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Evangelische Kirchentage sind unerotisch? Navid Kermani nähert sich dem Christentum über die bildende Kunst. Dabei übersieht er wichtige Dimensionen und offenbart pietistische Blockaden.
Unter den mir bekannten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart ist Navid Kermani der Einzige, bei dem ich das Wort "Abendland" ohne ein Gefühl innerer Abwehr lesen kann. Denn dieser in Deutschland geborene Sohn iranischer Einwanderer weiß, dass Luthers Wort "Morgenland" für die Region, aus der die Heiligen Drei Könige kamen, älter ist als das ihm nachgebildete Wort "Abendland". Dieses Wort hat für ihn deshalb einen nachvollziehbaren Ort im Rahmen der west-östlichen Erkundungen, denen er die meisten seiner Schriften widmet.
Der erste Schritt in der intellektuellen Biographie dieses außergewöhnlichen Homme de lettres bestand darin, dass er in der deutschen Literatur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts heimisch wurde. Die großen Werke zwischen Goethe und Kafka prägten seine geistige Welt. Erst von hier aus erschloss er sich den kulturellen und religiösen Reichtum seiner Herkunft - und zwar von dessen literarischer Seite aus, wie sein Standardwerk über die ästhetische Schönheit des Korans zeigt.
Seine west-östlichen Erkundungen bewegten sich nicht etwa vom Koran zu Kafka, sondern umgekehrt von Kafka zum Koran. Dieser Weg war für den Autor notwendig, um sich in einem nächsten Schritt dem Christentum zuzuwenden: Sein neues Buch als eine Abfolge von Meditationen "über das Christentum" anzukündigen ist allerdings übertrieben. Der Autor hätte sich ruhig dazu bekennen können, dass er "über mein Christentum" meditiert; häufig genug greift er in seinem Buch zu dieser Wendung. Untertrieben dagegen ist der Haupttitel. Denn es bleibt keineswegs beim "ungläubigen Staunen".
Kermani ist ein Wanderer zwischen den Glaubenswelten von Ost und West, der auf Schritt und Tritt eine wahre Leidenschaft für den Glauben zu erkennen gibt. Seine subjektive Sicht auf das Christentum ist deshalb auch dort sympathisch, wo man ihr widersprechen möchte. Denn er betrachtet das Christentum keineswegs nur von außen, sondern sucht es von innen zu verstehen.
Den Islam begreift er als Schriftreligion; dem Christentum dagegen nähert er sich über die bildende Kunst. Dafür wurden wichtige Weichen durch ein Stipendium der Villa Massimo in Rom gestellt. Die barocke Bildwelt, der er in dieser Zeit begegnete, veranlasste ihn zu einer Reihe von "Bildansichten", die zunächst in der "Neuen Zürcher Zeitung", dann in dem Romanwerk "Dein Name" veröffentlicht wurden und nun ein drittes Mal aufgegriffen werden. Dass er in einer "Bildansicht" zu einer Altartafel von Guido Reni die Darstellung des gekreuzigten Christus als blasphemisch bezeichnete, legte man ihm 2009 im Streit um den Hessischen Kulturpreis als Beleidigung des Christentums aus.
Dass Kermani Renis Gemälde mit dem erstaunten Ausruf kommentierte, zum ersten Mal könne er selbst an ein Kreuz glauben, überlasen manche Kritiker. Deshalb entging ihnen auch die theologische Begründung: Hier leide Christus nicht, um Gott zu entlasten, sondern um der Klage einer verlassenen Schöpfung Ausdruck zu geben.
Auch in seinem heute erscheinenden neuen Buch widmet Kermani dem Crucifixus von Guido Reni ein eigenes Kapitel. Doch die gerade referierten Überlegungen findet man dort nicht; sie sind vielmehr an eine ganz andere Stelle gerückt. Hier ordnet Kermani seine Kritik der christlichen Kreuzestheologie einer modernen Kreuzesdarstellung (ohne den Körper des Gekreuzigten) zu, die von dem Bildhauer Karl Schlamminger stammt. Dabei läuft die wörtlich aufgenommene Kritik, das Kreuz hypostasiere auf barbarische Weise den Schmerz, sei körperfeindlich und undankbar gegenüber der Schöpfung, ins Leere.
Überraschenderweise wiederholt Kermani angesichts dieses zeitgenössischen, im besten Sinn des Wortes abstrakten Kreuzes, was er an anderer Stelle mit dem Blick auf Renis gegenständliche Darstellung des Gekreuzigten aus dem siebzehnten Jahrhundert gesagt hatte: "Erstmals denke ich, ich könnte an ein Kreuz glauben." Ein aufmerksamer Kermani-Leser kann herausfinden, dass das doppelte "Erstmals" durch "copy & paste" zustande kam. Doch die Begründung wechselt. Das Kreuz, so heißt es nun, "steht nicht für die Inkarnation in nur einer Person, es steht für das Prinzip".
Inkarnation als Prinzip: So lässt sich Kermanis Christentum verstehen. Es ist verlockend, dieses Prinzip durch die Meditation von Bildwerken der christlichen Kunst zu erschließen. Der Autor macht an den ausgewählten Bildern viele spannende Entdeckungen, wenn auch seine Vorliebe für erotische oder sexuelle Anspielungen etwas eintönig wirkt. Doch es gibt wichtige Dimensionen des Christentums, die bei einer solchen Betrachtungsweise völlig in den Hintergrund treten: die Gebetskraft der Psalmen, die prophetische Kritik an der gottvergessenen Missachtung der Armen und Entrechteten, die Präsenz der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu - all das spielt in dem Buch keine Rolle, weil es in den ausgewählten Bildern nicht vorkommt.
Das heilige Rom und das heilige Köln bestimmen die Bildwelten, in denen der Autor sich bewegt; römisch-rheinischer Katholizismus bildet die Folie, an der sich sein Christentum bildet. Kermanis kindliche Sozialisation im pietistischen Siegerland hat offenbar Blockaden hinterlassen, die bis heute nicht gelöst sind. Die evangelische Frömmigkeit hat er als so sinnenfeindlich erlebt, dass er außer Luthers Bibelübersetzung nichts Reformatorisches wahrnimmt: nicht die Theologie des Kreuzes (die keineswegs auf eine "Entlastung Gottes" zielt), nicht die gewissensbestimmte Freiheit eines Christenmenschen, nicht die Mündigkeit aller Glaubenden, nicht die Inkulturation des Christentums in die Moderne. Von den evangelischen Kirchentagen meint er zu wissen, sie seien "formlos" und "unerotisch". Der Protestantismus zieht Kermanis bemerkenswerte Beobachtungsgabe bisher noch nicht an.
Der Löwenanteil der beschriebenen Bildwerke stammt von Caravaggio, der die Jahre um 1600 in Rom verbrachte. Diese Vorliebe liegt nahe; denn dessen Bilder sind durch einen geradezu penetranten Naturalismus ausgezeichnet, den Kermani am ungläubigen Thomas, der seine Finger in Jesu Seitenwunde legt, hingebungsvoll beschreiben kann. Jacob Burckhardts Einwand, Caravaggio wolle nur zeigen, "dass es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei", steigert Kermanis Begeisterung für den Maler. Denn dieser habe vom Heiligen weit mehr begriffen als der Baseler Professor.
Zum Glück erschöpft sich Kermanis Christentum nicht in einer naturalistisch verstandenen Inkarnation als Prinzip. Es geht darüber hinaus. Sein Kern liegt in dem Universalismus der mitmenschlichen Liebe. Kermani entdeckt die Sorge um jeden Mitmenschen, auch um den Feind, als den revolutionären Impuls des Christentums; leider verkennt er, dass gerade die exklusive Bindung der göttlichen Inkarnation an den einen Christus die Grundlage für diese radikal gedachte Inklusion bildet: Christi Antlitz begegnet uns auch im Feind. Zur Beschreibung dieser Inklusion greift Kermani nicht auf Bildwerke, sondern auf Personen zurück.
Das Buch schließt mit einem Kapitel über Franz von Assisi; in ihm hebt Kermani eine tiefe Freundschaft zwischen dem Heiligen von Assisi und dem Islam hervor. Der berühmte Sonnengesang "Laudato si" greift bewusst die neunundneunzig schönsten Namen Gottes im Islam auf; mit einer Segensbitte tritt Franziskus dem Sultan al-Malik al Kamil entgegen. Ihm, den die westliche Christenheit im fünften Kreuzzug überwinden will, wünscht Franziskus Frieden.
Allein steht er, so Kermanis Deutung, gegen die Christenheit seiner Zeit, die ihren Glauben mit Feuer und Schwert verteidigen wollte, weil die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, als Zeichen der Glaubenstreue galt. Das Erschrecken über eine solche Denkweise muss sich eben nicht nur an den Dschihadisten von heute, sondern auch an den christlichen Gotteskriegern von einst entzünden. Kermani nimmt den einen Skandal so ernst wie den anderen.
Dem heiligen Franziskus tritt ein Heiliger unserer Tage zur Seite, dem Kermani das längste Kapitel widmet. Paolo dall'Oglio hat in der syrischen Wüste das Kloster Mar Musa gegründet und der Freundschaft mit dem Islam geweiht. Für Kermani drückt sich darin aus, was am Christentum Bewunderung verdient: eine Liebe, die nicht nur dem Nächsten gilt. Sie geht "über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte". Pater Paolo hat ihr sein Leben geopfert. Über die Liebe, die keinen Unterschied macht, staunt Kermani. Soll man das wirklich "ungläubiges Staunen" nennen?
WOLFGANG HUBER
Navid Kermani: "Ungläubiges Staunen". Über das Christentum.
Verlag C. H.Beck, München 2015. 304 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nicola Barker, spectator, 28. Oktober 2017
"Der seltene Glücksfall eines Religionsdialogs, der die hergebrachten Zuordnungen auf das Schönste und Irritierendste durcheinanderbringt."
Johann Hinrich Claussen, Herder Korrespondenz, Juni 2016
"Erfrischend subversiv."
Walter Kayser, Portal für Kunstgeschichte, 10. Dezember 2015
"Ein Buch gerade auch für Atheisten, explizit Ungläubige."
Der Tagesspiegel, 5. Dezember 2015
"Der unvoreingenommene, kluge Blick auf das Fremde."
Literatur Spiegel, Dez 15/Jan 16
"Diese 40 Bildbeschreibungen eines Moslems zu Schlüsselwerken der christlichen Kunst sind das schönste Buch, das je auf einer deutschen Bestsellerliste stand."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 2. November 2015
"Er nähert sich dem christlichen Glauben nicht denkend, sondern schauend und fühlend."
Friedrich Wilhelm Graf, Die ZEIT, 15. Oktober 2015
"Navid Kermani erweist sich in seinem neuen Buch "Ungläubiges Staunen" als hervorragender Kenner der Bibel und der christlichen Kunst."
Wiener Zeitung, 13. Oktober 2015
"Eine Liebeserklärung an den Glauben."
Zeit, 8. Oktober 2015
"Ein unglaublich guter Anstoß, den Blick neu zu schärfen für das wunderbar Befremdende katholischer Bildwelten."
Jan-Heiner Türck, Neue Zürcher Zeitung, 8. Oktober 2015
"Ein Augenöffner. [...] bringt das Christentum einem Publikum näher, dem die vermeintlich eigene Religion längst fremd geworden ist."
René Aguigah, Cicero, Oktober 2015
"Literarisch und intellektuell ein großer Wurf (...) Bei übermäßigem Genuss besteht Suchtgefahr."
Joachim Frank, Kölner Stadt-Anzeiger, 4. September 2015
"Kermani ist ein moderner Mystiker."
Friedrich Wilhelm Graf, Deutschlandradio Kultur, 28. August 2015
"Es ist möglich, auch entspannt und gerade deshalb inspirierend über den Glauben zu schreiben (...) Dieses Buch überwindet Grenzen."
Johann Hinrich Claussen, Süddeutsche Zeitung, 25. August 2015
"Wer neugierig ist aufs fremdgewordene, eigene Christentum dürfte seufzen: Danke, Navid Kermani."
Christiane Florin, Deutschlandfunk, 24. August 2015
"Eine faszinierend schwärmerische Annäherung an den christlichen Glauben."
Alexander Cammann, Die Zeit, 20. August 2015