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Alles Leben vor dem Tod: John Banville lässt die Götter im Roman "Unendlichkeiten" ein großes Spiel mit den Sterblichen treiben.
Von Christian Geyer
Die Götter sind in John Banvilles Roman "Unendlichkeiten" zwar quicklebendig, aber stark heruntergekommen. Sie mischen beim Treiben der Erdbewohner mit, glauben aber nicht daran, dass Erkenntnis frei macht, und fürchten die Wahrheit wie der Teufel das Weihwasser.
Man liest das und denkt: Es ist misslich, wenn die Götter zu Relativisten werden. Allein ihre Robustheit als Götter lässt sie in diesem Roman die Wahrheit aushalten, an der die Menschen zugrunde gehen. So empfiehlt auch Hermes, die Erzählerstimme, nichts anderes als das nietzscheanische Als-ob, wenn er erklärt: "Gerade die Unfähigkeit der Sterblichen, sich die Dinge so vorzustellen, wie sie wirklich sind, ist es ja, die ihnen überhaupt erst erlaubt zu leben, würde doch ein einziger unverstellter Blick auf die Totalität der Welt sie augenblicklich vernichten, ganz so, als wehte sie ein Schwaden tödlichsten Faulschlammgases an." Daraus spricht nicht der Erkenntnisoptimismus des absoluten Geistes, an dem teilzuhaben die Menschen aufgerufen wären, sondern tiefer Defätismus. Banvilles Götter sind durch Schaden klug - und skeptisch geworden.
Man kann sich den Bruch mit der mythologischen Überlieferung, den der nur vom Hund Rex erkannte Hermes hier verkörpert, nicht tief genug vorstellen. In den antiken Philosophenschulen, bei den Epikureern, den Stoikern und den Kynikern, herrschte Einigkeit, dass man die Perspektive des Alls einzunehmen hat, den Blick von oben, um die Dinge in ihren richtigen Proportionen zu sehen. Man nahm damit teil am Blick der Götter selbst, den sie, unbeteiligt am Weltgeschehen, in ihrer ewigen heiteren Gelassenheit auf die Unendlichkeit des Raumes, der Zeit und der Welten werfen. Und nun dieses erkenntnistheoretische Desaster, dass der Blick auf die Totalität nicht therapiert, sondern krank macht, vernichtet - jedenfalls die Menschen, die nicht über die Widerstandskraft der Götter verfügen: "Wir sehen", sagt Hermes, "all dies jeden Moment in seiner ganzen Schrecklichkeit, doch uns ficht es nicht an; das eben ist's, was uns zu Göttern macht." Es ist nicht so, dass die Götter mit ihrem Durchblick die Welt im Sein erhalten. Sondern sie finden Strategien, um trotz ihres Durchblicks zu überleben. Das ist ein Unterschied, der in dem "reinen Roman", als welchen Banville die "Unendlichkeiten" begreift, den Unterschied macht. Menschen bleiben, so legt uns der große irische Erzähler nahe, auf den Tod als Elixier des Lebens angewiesen.
Warum Roman in Reinkultur? Weil hier ein Erzähler schalten und walten kann wie ein Gott, Welten aus dem Nichts der Phantasie erschafft und sie wieder in dieses Nichts zurücksinken lässt, sobald er aufhört, ihnen seine Stimme, die Stimme des Hermes, zu leihen. Die Handlung, vorderhand streng nach der Einheit von Ort und Zeit erzählt, spielt sich an einem einzigen Tag in einem einzigen Haus ab, entgleist aber lustspielartig immer wieder in Slapstickszenen und luftiger Götterdramaturgie. Der alte Adam Godley liegt nach einem Schlaganfall im Sterben, die Familie (Frau Ursula, Sohn Adam, Tochter Petra) eilt herbei. Als Mathematiker war Godley mit seinem Konzept der Unendlichkeit zu Ruhm gelangt, das nun, im Zwischenreich von Leben und Sterben, die Probe aufs Exempel besteht. Banville zufolge ist diese mathematische Theorie der Unendlichkeiten eine Luftnummer, die sich wissenschaftlicher Darlegung entzieht. Jedenfalls soll mit ihr die Antithese zu Plancks "Relativitätsschwindel" formuliert werden: In der sogenannten "Brahmahypothese" lässt Godley die gesamte Schöpfung aus dem zerlaufenen Dotter vom goldenen Brahma-Ei entstehen.
Immerhin ermöglicht diese wüste mathematische Theorie ein Ineinander von Natur und Übernatur, wie wir es aus dem klassischen Drama kennen. Hier dergestalt, dass Zeus und Hermes ungehinderten Zugang zum Himmelszimmer genannten Sterbezimmer Godleys erhalten und den mythologischen Kern des Romans zur Entfaltung bringen können: die Variation von Kleists "Amphitryon". Die Geschichte von Jupiter, der in Gestalt des thebanischen Feldherrn Amphitryon zur Erde kam, um eine Nacht mit dessen Gattin Alkmene zu verbringen, gehört in den Umkreis der Herakles-Mythen und hat mehrere literarische Anverwandlungen erlebt. Auch Banvilles Zeus wünscht, dass die schöne Helen, Gattin von Godleys Sohn Adam, zwischen (flammendem) Liebhaber und (erloschenem) Gemahl unterscheiden möge, als der Götterkönig in Gestalt des jungen Adam im Morgengrauen mit ihr schläft, ohne dass sie wüsste, wie ihr geschieht.
Dem sprachgewaltigen, mit sinnlicher Prosa brillierenden Banville gelingen dichte psychologische Beschreibungen. Der Schabernack der Götter führt zu einer eigenen Leichtigkeit inmitten der Schwere existentieller Fragestellungen. Beispielsweise wenn die diffuse Angst geschildert wird, die den jungen Adam vor dem Scheitern seiner Ehe mit Helen umtreibt. Dann kommt es zu glänzenden Passagen, die in ihrer Präzision und dem bildhaften Entschweben eine Traumwelt zu schildern scheinen: "Wieder ergreift die Angst von ihm Besitz, dass seine Ehe scheitern könnte. Es gibt nichts Konkretes, nichts, worauf er zeigen könnte, so wie die große rote Hand dort drüben, die zeigt, wo es zu den Klosetts geht, er hat bloß im Verlauf des letzten Jahres gemerkt, dass sein Leben mit Helen immer unverbindlicher geworden ist, immer mehr an Substanz verloren hat. Mitunter schaut ihn Helen an, als würde sie nicht wissen, wer er ist. Dann spürt er, wie er unter ihren Blicken schrumpft, wie einer, dem man nachschaut aus dem Zugfenster und der zurückbleibt auf dem Bahnsteig, wenn der Zug sich in Bewegung setzt, erst langsam und dann immer schneller."
Für Adam, der sich bei überhaupt gar nichts sicher sein kann, ist die größte Bedrohung, nichts mehr zu fürchten, an nichts mehr zu leiden, auf nichts mehr zu hoffen. Wie kann er sicherstellen, dass es ihm etwas ausmacht, zu schrumpfen und auf dem Bahnsteig zurückzubleiben? Festhalten wollen an jemandem, an etwas - wie das wohl geht? Das Koma, in dem der alte Godley liegt, bedroht auf die eine oder andere Weise alle Figuren des Romans. "Es ist, als schaute alles hier beiseite", heißt es in einer wunderbar poetischen Passage. Eine existentielle Erschöpfung liegt über der Szene und ihren Beteiligten. Über Petra, die einen Almanach aller bekannten Krankheiten erstellt. Über Ursula, die sich aus dem Schatten von Adams erster Frau nicht zu lösen vermag. Wie sich im Sein erhalten und nicht lautlos zurücksinken ins Nichts? So wird das Reich zwischen Leben und Tod, in dem sich der Vater organisch aufhält, zur Lebensform seiner Familie.
Doch was heißt Lebensform? Genauer handelt es sich um eine Form des Vegetierens, um eine intelligente Art des pflanzlichen Lebens, das vom Landsitz, in dem die Familie wegen des Vaters zusammenkommt, Besitz ergreift: "Was seinen derzeitigen Zustand anbelangt, so bezeichnet man diesen gemeinhin als Vegetieren. Und just das tut er, wenn wir dieses Wort in seiner alten, um nicht zu sagen archaischen Bedeutung nehmen, also im Sinne eines Ausgestattetseins mit pflanzlichem Leben. Aber kann eine Pflanze sehen, kann eine Pflanze hören, kann eine Pflanze - und das ist sicher das Entscheidende -, kann eine Pflanze denken?" Im Roman kann der Komapatient sehen, hören, denken, ohne dass es die Ärzte bemerken. Seine Angst ist entsprechend, dass man ihn voreilig begraben könnte. Die anderen kennen diese Angst als die Grundangst ihres eigenen Lebens: lebendig tot zu sein.
Schuld ist der Tod Gottes. Das ist die etwas hilflose Pointe dieses weltlich-theologischen Lustspiels, das in einer burlesken Apotheose des Lebens endet. Die Götter, die im Himmelszimmer rumfuhrwerken, sind nur Platzhalter für den "verblichenen Galiläer", wie Christus hier genannt wird. Sie ersetzen die Offenbarung des Heils durch Geschichten der Lebenskunst: "Wir bieten dir zwar keine Seelenrettung, aber auch keine Verdammnis: kein Leben nach dem Tode, in dem du dich bis in alle Ewigkeit langweilen sollst; keine Parusie, keinen Jüngsten Tag und keine Heimsuchung Gottes, kein himmlisches Königreich auf Erden; wahrhaftig nichts als Geschichten, tröstliche oder wenigstens tröstlich vernünftige Erzählungen davon, wie und warum die Dinge so sind, wie sie sind, und mit welchen Mitteln man sie ertragen oder bei Gelegenheit, sehr seltener Gelegenheit, sogar verändern kann." Bietet der Himmel also zum Vegetieren zu viel, zum Leben zu wenig? John Banvilles "Unendlichkeiten" sind eine Beschwörung der Geister, sich im Endlichen einzurichten, so gut es geht.
John Banville: "Unendlichkeiten". Roman.
Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 318 S., geb., 19,99 [Euro].
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