Wie gerecht ist Deutschland? "Leben wir in einer ungerechten Gesellschaft, weil Ungerechtigkeit und Verbrechen ungenügend bestraft werden?" "Wird die Kriminalität in Deutschland (weiter) steigen, weil in deutschen Gerichtssälen Nachsicht und lasche Vorurteile herrschen?" "Wird Recht in Deutschland eigentlich überall gleich gesprochen? "Geht es in vielen Urteilen mehr um das Wohl der Täter als das der Opfer? Und: "Werden viele Urteile aufgrund von Zeit- und Geldmangel einfach abgeurteilt?" Diese und ähnlich unangenehme Fragen stellt Strafverteidiger Ingo Lenßen in seinem Buch. Dabei bezieht er sich auf über 50 Fälle aus seiner eigenen Rechtspraxis, aber auch auf solche, deren Urteil große öffentliche Diskussionen ausgelöst hat. Er bringt genau die Transparenz in viele Entscheidungen, die die Öffentlichkeit, also das Volk, in dessen Namen doch gesprochen wird, oft nicht nachvollziehen kann – auch weil sich Gerichte eben gerne vor dieser Öffentlichkeit abschotten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2019Keine Spur von Populismus
Die Gerichte verlieren das Leid der Opfer aus dem Blick: Ingo Lenßen kritisiert aktuelle Tendenzen der Strafjustiz
Zwei Männer pöbeln in einem Bus Fahrgäste an. Der Busfahrer will die beiden Randalierer hinauswerfen. Es kommt zu einer Rangelei, bei der dem Busfahrer ein Messer in den Rücken gestochen wird. Der Busfahrer überlebt, ist aber so stark traumatisiert, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Das Landgericht Berlin verurteilt die beiden Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen von drei beziehungsweise dreieinhalb Jahren. Das Gesetz hätte Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren zugelassen. Wären die Angeklagten zudem wegen versuchten Totschlags verurteilt worden, hätte die mögliche Höchststrafe sogar fünfzehn Jahre betragen.
An das Urteil schließt sich eine heftige öffentliche Auseinandersetzung an. Die Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte hält die Strafe angesichts der Brutalität und Gefährlichkeit der Tat für zu niedrig. Die Berliner Strafverteidiger werfen ihr daraufhin populistische Stimmungsmache vor, und auch der Vorsitzende des Berliner Richterbundes warnt vor Urteilsschelten auf Stammtischniveau. Aber ist es wirklich bloßes Stammtischgerede, wenn Befremden darüber geäußert wird, dass ein Messerstich in den Rücken des Opfers nicht einmal eine Sanktion in der Mitte des Strafrahmens nach sich zieht?
Ingo Lenßen, selbst Strafverteidiger und Protagonist diverser Reality-Gerichtsshows, bestreitet dies. Urteile wie dasjenige des Berliner Landgerichts kranken nach seiner Auffassung daran, dass sie über der intensiven Beschäftigung mit dem Angeklagten das Tatopfer weitgehend aus dem Blick verlören. So berechtigt die Frage sei, "was eine Verurteilung mit dem Täter macht", so wichtig sei es, daneben immer auch darauf zu achten, "was die Tat beim Opfer ausgelöst und verursacht hat". Härte, dies betont Lenßen immer wieder, sei zwar kein Selbstzweck. Das Gleiche gelte aber auch für übergroße Milde, vor allem bei Sexual- und Gewaltdelikten, die das Leben der Opfer oft vollkommen aus der Bahn werfen. "Es müssen nicht härtere Gesetze her, aber wir brauchen Urteile, die konsequent, verständlich und entsprechend der Folgen der Tat für das Opfer sind."
Diese Forderung ist auf das Erwachsenenstrafrecht zugeschnitten. Das Jugendstrafrecht steht demgegenüber schon von Gesetzes wegen unter der Herrschaft des Erziehungsgedankens. Statt jugendliche Delinquenten für das von ihnen verschuldete Unrecht einstehen zu lassen, will es sie dazu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Lenßen liegt es fern, den humanitären Wert dieser Zielsetzung zu verkennen. Er weist aber eindringlich auf ihre häufig vernachlässigte Kehrseite, die weitgehende Marginalisierung der Opferbelange, hin. Die gesetzlich vorgegebene Fokussierung auf den Angeklagten und seine Bedürfnisse "führt oftmals dazu, dass sich die Opfer völlig unverstanden fühlen und im Zweifel ein zweites Mal durch ihre Vernehmung und die Hauptverhandlung zum Opfer gemacht werden".
Dezidiert kritisch sieht Lenßen hingegen die vielfach geübte Verkürzung von pädagogischer Einwirkung zu einer Nachsicht um fast um jeden Preis. "Ist es aus erzieherischer Sicht tatsächlich zu befürworten, dass einem jugendlichen Intensivtäter, der zweifach wegen Einbruchdiebstählen und Raubdelikten unter Bewährung steht, nochmals eine Bewährung gegeben wird?" Werde ein solcher Täter die wohlmeinenden Ermahnungen des Richters nicht einfach überhören und, statt das ihm erwiesene Verständnis als Ansporn zu einer Verhaltensänderung zu begreifen, den Staat für seine Schwäche verachten? Mehr noch, könne die Chance, noch einmal in Freiheit zu leben, dem Betreffenden nicht sogar eher schaden, wenn sein Umfeld ihn nicht schützt, sondern ihn vielmehr zur Begehung weiterer Straftaten ermutigt?
Lenßen ist sich freilich darüber im Klaren, dass hinter der Hemmung, Erwachsene oder gar Jugendliche ins Gefängnis zu schicken, höchst ehrenwerte Gründe stehen. Angesichts der Realität des heutigen Strafvollzugs ist die Gefahr groß, dass ein Haftaufenthalt nicht zu einer Läuterung, sondern im Gegenteil zu einer weiteren Desozialisierung der Gefangenen führt. Einen Königsweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Mehr Geld würde sicherlich helfen; der Autor lässt sich denn auch nicht lumpen und fordert eine Verdoppelung der Mittel für die Justiz. Die Chance, dass er mit diesem Verlangen bei den Finanzministern Gehör findet, ist freilich denkbar gering; mit einem Ausbau der Therapieplätze in Gefängnissen lassen sich keine Wahlen gewinnen.
Im Übrigen dürfte auch die Gewinnung geeigneten Personals nicht leicht sein. Strafgefangene sind keine einfache und auch keine sonderlich dankbare Klientel. Dort, wo es wirklich weh tut, im Strafvollzug, wird das Strafrecht aller Voraussicht nach auch künftig eine wenig erfreuliche Materie bleiben. Dieser Befund ändert jedoch nichts daran, dass Richter keine Rechtspolitiker sind, sondern zuallererst das ihnen gesetzlich vorgegebene Entscheidungsprogramm umzusetzen haben. Wie Lenßen in Erinnerung ruft, genügt es dazu nicht, die Strafbarkeitsvoraussetzungen minutiös durchzuprüfen - eine Kunst, die deutsche Strafrechtler zumeist hervorragend beherrschen.
Geboten ist vielmehr auch, den vom Gesetzgeber vorgesehenen Strafrahmen in seinem vollen Umfang ernst zu nehmen. Nicht zuletzt fordert eine konsequente Abarbeitung des Gesetzes, in Fällen, in denen das Vorstrafenregister eines jugendlichen Angeklagten erkennen lässt, dass bei ihm mit Milde wenig auszurichten ist, den Betreffenden tatsächlich spüren zu lassen, dass der Rechtsstaat auch über für ihn unangenehmere Mittel der Verhaltensbeeinflussung verfügt.
So verstanden, stellt die von Lenßen anhand zahlreicher Fallbeispiele vorgetragene Kritik an einigen Tendenzen der heutigen Strafjustiz das genaue Gegenteil eines billigen Populismus dar. Anders als der allzu plakative Buchtitel "Ungerechtigkeit im Namen des Volkes" befürchten lässt, geht es Lenßen nicht darum, die innerjuristischen Beurteilungsmaßstäbe zugunsten eines angeblichen "gesunden Volksempfindens" zu verbiegen, sondern darum, diesen Maßstäben überhaupt wieder in vollem Umfang Geltung zu verschaffen. Wie dringlich dieses Anliegen ist, hat er eindringlich dargelegt.
MICHAEL PAWLIK
Ingo Lenßen:
"Ungerechtigkeit im
Namen des Volkes". Deutschlands bekanntester Strafjurist klagt an.
Gräfe und Unzer Verlag, München 2019. 189 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gerichte verlieren das Leid der Opfer aus dem Blick: Ingo Lenßen kritisiert aktuelle Tendenzen der Strafjustiz
Zwei Männer pöbeln in einem Bus Fahrgäste an. Der Busfahrer will die beiden Randalierer hinauswerfen. Es kommt zu einer Rangelei, bei der dem Busfahrer ein Messer in den Rücken gestochen wird. Der Busfahrer überlebt, ist aber so stark traumatisiert, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Das Landgericht Berlin verurteilt die beiden Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen von drei beziehungsweise dreieinhalb Jahren. Das Gesetz hätte Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren zugelassen. Wären die Angeklagten zudem wegen versuchten Totschlags verurteilt worden, hätte die mögliche Höchststrafe sogar fünfzehn Jahre betragen.
An das Urteil schließt sich eine heftige öffentliche Auseinandersetzung an. Die Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte hält die Strafe angesichts der Brutalität und Gefährlichkeit der Tat für zu niedrig. Die Berliner Strafverteidiger werfen ihr daraufhin populistische Stimmungsmache vor, und auch der Vorsitzende des Berliner Richterbundes warnt vor Urteilsschelten auf Stammtischniveau. Aber ist es wirklich bloßes Stammtischgerede, wenn Befremden darüber geäußert wird, dass ein Messerstich in den Rücken des Opfers nicht einmal eine Sanktion in der Mitte des Strafrahmens nach sich zieht?
Ingo Lenßen, selbst Strafverteidiger und Protagonist diverser Reality-Gerichtsshows, bestreitet dies. Urteile wie dasjenige des Berliner Landgerichts kranken nach seiner Auffassung daran, dass sie über der intensiven Beschäftigung mit dem Angeklagten das Tatopfer weitgehend aus dem Blick verlören. So berechtigt die Frage sei, "was eine Verurteilung mit dem Täter macht", so wichtig sei es, daneben immer auch darauf zu achten, "was die Tat beim Opfer ausgelöst und verursacht hat". Härte, dies betont Lenßen immer wieder, sei zwar kein Selbstzweck. Das Gleiche gelte aber auch für übergroße Milde, vor allem bei Sexual- und Gewaltdelikten, die das Leben der Opfer oft vollkommen aus der Bahn werfen. "Es müssen nicht härtere Gesetze her, aber wir brauchen Urteile, die konsequent, verständlich und entsprechend der Folgen der Tat für das Opfer sind."
Diese Forderung ist auf das Erwachsenenstrafrecht zugeschnitten. Das Jugendstrafrecht steht demgegenüber schon von Gesetzes wegen unter der Herrschaft des Erziehungsgedankens. Statt jugendliche Delinquenten für das von ihnen verschuldete Unrecht einstehen zu lassen, will es sie dazu befähigen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Lenßen liegt es fern, den humanitären Wert dieser Zielsetzung zu verkennen. Er weist aber eindringlich auf ihre häufig vernachlässigte Kehrseite, die weitgehende Marginalisierung der Opferbelange, hin. Die gesetzlich vorgegebene Fokussierung auf den Angeklagten und seine Bedürfnisse "führt oftmals dazu, dass sich die Opfer völlig unverstanden fühlen und im Zweifel ein zweites Mal durch ihre Vernehmung und die Hauptverhandlung zum Opfer gemacht werden".
Dezidiert kritisch sieht Lenßen hingegen die vielfach geübte Verkürzung von pädagogischer Einwirkung zu einer Nachsicht um fast um jeden Preis. "Ist es aus erzieherischer Sicht tatsächlich zu befürworten, dass einem jugendlichen Intensivtäter, der zweifach wegen Einbruchdiebstählen und Raubdelikten unter Bewährung steht, nochmals eine Bewährung gegeben wird?" Werde ein solcher Täter die wohlmeinenden Ermahnungen des Richters nicht einfach überhören und, statt das ihm erwiesene Verständnis als Ansporn zu einer Verhaltensänderung zu begreifen, den Staat für seine Schwäche verachten? Mehr noch, könne die Chance, noch einmal in Freiheit zu leben, dem Betreffenden nicht sogar eher schaden, wenn sein Umfeld ihn nicht schützt, sondern ihn vielmehr zur Begehung weiterer Straftaten ermutigt?
Lenßen ist sich freilich darüber im Klaren, dass hinter der Hemmung, Erwachsene oder gar Jugendliche ins Gefängnis zu schicken, höchst ehrenwerte Gründe stehen. Angesichts der Realität des heutigen Strafvollzugs ist die Gefahr groß, dass ein Haftaufenthalt nicht zu einer Läuterung, sondern im Gegenteil zu einer weiteren Desozialisierung der Gefangenen führt. Einen Königsweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Mehr Geld würde sicherlich helfen; der Autor lässt sich denn auch nicht lumpen und fordert eine Verdoppelung der Mittel für die Justiz. Die Chance, dass er mit diesem Verlangen bei den Finanzministern Gehör findet, ist freilich denkbar gering; mit einem Ausbau der Therapieplätze in Gefängnissen lassen sich keine Wahlen gewinnen.
Im Übrigen dürfte auch die Gewinnung geeigneten Personals nicht leicht sein. Strafgefangene sind keine einfache und auch keine sonderlich dankbare Klientel. Dort, wo es wirklich weh tut, im Strafvollzug, wird das Strafrecht aller Voraussicht nach auch künftig eine wenig erfreuliche Materie bleiben. Dieser Befund ändert jedoch nichts daran, dass Richter keine Rechtspolitiker sind, sondern zuallererst das ihnen gesetzlich vorgegebene Entscheidungsprogramm umzusetzen haben. Wie Lenßen in Erinnerung ruft, genügt es dazu nicht, die Strafbarkeitsvoraussetzungen minutiös durchzuprüfen - eine Kunst, die deutsche Strafrechtler zumeist hervorragend beherrschen.
Geboten ist vielmehr auch, den vom Gesetzgeber vorgesehenen Strafrahmen in seinem vollen Umfang ernst zu nehmen. Nicht zuletzt fordert eine konsequente Abarbeitung des Gesetzes, in Fällen, in denen das Vorstrafenregister eines jugendlichen Angeklagten erkennen lässt, dass bei ihm mit Milde wenig auszurichten ist, den Betreffenden tatsächlich spüren zu lassen, dass der Rechtsstaat auch über für ihn unangenehmere Mittel der Verhaltensbeeinflussung verfügt.
So verstanden, stellt die von Lenßen anhand zahlreicher Fallbeispiele vorgetragene Kritik an einigen Tendenzen der heutigen Strafjustiz das genaue Gegenteil eines billigen Populismus dar. Anders als der allzu plakative Buchtitel "Ungerechtigkeit im Namen des Volkes" befürchten lässt, geht es Lenßen nicht darum, die innerjuristischen Beurteilungsmaßstäbe zugunsten eines angeblichen "gesunden Volksempfindens" zu verbiegen, sondern darum, diesen Maßstäben überhaupt wieder in vollem Umfang Geltung zu verschaffen. Wie dringlich dieses Anliegen ist, hat er eindringlich dargelegt.
MICHAEL PAWLIK
Ingo Lenßen:
"Ungerechtigkeit im
Namen des Volkes". Deutschlands bekanntester Strafjurist klagt an.
Gräfe und Unzer Verlag, München 2019. 189 S., geb., 19,99 [Euro].
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