wohin? Da hört Cora von der Underground Railroad, einem geheimen Fluchtnetzwerk für Sklaven. Über eine Falltür gelangt sie in den Untergrund und es beginnt eine atemberaubende Reise, auf der sie Leichendieben, Kopfgeldjägern, obskuren Ärzten, aber auch heldenhaften Bahnhofswärtern begegnet. Jeder Staat, den sie durchquert, hat andere Gesetze, andere Gefahren. Wartet am Ende wirklich die Freiheit? Colson Whiteheads Roman ist eine virtuose Abrechnung damit, was es bedeutete und immer noch bedeutet, schwarz zu sein in Amerika.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2017Amerikas Erbe
In seinem überwältigenden Roman "Underground Railroad" erzählt Colson Whitehead, warum die Geschichte der Sklaverei nicht abgeschlossen ist. Ihre Folgen durchziehen bis heute den amerikanischen Alltag
Cora ist eine Sklavin.
Das ist ein ungeheuerlicher Satz. Was er sagt, ist in dem metaphorischen Gebrauch des Worts untergegangen. Hier ist er wörtlich zu nehmen. Was der Satz bedeutet, ist dies: Cora ist vor dem Gesetz kein Mensch. Sie ist ein Ding im rechtmäßigen Besitz eines anderen, eines Plantagenbesitzers, für den sie Baumwolle pflückt. Er hatte ihre Großmutter gekauft, bevor Coras Mutter geboren war, das einzige der fünf Kinder, das älter wurde als zehn. Randall hieß der Plantagenbesitzer, und auch Cora gehörte ihm, schon ehe sie den ersten Atemzug tat. Ein Ding im Besitz eines anderen zu sein vererbt sich über die Mütter, denn wer weiß schon, wer die Väter sind und ob sie vielleicht Freie waren und weiß, vielleicht der Besitzer oder der Vorbesitzer selbst. Als Sklavin hat Cora nicht mehr Rechte als der Rechen im Schuppen, hinter dem sie vergewaltigt wird. Auf einem winzig kleinen Stück Land, zwischen ihrer Hütte und der nächsten, so groß wie ein Schritt im Quadrat, pflanzt sie Sauerampfer und Yam. Als ein Stärkerer kommt, der einen Hund hat und sie vertreiben will, greift sie zur Axt. Wie alle Sklaven denkt sie nur an eines, an die Flucht. Wie die meisten wagt sie kaum, sie sich vorzustellen.
Cora ist die Heldin in Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad", eine Heldin, existentiell und kreatürlich, die tötet, wenn es sein muss, und zutritt, weil es ihr guttut. Das Buch erzählt die Geschichte ihrer Flucht in einer furiosen Genremischung: Da Cora sich als Halbwüchsige auf den Weg macht, ist es ein Entwicklungsroman, auch wenn die Geschichte nicht psychologisch angelegt ist. Da sie das Land von Süden nach Norden durchquert, eine Reisegeschichte, da sie verfolgt wird, ein Thriller, und weil die Underground Railroad im Titel hier tatsächlich eine unterirdische Eisenbahn ist, haben der Thriller und die Reisegeschichte einen phantastischen Überbau.
Im Kern aber ist das Ganze der literarische Aufriss der wahren Geschichte Amerikas. Daran ändert nichts, dass Whitehead Cora erfunden hat wie auch die Reiseroute, die Gesetze einiger Staaten, die anderen Figuren und auch die Underground Railroad, die im neunzehnten Jahrhundert eine Metapher für Fluchthilfe war, aber keine Eisenbahn. Auch die Staaten, die Cora auf ihrer Flucht durchquert, sind Erfindungen, obwohl sie so heißen, wie sie auf der Landkarte stehen - Georgia, South Carolina, North Carolina, Tennessee, Indiana und "der Norden". Aber jeder dieser Staaten steht für einen bestimmten Aspekt, eine besondere Ausprägung des amerikanischen Rassismus durch die Zeiten hindurch.
Der Roman spielt um 1850, also vor dem Bürgerkrieg, der von 1861 bis 1865 dauerte. Doch Whitehead nimmt vorweg, was im und nach dem Bürgerkrieg geschah. Das Lynchen vermeintlich freier Bürger. Medizinische Experimente an schwarzen Körpern. Phantasien vom rein weißen Amerika durch Deportation aller Schwarzen zurück nach Afrika. Die "große Wanderung" nach Norden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Jim-Crow-Gesetze, die zum Beispiel in "Whites Only"-Schildern in Bussen oder Restaurants rassistische Segregation festschrieben. Und in Ridgeway, dem Sklavenjäger, der Cora verfolgt, ist ein nicht sehr ferner Verwandter jener Polizisten zu erkennen, die heute unbewaffnete Afroamerikaner erschießen. Gleichzeitig wird in dieser Figur eine der zentralen Paradoxien der Idee von "White Supremacy" greifbar. Denn die fanatische Gewalt, mit der Ridgeway hinter Cora her ist, bindet ihn mit immenser Kraft an sie, über der er doch haushoch zu stehen behauptet. Die Sklaverei zeichnet die Sklaven ebenso wie alle, die Sklaverei betreiben.
Underground Railroad" ist daher nicht die Geschichte des schwarzen Amerikas. Nicht die Geschichte der Afroamerikaner, sondern die Geschichte des ganzen Landes. Bisher sind wir gewohnt, die Geschichte der Vereinigten Staaten als Landnahme- und Besiedlungsgeschichte zu lesen, als Erzählung vom immer weiter nach Westen vorrückenden Grenzland. Im Western geschieht das gern auch unter dem Schutz ehemaliger Kämpfer für die "verlorene Sache" der Südstaaten, die nach dem Krieg mit der Kavallerie dem Pazifik entgegenritten.
Mit "Underground Railroad" hat sich diese sentimentale Sicht endgültig erledigt. Whitehead ist sich dessen bewusst. Sein Amerika ist von Anfang an auf Verbrechen und Gewalt gegründet: "Falls es irgendwo Gerechtigkeit gibt auf dieser Welt, dürfte diese Nation nicht existieren, denn sie beruht auf Mord, Diebstahl und Grausamkeit." Weder die Enteignung und weitgehende Ausrottung der Ureinwohner noch das Institut der Sklaverei sind Nebenzweige auf dem Weg des Landes vom frühen siebzehnten Jahrhundert bis heute. Sie sind die Geschichte, und Whitehead rückt sie aus den Fußnoten der Geschichtsbücher, in denen sie gemeinhin stehen, und von den Rändern, an die sie gedrängt wurden, ins Zentrum. Seht her, sagt er mit diesem Buch, Coras Geschichte und die derer, denen sie begegnet - ihrer Peiniger so gut wie ihrer Helfer, ihrer Begleiter so gut wie ihrer Verfolger -, das ist euer Erbe. Da kommt ihr her. Das ist die Vorgeschichte für alles, was heute in eurem, unserem Land geschieht. Der "amerikanische Imperativ", den Ridgeway einmal zitiert, klingt nicht wie aus fernen Zeiten: "Wenn du es behalten kannst, ist es deins. Dein Besitz. Sklave oder Kontinent." Man muss auch das wörtlich nehmen.
Gerade die populäre Kultur und da insbesondere der Western haben die Legende genährt, im Bürgerkrieg sei mit der Sklaverei, zu der sich kaum einer nach Kriegsende noch offen bekennen mochte, auch etwas untergegangen, dessen Verlust zu betrauern sei. Ein Süden, in dem nicht alle Sklavenhalter schlecht waren, in dem die Gemeinschaft - wenn auch nur die der Weißen, Reichen - etwas zählte, in dem die Menschen unentfremdet mit der Natur lebten und die Städte keine der Laster der Großstadtmoloche des Nordens beherbergten. Viele der Statuen von den Helden dieser Legenden, zu denen auch General Robert E. Lee gehört, wurden nicht etwa nach dem Bürgerkrieg, sondern ungefähr zur selben Zeit errichtet, in der die Filme (wie die Kavallerietrilogie von John Ford etwa, oder auch "The Searchers") solchen Männern der Vergangenheit im Kino ein Denkmal setzten. Man braucht in ihnen keine Verherrlichung der Sklaverei zu sehen, die in ihnen auch gar keine Rolle spielt.
Aber dass sie in ihrer Verklärung des Südens, wie er einmal gewesen sei, eine Legende erzählen, die nicht von der Versöhnung einstiger Sklaven und ihrer Besitzer handelt, sondern einzig von der Versöhnung der Weißen mit ihrer Vergangenheit als Sklavenhalter, löst heute diese Wut aus und das Bedürfnis, solche Denkmäler zu stürzen. Ein Ort des Verbrechens übrigens wie der Auktionsblock, auf dem in Charlottesville nicht weit von General Robert E. Lees Standbild Sklaven versteigert wurden, ist dort nur mit einer kleinen Plakette im Bürgersteig gekennzeichnet. Es gibt keinen verlorenen Süden, um den es sich zu trauern lohnte, außer für die, in deren Händen er einmal war. Auch das zeigt dieses Buch, das im vergangenen Jahr in Amerika erschien und weder von Donald Trump noch vom Erstarken der "White Supremacists" etwas wissen konnte.
Cora ist ungefähr acht, vielleicht auch zehn, als ihre Mutter Mabel eines Nachts verschwindet und nicht wiederkommt. Ridgeway und andere Sklavenjäger sind hinter ihr her, ein Kopfgeld wird ausgesetzt, aber niemand findet sie. Mabel, so wird erzählt, ist die Einzige, der jemals die Flucht von der Plantage in Georgia gelang. Die Einzige, die nicht wieder eingefangen wurde. Cora ist wütend auf ihre Mutter, die sie verlassen hat, so dass sie allein zurückblieb, und die ihr fehlt. Aber sie ist auch stolz auf diese Frau, die sich offenbar die Freiheit erkämpfte und sie sich nicht wieder nehmen ließ. Als Cora sich entschließt, dem Vorschlag Caesars, eines Sklaven auf derselben Plantage, zu folgen und gemeinsam zu verschwinden, denken sie beide daran, dass es Mabel vor ihnen geschafft hat. Sechs Jahre ist das her. Caesar will Cora dabeihaben, damit ihm Mabels Tochter Glück bringt. Erst sagt Cora Nein. Doch nachdem sie einen Jungen beschützte - "ehe die Sklavin in ihr den Menschen in ihr einholte" - und zur Strafe schwer misshandelt wurde, sagt sie Ja. Und das, obwohl sie mitangesehen hat, was Big Anthony angetan wurde, der auf seiner Flucht immerhin 26 Meilen weit gekommen war, bevor er wieder eingefangen wurde.
Den schwarzen Körper zur Belustigung und Unterhaltung der Weißen zu quälen, auszustellen, begaffen zu lassen - das war weitverbreitete Praxis bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein und ist bis heute ein Topos in den Beziehungen zwischen Afroamerikanern und Weißen (wie zuletzt die Auseinandersetzung um Dana Schutz' Gemälde "Open Casket" zeigte). Whitehead schildert diese Art des Entertainments so: "Randalls Besucher schlürften gewürzten Rum, während Big Anthony mit Öl übergossen und geröstet wurde. Den Zeugen blieben seine Schreie erspart, weil man ihm schon am ersten Tag sein Geschlecht abgeschnitten, es ihm in den Mund gestopft und diesen zugenäht hatte. Der Block qualmte, verkohlte und brannte." Am nächsten Abend ziehen Cora und Caesar los.
Die Stationen der Underground Railroad, von der Caesar gehört hat und von denen aus sie nach Norden gelangen würden, erreichen sie durch Falltüren in Häusern von hilfreichen Menschen oder über Treppenabgänge in Höhlen, die in den Untergrund führen. Die Stationen sind in unterschiedlichem Zustand, manche prächtig, manche verfallen und voller Ungeziefer, manche Streckenabschnitte sind bereits wieder geschlossen, andere von vornherein ein Gerücht. Es ist ein phantastischer literarischer Trick von Whitehead, die Underground Railroad in eine tatsächliche unterirdische Bahn zu verwandeln. Er nimmt den Namen wörtlich, wie es der Tradition oraler Überlieferung entspricht. Denn eigentlich war Underground Railroad nur die metaphorische Bezeichnung für jene organisatorisch lose verbundenen Männer und Frauen, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Fluchthilfe leisteten, und für die "safehouses" entlang der Fluchtrouten. Es waren freie Afroamerikaner oder ihrerseits Geflohene und auch aufgeklärte Weiße aus der Abolitionsbewegung, die entkommene Sklaven von den Plantagen im Süden aufnahmen und ihnen den Weg in den Norden, wo die Sklaverei zum Teil bereits abgeschafft war, erleichterten beziehungsweise überhaupt erst ermöglichten.
Die Helfer trugen Tarnbezeichnungen wie "Schaffner" oder "Stationsvorsteher", und die Menschen, denen sie halfen, waren "Lieferungen" oder "Pakete". William Still zum Beispiel, der minutiös die Erzählungen von Geflohenen gesammelt und 1872 veröffentlicht hat ("The Underground Railroad Authentic Narratives and First-Hand Accounts"), war "Schaffner". Obwohl hier wie in anderen Zeugnissen der Bewegung das Gegenteil dokumentiert ist, herrschte lange die Auffassung, die geflohenen Sklaven hätten sich vor allem dank weißer Retter in Sicherheit bringen können, und selbst der Ruhm von Harriet Tubman, der ihrerseits die Flucht in den Norden geglückt war und die vielen Hundert Sklaven zu entkommen half, konnte an der Geschichte vom "white savior" nicht viel ändern. Auch Quentin Tarantino hat sie in "Django Unchained" wieder aufgewärmt.
Die Helfer in Whiteheads Roman sind schwarz und weiß, und ihr Schicksal, wenn sie gefasst werden, ist von besonderer Grausamkeit. Cora begegnet ihnen auf ihrem Weg durch eine historisch elastische Landschaft, in der Whitehead wesentliche Motive und Ereignisse der Geschichte, die zeitlich weit auseinanderliegen, geographisch festschreibt, ein Manöver phantastischen Schreibens, das hier ebenso blendend funktioniert wie sein Auslegen falscher Fährten (etwa in der Geschichte um Mabels Flucht) und anderer Plottechniken, die in einem Sklavenroman eher ungewöhnlich sind. In South Carolina, wo Cora sich zunächst aufgehoben und umfassend betreut fühlt, wird schwarzen Frauen die Sterilisierung nahegelegt, und eine Klinik führt Experimente durch, die an die Syphilis-Studie erinnern, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts infizierte Schwarze zu Forschungszwecken unbehandelt blieben.
In South Carolina ist es auch, dass Cora kostümiert und grimassierend Teil einer Ausstellung wird, eines Dioramas im "Museum der Naturwunder", das eine sentimental verklärte Version des Plantagenlebens in die Erinnerungskultur überführt. In North Carolina überlebt Cora wie einst Harriet Ann Jacobs auf dem Dachboden eines Ehepaars, das aus unterschiedlichen Motiven hilft: Martin, der Mann, weil er die Arbeit seines Vaters fortführt. Ethel, seine Frau, weil sie immer schon "eine Wilde" ihr "Eigentum nennen" wollte. Durchs Fenster beobachtet Cora, was draußen vor sich geht: öffentliche Lynchmorde als Wochenendschauspiel für die Dorfgemeinschaft. Sie wird verraten, gefasst, flieht erneut. In Tennessee trifft sie endlich auf eine Gemeinschaft anderer, die es geschafft haben. Ein Utopia, das nicht lange bestehen bleibt. Und so unterläuft Whitehead den erhebenden Effekt, der Geschichten geflohener Sklaven innewohnt. Cora entkommt immer nur vorübergehend.
Dreißig Jahre ist es her, dass Toni Morrisons großer Roman "Beloved" herauskam, ein Buch, von dem man dachte, mit ihm sei literarisch das endgültige Wort zur Sklaverei gesprochen. Doch seither türmen sich weitere Romane, Sachbücher, Filme, Fernsehserien zum Thema. Whitehead hat das zur Kenntnis genommen und dennoch etwas ganz Neues geschaffen. Sein Roman steht einerseits in der Tradition von "Beloved" als fiktiver Geschichte eines Sklavenlebens, und im ersten kurzen Kapitel über Coras Großmutter Ajarry kann man fast ein Echo von Toni Morrisons Stimme hören, wenn Ajarry sich an ihre Kinder erinnert, die gestorben sind: "Wenigstens sind sie nie verkauft worden." Doch dann geht Whitehead noch ein Stück weiter und macht die Geschichte, die er erfindet, als all American history kenntlich, die gerade nicht so funktioniert, wie es all American stories gern tun. Dem Kampf um die Freiheit folgt in diesem Fall nicht der Lohn.
Die Geschichte der Sklaverei ist nicht abgeschlossen. Ihre Folgen durchziehen bis heute den amerikanischen Alltag. So muss man dieses Buch lesen, das Erzählungen, Erfahrungen und Erinnerungen aus dreieinhalb Jahrhunderten in sich aufgenommen hat und als neue, alle Spuren berührende und zusammenführende Geschichte vor uns steht, als The Great American Novel.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem überwältigenden Roman "Underground Railroad" erzählt Colson Whitehead, warum die Geschichte der Sklaverei nicht abgeschlossen ist. Ihre Folgen durchziehen bis heute den amerikanischen Alltag
Cora ist eine Sklavin.
Das ist ein ungeheuerlicher Satz. Was er sagt, ist in dem metaphorischen Gebrauch des Worts untergegangen. Hier ist er wörtlich zu nehmen. Was der Satz bedeutet, ist dies: Cora ist vor dem Gesetz kein Mensch. Sie ist ein Ding im rechtmäßigen Besitz eines anderen, eines Plantagenbesitzers, für den sie Baumwolle pflückt. Er hatte ihre Großmutter gekauft, bevor Coras Mutter geboren war, das einzige der fünf Kinder, das älter wurde als zehn. Randall hieß der Plantagenbesitzer, und auch Cora gehörte ihm, schon ehe sie den ersten Atemzug tat. Ein Ding im Besitz eines anderen zu sein vererbt sich über die Mütter, denn wer weiß schon, wer die Väter sind und ob sie vielleicht Freie waren und weiß, vielleicht der Besitzer oder der Vorbesitzer selbst. Als Sklavin hat Cora nicht mehr Rechte als der Rechen im Schuppen, hinter dem sie vergewaltigt wird. Auf einem winzig kleinen Stück Land, zwischen ihrer Hütte und der nächsten, so groß wie ein Schritt im Quadrat, pflanzt sie Sauerampfer und Yam. Als ein Stärkerer kommt, der einen Hund hat und sie vertreiben will, greift sie zur Axt. Wie alle Sklaven denkt sie nur an eines, an die Flucht. Wie die meisten wagt sie kaum, sie sich vorzustellen.
Cora ist die Heldin in Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad", eine Heldin, existentiell und kreatürlich, die tötet, wenn es sein muss, und zutritt, weil es ihr guttut. Das Buch erzählt die Geschichte ihrer Flucht in einer furiosen Genremischung: Da Cora sich als Halbwüchsige auf den Weg macht, ist es ein Entwicklungsroman, auch wenn die Geschichte nicht psychologisch angelegt ist. Da sie das Land von Süden nach Norden durchquert, eine Reisegeschichte, da sie verfolgt wird, ein Thriller, und weil die Underground Railroad im Titel hier tatsächlich eine unterirdische Eisenbahn ist, haben der Thriller und die Reisegeschichte einen phantastischen Überbau.
Im Kern aber ist das Ganze der literarische Aufriss der wahren Geschichte Amerikas. Daran ändert nichts, dass Whitehead Cora erfunden hat wie auch die Reiseroute, die Gesetze einiger Staaten, die anderen Figuren und auch die Underground Railroad, die im neunzehnten Jahrhundert eine Metapher für Fluchthilfe war, aber keine Eisenbahn. Auch die Staaten, die Cora auf ihrer Flucht durchquert, sind Erfindungen, obwohl sie so heißen, wie sie auf der Landkarte stehen - Georgia, South Carolina, North Carolina, Tennessee, Indiana und "der Norden". Aber jeder dieser Staaten steht für einen bestimmten Aspekt, eine besondere Ausprägung des amerikanischen Rassismus durch die Zeiten hindurch.
Der Roman spielt um 1850, also vor dem Bürgerkrieg, der von 1861 bis 1865 dauerte. Doch Whitehead nimmt vorweg, was im und nach dem Bürgerkrieg geschah. Das Lynchen vermeintlich freier Bürger. Medizinische Experimente an schwarzen Körpern. Phantasien vom rein weißen Amerika durch Deportation aller Schwarzen zurück nach Afrika. Die "große Wanderung" nach Norden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Jim-Crow-Gesetze, die zum Beispiel in "Whites Only"-Schildern in Bussen oder Restaurants rassistische Segregation festschrieben. Und in Ridgeway, dem Sklavenjäger, der Cora verfolgt, ist ein nicht sehr ferner Verwandter jener Polizisten zu erkennen, die heute unbewaffnete Afroamerikaner erschießen. Gleichzeitig wird in dieser Figur eine der zentralen Paradoxien der Idee von "White Supremacy" greifbar. Denn die fanatische Gewalt, mit der Ridgeway hinter Cora her ist, bindet ihn mit immenser Kraft an sie, über der er doch haushoch zu stehen behauptet. Die Sklaverei zeichnet die Sklaven ebenso wie alle, die Sklaverei betreiben.
Underground Railroad" ist daher nicht die Geschichte des schwarzen Amerikas. Nicht die Geschichte der Afroamerikaner, sondern die Geschichte des ganzen Landes. Bisher sind wir gewohnt, die Geschichte der Vereinigten Staaten als Landnahme- und Besiedlungsgeschichte zu lesen, als Erzählung vom immer weiter nach Westen vorrückenden Grenzland. Im Western geschieht das gern auch unter dem Schutz ehemaliger Kämpfer für die "verlorene Sache" der Südstaaten, die nach dem Krieg mit der Kavallerie dem Pazifik entgegenritten.
Mit "Underground Railroad" hat sich diese sentimentale Sicht endgültig erledigt. Whitehead ist sich dessen bewusst. Sein Amerika ist von Anfang an auf Verbrechen und Gewalt gegründet: "Falls es irgendwo Gerechtigkeit gibt auf dieser Welt, dürfte diese Nation nicht existieren, denn sie beruht auf Mord, Diebstahl und Grausamkeit." Weder die Enteignung und weitgehende Ausrottung der Ureinwohner noch das Institut der Sklaverei sind Nebenzweige auf dem Weg des Landes vom frühen siebzehnten Jahrhundert bis heute. Sie sind die Geschichte, und Whitehead rückt sie aus den Fußnoten der Geschichtsbücher, in denen sie gemeinhin stehen, und von den Rändern, an die sie gedrängt wurden, ins Zentrum. Seht her, sagt er mit diesem Buch, Coras Geschichte und die derer, denen sie begegnet - ihrer Peiniger so gut wie ihrer Helfer, ihrer Begleiter so gut wie ihrer Verfolger -, das ist euer Erbe. Da kommt ihr her. Das ist die Vorgeschichte für alles, was heute in eurem, unserem Land geschieht. Der "amerikanische Imperativ", den Ridgeway einmal zitiert, klingt nicht wie aus fernen Zeiten: "Wenn du es behalten kannst, ist es deins. Dein Besitz. Sklave oder Kontinent." Man muss auch das wörtlich nehmen.
Gerade die populäre Kultur und da insbesondere der Western haben die Legende genährt, im Bürgerkrieg sei mit der Sklaverei, zu der sich kaum einer nach Kriegsende noch offen bekennen mochte, auch etwas untergegangen, dessen Verlust zu betrauern sei. Ein Süden, in dem nicht alle Sklavenhalter schlecht waren, in dem die Gemeinschaft - wenn auch nur die der Weißen, Reichen - etwas zählte, in dem die Menschen unentfremdet mit der Natur lebten und die Städte keine der Laster der Großstadtmoloche des Nordens beherbergten. Viele der Statuen von den Helden dieser Legenden, zu denen auch General Robert E. Lee gehört, wurden nicht etwa nach dem Bürgerkrieg, sondern ungefähr zur selben Zeit errichtet, in der die Filme (wie die Kavallerietrilogie von John Ford etwa, oder auch "The Searchers") solchen Männern der Vergangenheit im Kino ein Denkmal setzten. Man braucht in ihnen keine Verherrlichung der Sklaverei zu sehen, die in ihnen auch gar keine Rolle spielt.
Aber dass sie in ihrer Verklärung des Südens, wie er einmal gewesen sei, eine Legende erzählen, die nicht von der Versöhnung einstiger Sklaven und ihrer Besitzer handelt, sondern einzig von der Versöhnung der Weißen mit ihrer Vergangenheit als Sklavenhalter, löst heute diese Wut aus und das Bedürfnis, solche Denkmäler zu stürzen. Ein Ort des Verbrechens übrigens wie der Auktionsblock, auf dem in Charlottesville nicht weit von General Robert E. Lees Standbild Sklaven versteigert wurden, ist dort nur mit einer kleinen Plakette im Bürgersteig gekennzeichnet. Es gibt keinen verlorenen Süden, um den es sich zu trauern lohnte, außer für die, in deren Händen er einmal war. Auch das zeigt dieses Buch, das im vergangenen Jahr in Amerika erschien und weder von Donald Trump noch vom Erstarken der "White Supremacists" etwas wissen konnte.
Cora ist ungefähr acht, vielleicht auch zehn, als ihre Mutter Mabel eines Nachts verschwindet und nicht wiederkommt. Ridgeway und andere Sklavenjäger sind hinter ihr her, ein Kopfgeld wird ausgesetzt, aber niemand findet sie. Mabel, so wird erzählt, ist die Einzige, der jemals die Flucht von der Plantage in Georgia gelang. Die Einzige, die nicht wieder eingefangen wurde. Cora ist wütend auf ihre Mutter, die sie verlassen hat, so dass sie allein zurückblieb, und die ihr fehlt. Aber sie ist auch stolz auf diese Frau, die sich offenbar die Freiheit erkämpfte und sie sich nicht wieder nehmen ließ. Als Cora sich entschließt, dem Vorschlag Caesars, eines Sklaven auf derselben Plantage, zu folgen und gemeinsam zu verschwinden, denken sie beide daran, dass es Mabel vor ihnen geschafft hat. Sechs Jahre ist das her. Caesar will Cora dabeihaben, damit ihm Mabels Tochter Glück bringt. Erst sagt Cora Nein. Doch nachdem sie einen Jungen beschützte - "ehe die Sklavin in ihr den Menschen in ihr einholte" - und zur Strafe schwer misshandelt wurde, sagt sie Ja. Und das, obwohl sie mitangesehen hat, was Big Anthony angetan wurde, der auf seiner Flucht immerhin 26 Meilen weit gekommen war, bevor er wieder eingefangen wurde.
Den schwarzen Körper zur Belustigung und Unterhaltung der Weißen zu quälen, auszustellen, begaffen zu lassen - das war weitverbreitete Praxis bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein und ist bis heute ein Topos in den Beziehungen zwischen Afroamerikanern und Weißen (wie zuletzt die Auseinandersetzung um Dana Schutz' Gemälde "Open Casket" zeigte). Whitehead schildert diese Art des Entertainments so: "Randalls Besucher schlürften gewürzten Rum, während Big Anthony mit Öl übergossen und geröstet wurde. Den Zeugen blieben seine Schreie erspart, weil man ihm schon am ersten Tag sein Geschlecht abgeschnitten, es ihm in den Mund gestopft und diesen zugenäht hatte. Der Block qualmte, verkohlte und brannte." Am nächsten Abend ziehen Cora und Caesar los.
Die Stationen der Underground Railroad, von der Caesar gehört hat und von denen aus sie nach Norden gelangen würden, erreichen sie durch Falltüren in Häusern von hilfreichen Menschen oder über Treppenabgänge in Höhlen, die in den Untergrund führen. Die Stationen sind in unterschiedlichem Zustand, manche prächtig, manche verfallen und voller Ungeziefer, manche Streckenabschnitte sind bereits wieder geschlossen, andere von vornherein ein Gerücht. Es ist ein phantastischer literarischer Trick von Whitehead, die Underground Railroad in eine tatsächliche unterirdische Bahn zu verwandeln. Er nimmt den Namen wörtlich, wie es der Tradition oraler Überlieferung entspricht. Denn eigentlich war Underground Railroad nur die metaphorische Bezeichnung für jene organisatorisch lose verbundenen Männer und Frauen, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Fluchthilfe leisteten, und für die "safehouses" entlang der Fluchtrouten. Es waren freie Afroamerikaner oder ihrerseits Geflohene und auch aufgeklärte Weiße aus der Abolitionsbewegung, die entkommene Sklaven von den Plantagen im Süden aufnahmen und ihnen den Weg in den Norden, wo die Sklaverei zum Teil bereits abgeschafft war, erleichterten beziehungsweise überhaupt erst ermöglichten.
Die Helfer trugen Tarnbezeichnungen wie "Schaffner" oder "Stationsvorsteher", und die Menschen, denen sie halfen, waren "Lieferungen" oder "Pakete". William Still zum Beispiel, der minutiös die Erzählungen von Geflohenen gesammelt und 1872 veröffentlicht hat ("The Underground Railroad Authentic Narratives and First-Hand Accounts"), war "Schaffner". Obwohl hier wie in anderen Zeugnissen der Bewegung das Gegenteil dokumentiert ist, herrschte lange die Auffassung, die geflohenen Sklaven hätten sich vor allem dank weißer Retter in Sicherheit bringen können, und selbst der Ruhm von Harriet Tubman, der ihrerseits die Flucht in den Norden geglückt war und die vielen Hundert Sklaven zu entkommen half, konnte an der Geschichte vom "white savior" nicht viel ändern. Auch Quentin Tarantino hat sie in "Django Unchained" wieder aufgewärmt.
Die Helfer in Whiteheads Roman sind schwarz und weiß, und ihr Schicksal, wenn sie gefasst werden, ist von besonderer Grausamkeit. Cora begegnet ihnen auf ihrem Weg durch eine historisch elastische Landschaft, in der Whitehead wesentliche Motive und Ereignisse der Geschichte, die zeitlich weit auseinanderliegen, geographisch festschreibt, ein Manöver phantastischen Schreibens, das hier ebenso blendend funktioniert wie sein Auslegen falscher Fährten (etwa in der Geschichte um Mabels Flucht) und anderer Plottechniken, die in einem Sklavenroman eher ungewöhnlich sind. In South Carolina, wo Cora sich zunächst aufgehoben und umfassend betreut fühlt, wird schwarzen Frauen die Sterilisierung nahegelegt, und eine Klinik führt Experimente durch, die an die Syphilis-Studie erinnern, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts infizierte Schwarze zu Forschungszwecken unbehandelt blieben.
In South Carolina ist es auch, dass Cora kostümiert und grimassierend Teil einer Ausstellung wird, eines Dioramas im "Museum der Naturwunder", das eine sentimental verklärte Version des Plantagenlebens in die Erinnerungskultur überführt. In North Carolina überlebt Cora wie einst Harriet Ann Jacobs auf dem Dachboden eines Ehepaars, das aus unterschiedlichen Motiven hilft: Martin, der Mann, weil er die Arbeit seines Vaters fortführt. Ethel, seine Frau, weil sie immer schon "eine Wilde" ihr "Eigentum nennen" wollte. Durchs Fenster beobachtet Cora, was draußen vor sich geht: öffentliche Lynchmorde als Wochenendschauspiel für die Dorfgemeinschaft. Sie wird verraten, gefasst, flieht erneut. In Tennessee trifft sie endlich auf eine Gemeinschaft anderer, die es geschafft haben. Ein Utopia, das nicht lange bestehen bleibt. Und so unterläuft Whitehead den erhebenden Effekt, der Geschichten geflohener Sklaven innewohnt. Cora entkommt immer nur vorübergehend.
Dreißig Jahre ist es her, dass Toni Morrisons großer Roman "Beloved" herauskam, ein Buch, von dem man dachte, mit ihm sei literarisch das endgültige Wort zur Sklaverei gesprochen. Doch seither türmen sich weitere Romane, Sachbücher, Filme, Fernsehserien zum Thema. Whitehead hat das zur Kenntnis genommen und dennoch etwas ganz Neues geschaffen. Sein Roman steht einerseits in der Tradition von "Beloved" als fiktiver Geschichte eines Sklavenlebens, und im ersten kurzen Kapitel über Coras Großmutter Ajarry kann man fast ein Echo von Toni Morrisons Stimme hören, wenn Ajarry sich an ihre Kinder erinnert, die gestorben sind: "Wenigstens sind sie nie verkauft worden." Doch dann geht Whitehead noch ein Stück weiter und macht die Geschichte, die er erfindet, als all American history kenntlich, die gerade nicht so funktioniert, wie es all American stories gern tun. Dem Kampf um die Freiheit folgt in diesem Fall nicht der Lohn.
Die Geschichte der Sklaverei ist nicht abgeschlossen. Ihre Folgen durchziehen bis heute den amerikanischen Alltag. So muss man dieses Buch lesen, das Erzählungen, Erfahrungen und Erinnerungen aus dreieinhalb Jahrhunderten in sich aufgenommen hat und als neue, alle Spuren berührende und zusammenführende Geschichte vor uns steht, als The Great American Novel.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main