Das philosophische Enfant terrible Harry G. Frankfurt ist zurück, und zwar mit einem Paukenschlag. Nach seinem Welterfolg Bullshit widmet er sich in bewährt streitbarer Manier einer hochaktuellen Debatte: ökonomische Ungleichheit. Während man sich allenthalben einig ist, dass die ungleiche Verteilung von Gütern und Reichtum das große Problem unserer Zeit sei, postuliert Frankfurt die radikale Gegenthese: Ungleichheit ist moralisch irrelevant. Mit schwindelerregenden Gedankenexperimenten wirft Frankfurt ein vollkommen neues Licht auf Begriffe wie Genügsamkeit, Glück und Gerechtigkeit - und beantwortet nebenbei die heikle Frage, warum wir nicht alle gleich viel haben müssen. In zwei Essays stellt Harry G. Frankfurt eine Debatte auf den Prüfstand, die bisher niemand hinterfragt hat, und bringt vermeintlich unumstößliche Gewissheiten ins Wanken. So rigoros wie wegweisend, so überraschend wie überfällig.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zunächst begrüßt Jens-Christian Rabe noch, dass sich Harry G. Frankfurt nicht bloß als ideengeschichtlich bewanderter "Quasi-Journalist" in die Tagespolitik einmischt. Dann aber geht der Kritiker mit dem Autor hart ins Gericht: Dass Frankfurt bei der Untermauerung seiner These, "ökonomische Ungleichheit als solche sei moralisch nicht verwerflich", Stimmen von bekannten "moralinen Egalitaristen" ausspart, findet der Rezensent ärgerlich. Wenn der Philosoph dann weiter ausführt, dass nicht die Ungleichheit an sich, sondern nur deren Folgen problematisch seien, erkennt Rabe auf "philosophische Schattenboxerei"; Frankfurts einfacher "Genug-für-alle-Gedanke" erscheint dem Kritiker schließlich wie "neunmalkluger Gratis-Antimoralismus". Auch wenn der Rezensent dem Buch einige kluge kritische Gedanken, etwa an dem in der linken Wirtschaftswissenschaft geschätzten "Gesetz des abnehmenden Grenznutzens" entnimmt, muss er gestehen, dass der Philosoph seiner eigenen Definition von "Bullshit" ziemlich nahe kommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2016Die große Ungleichmacherei
Der Philosoph Harry G. Frankfurt möchte, dass jeder weiß, was ihm guttut, und hält die Gleichheit für ein gefährliches Ideal
Die Bettler sitzen den ganzen Tag dort, wo Leute ihr Geld für Dinge, die sie brauchen oder nur haben wollen, ausgeben möchten, ohne dass sie dabei von Mitmenschen gestört werden, die nichts anderes machen, als von ihnen das zu fordern, was einer nach Ansicht derer, die es haben, sich verdienen muss: Geld und ein gutes Leben. Jemand sei zufrieden, meint der Philosoph Harry G. Frankfurt, wenn er sich über seine Lebensumstände nicht ärgert, wenn er nicht versucht, sie zu verbessern. Kann einer sein Leben und damit sich selbst einfach ändern? Den Beruf wechseln? Bei gleichem Lohn weniger arbeiten? Noch einmal von vorne anfangen? Gleichheit als solche, worin immer sie sich durchsetzen soll, meint Harry G. Frankfurt, sei nicht erstrebenswert.
Das Herz für Fremde ist nicht besonders groß, es geben nicht immer dieselben jeden Tag einem Bettler Geld. Wie lange hält das gute Gefühl an, etwas geschenkt zu haben, wie oft überwiegt es die Skepsis vor der Not? Wenn es einem schlechter geht als anderen, sagt Frankfurt, bedeutet das nicht, dass es einem schlechtgeht. In Notlagen, wie sie wegen der Flüchtlinge entstanden sind, verschieben sich die Parameter der Güte und des Mitgefühls, das lehrt ein Blick auf die vielen ehrenamtlichen Helfer, die Deutschstunden geben, Patenschaften übernehmen, Kleidersammlungen organisieren und Essen austeilen. Aus moralischer Perspektive, bestätigt Harry G. Frankfurt den großen Einsatz beschränkter Mittel, sei nicht entscheidend, dass jeder dasselbe hat, sondern dass jeder genug hat. Wachsen aber nicht die individuellen Bedürfnisse mit den allgemeinen Möglichkeiten?
Das Geld ist, das merkt jeder, der es nicht im Überfluss besitzt, rasch weg und reicht nie für all das, was einem in die Augen fällt. Frankfurt findet, dass das Glück nicht davon abhängt, dass jeder gleich viel Geld hat. Jeder sollte lieber realistisch einzuschätzen lernen, "wie sehr sein Lebensweg seinen individuellen Fähigkeiten entspricht, seine besonderen Bedürfnisse befriedigt, seine besten Potentiale zur Entfaltung bringt und ihm das bietet, was ihm wichtig ist". Ein solcher Weg zu sich selbst kann sich hinziehen. Wie eine Krankenschwester in der Zwischenzeit mit den eigenen unerfüllten Wünschen und dem erhaltenen Lohn auf zufriedenstellende Weise klarkommen soll, sagt Harry G. Frankfurt nicht. Wer andererseits zu dieser erlösenden Selbsterkenntnis nicht fähig ist und seine Lage nicht ändern kann, der muss sich keine Sorgen machen, dass er mit sich gescheitert sei: "Wenn jemand seine Absichten und Wünsche seinen Lebensumständen angepasst hat, ist das kein Beweis dafür, dass etwas schiefgelaufen ist in seinem Leben." Aber vielleicht ist es ein Beweis dafür, dass er das Wünschen nie gelernt oder aufgegeben hat?
Manche erwarten von einem Armen, dem sie einen Euro in die Hand drücken, dass er das Geld nicht versäuft, als hätten sie in seine Zukunft investiert und dürften mit dem Recht eines Aktionärs davon ausgehen, dass er sich jetzt Gedanken darüber macht, wie er seine Potentiale zur Entfaltung bringt. Wir geben so viel Geld, wie nötig ist, um unser Gewissen zu beruhigen, indem wir uns sagen, dass a) wir nicht die Einzigen seien, die Geld geben können, b) jeder letztendlich selbst versuchen müsse, wieder auf die Beine zu kommen, c) nicht allen Notleidenden geholfen werden könne und d) Leben eben auch Schicksal sei. Wir akzeptieren die Ungleichheit, dass nicht alle ein gleich gutes Leben haben, als Grundlage unserer gelegentlichen und kostengünstigen Korrektur eines extremen Mangels an Geld und Glück.
Gibt es jemanden, für den Gleichheit an sich (alle haben gleich viele Schuhe, gleich viel Hunger, gleich viel Freude) wünschenswert ist? Harry G. Frankfurt redet über Gleichheit und Ungleichheit nicht in Hinblick auf etwas, das den beiden Wörtern als Staat, Wirtschaftsweise, Lebenshaltung vorausgeht, zum Beispiel dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die ungleiche Verteilung von Geld und Besitz als Ausdruck von unter den Menschen ungleich vorhandenen (Begabung, Fähigkeiten, Eignung) oder ungleich geförderten (Wissen, Bildung, Leistungswille) Ressourcen gilt.
Die potentiellen Gewinner eines Wettbewerbs um den Zugang zu Glück und Geld haben die Zuversicht, die potentiellen Verlierer die Hoffnung, dass sich der Einsatz aller erlaubten Mittel auszahlen wird, so dass keiner auf der Straße sitzen und betteln muss. Das Ideal der Gleichheit (alle bekommen gleich viel Geld), sagt Harry G. Frankfurt, mache die Gleichheitsfanatiker blind für die Aufgabe, für sich, die anderen und die Gesellschaft herauszufinden, "was wirklich von grundlegendem moralischem und sozialem Wert ist". Doch erschwert nicht die ökonomische Ungleichheit (nicht alle Güter sind für alle da) herauszufinden, welchen sozialen und moralischen Nutzen für alle Gleichheit haben könnte?
Wer eine soziale Ordnung (wahlweise System, Struktur, Verhältnisse) voraussetzt, welche die Ungleichheit der Chancen und Mittel zum Wohlbefinden schafft und fördert, aber die extremen Folgen dieser Ungerechtigkeit nicht akzeptieren möchte, der wird mit Harry G. Frankfurt Verbesserungen in diesem oder jenem Bereich fordern und sich dafür einsetzen, dass die "Superreichen" etwas abgeben und die Armen nicht mehr arm sind. Entscheidend sei, meint der Philosoph, dass die, die weniger haben, zu wenig haben, nicht, dass sie weniger haben als andere. Was uns verstöre, sei die Tatsache, dass sie so arm sind. Wenn wir aber alle arm wären, würde uns dann ein Armer verstören?
Harry G. Frankfurt sagt, es sei sinnvoller, über Suffizienz zu reden, darüber, ob einer genug hat, um ein Leben zu führen, mit dem er zufrieden ist, was eben nicht bedeuten muss, dass alle gleich viel vom selben haben oder haben wollen. Müsste dann aber nicht einer von den Dingen, die er nicht kennt, wenigstens gekostet haben, um zu wissen, ob er zufriedener wäre, wenn er diese Dinge besäße, die mitunter objektiv seinem Leben guttun, wie bessere Nahrungsmittel, bessere medizinische Versorgung und bessere Bildung?
Falsch sei die Annahme, sagt Harry G. Frankfurt, "dass jemand, der über ein geringes Einkommen verfügt, mehr wesentliche unbefriedigte Wünsche hat als jemand Bessergestelltes". Jeder weiß aber aus Erfahrung, dass mit den ökonomischen Mitteln auch die Wünsche wachsen, weshalb wir lieber unseren Besitz vermehren, statt etwas davon abzugeben. Braucht einer Häuser, Grundstücke, Aktien und viel Geld auf dem Konto, um glücklich zu werden? Die Erfahrung derer, die all das haben, spricht gegen die Annahme, dass diese Dingen Lasten seien, die mit sich herumzuschleppen ein Opfer bedeutet. Ökonomische Ungleichheit ist für Harry G. Frankfurt vor allem ein Ausdruck von unterschiedlichen individuellen Vorlieben und Präferenzen, die im Leben geltend gemacht werden. Eine Voraussetzung dafür sei, dass jeder materiell genug habe. Um das Geld kommt keiner herum, auch wenn er davon nicht so viel haben möchte wie andere. Wo seine Bescheidenheit anfängt, wird er am besten herausfinden können, wenn er nicht aus Not bescheiden sein muss. Doch wo hört die Not des unerfüllten Suchens und Verlangens auf? Und wo beginnt der Überfluss?
Die Idee von Gleichheit an sich, die Harry G. Frankfurt nicht gefällt, ist ein Ideal, weil sie der Wirklichkeit der Ungleichheit hinterherhinkt. Ideale können Menschen vor der Willkür und Macht situativer Lagebeurteilungen durch den realistischen Verstand schützen. Alle Menschen zum Beispiel hätten etwas davon, wenn sie bei Kräften wären. Dass nicht alle gleich viele Bücher haben müssen, wenn nicht alle gerne lesen, versteht sich von selbst; so wie nicht alle Bücher, die allen gleich viel sagen möchten, allen gleich viel sagen, womit sie die tägliche Erfahrung von Ungleichheit bestätigen, mit der wir uns ungleich schneller abfinden als mit den ungleichen Forderungen der Gleichheit.
EBERHARD RATHGEB.
Harry G. Frankfurt: "Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen". Übersetzt von Michael Adrian. Suhrkamp, 107 Seiten, 10 Euro
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Der Philosoph Harry G. Frankfurt möchte, dass jeder weiß, was ihm guttut, und hält die Gleichheit für ein gefährliches Ideal
Die Bettler sitzen den ganzen Tag dort, wo Leute ihr Geld für Dinge, die sie brauchen oder nur haben wollen, ausgeben möchten, ohne dass sie dabei von Mitmenschen gestört werden, die nichts anderes machen, als von ihnen das zu fordern, was einer nach Ansicht derer, die es haben, sich verdienen muss: Geld und ein gutes Leben. Jemand sei zufrieden, meint der Philosoph Harry G. Frankfurt, wenn er sich über seine Lebensumstände nicht ärgert, wenn er nicht versucht, sie zu verbessern. Kann einer sein Leben und damit sich selbst einfach ändern? Den Beruf wechseln? Bei gleichem Lohn weniger arbeiten? Noch einmal von vorne anfangen? Gleichheit als solche, worin immer sie sich durchsetzen soll, meint Harry G. Frankfurt, sei nicht erstrebenswert.
Das Herz für Fremde ist nicht besonders groß, es geben nicht immer dieselben jeden Tag einem Bettler Geld. Wie lange hält das gute Gefühl an, etwas geschenkt zu haben, wie oft überwiegt es die Skepsis vor der Not? Wenn es einem schlechter geht als anderen, sagt Frankfurt, bedeutet das nicht, dass es einem schlechtgeht. In Notlagen, wie sie wegen der Flüchtlinge entstanden sind, verschieben sich die Parameter der Güte und des Mitgefühls, das lehrt ein Blick auf die vielen ehrenamtlichen Helfer, die Deutschstunden geben, Patenschaften übernehmen, Kleidersammlungen organisieren und Essen austeilen. Aus moralischer Perspektive, bestätigt Harry G. Frankfurt den großen Einsatz beschränkter Mittel, sei nicht entscheidend, dass jeder dasselbe hat, sondern dass jeder genug hat. Wachsen aber nicht die individuellen Bedürfnisse mit den allgemeinen Möglichkeiten?
Das Geld ist, das merkt jeder, der es nicht im Überfluss besitzt, rasch weg und reicht nie für all das, was einem in die Augen fällt. Frankfurt findet, dass das Glück nicht davon abhängt, dass jeder gleich viel Geld hat. Jeder sollte lieber realistisch einzuschätzen lernen, "wie sehr sein Lebensweg seinen individuellen Fähigkeiten entspricht, seine besonderen Bedürfnisse befriedigt, seine besten Potentiale zur Entfaltung bringt und ihm das bietet, was ihm wichtig ist". Ein solcher Weg zu sich selbst kann sich hinziehen. Wie eine Krankenschwester in der Zwischenzeit mit den eigenen unerfüllten Wünschen und dem erhaltenen Lohn auf zufriedenstellende Weise klarkommen soll, sagt Harry G. Frankfurt nicht. Wer andererseits zu dieser erlösenden Selbsterkenntnis nicht fähig ist und seine Lage nicht ändern kann, der muss sich keine Sorgen machen, dass er mit sich gescheitert sei: "Wenn jemand seine Absichten und Wünsche seinen Lebensumständen angepasst hat, ist das kein Beweis dafür, dass etwas schiefgelaufen ist in seinem Leben." Aber vielleicht ist es ein Beweis dafür, dass er das Wünschen nie gelernt oder aufgegeben hat?
Manche erwarten von einem Armen, dem sie einen Euro in die Hand drücken, dass er das Geld nicht versäuft, als hätten sie in seine Zukunft investiert und dürften mit dem Recht eines Aktionärs davon ausgehen, dass er sich jetzt Gedanken darüber macht, wie er seine Potentiale zur Entfaltung bringt. Wir geben so viel Geld, wie nötig ist, um unser Gewissen zu beruhigen, indem wir uns sagen, dass a) wir nicht die Einzigen seien, die Geld geben können, b) jeder letztendlich selbst versuchen müsse, wieder auf die Beine zu kommen, c) nicht allen Notleidenden geholfen werden könne und d) Leben eben auch Schicksal sei. Wir akzeptieren die Ungleichheit, dass nicht alle ein gleich gutes Leben haben, als Grundlage unserer gelegentlichen und kostengünstigen Korrektur eines extremen Mangels an Geld und Glück.
Gibt es jemanden, für den Gleichheit an sich (alle haben gleich viele Schuhe, gleich viel Hunger, gleich viel Freude) wünschenswert ist? Harry G. Frankfurt redet über Gleichheit und Ungleichheit nicht in Hinblick auf etwas, das den beiden Wörtern als Staat, Wirtschaftsweise, Lebenshaltung vorausgeht, zum Beispiel dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die ungleiche Verteilung von Geld und Besitz als Ausdruck von unter den Menschen ungleich vorhandenen (Begabung, Fähigkeiten, Eignung) oder ungleich geförderten (Wissen, Bildung, Leistungswille) Ressourcen gilt.
Die potentiellen Gewinner eines Wettbewerbs um den Zugang zu Glück und Geld haben die Zuversicht, die potentiellen Verlierer die Hoffnung, dass sich der Einsatz aller erlaubten Mittel auszahlen wird, so dass keiner auf der Straße sitzen und betteln muss. Das Ideal der Gleichheit (alle bekommen gleich viel Geld), sagt Harry G. Frankfurt, mache die Gleichheitsfanatiker blind für die Aufgabe, für sich, die anderen und die Gesellschaft herauszufinden, "was wirklich von grundlegendem moralischem und sozialem Wert ist". Doch erschwert nicht die ökonomische Ungleichheit (nicht alle Güter sind für alle da) herauszufinden, welchen sozialen und moralischen Nutzen für alle Gleichheit haben könnte?
Wer eine soziale Ordnung (wahlweise System, Struktur, Verhältnisse) voraussetzt, welche die Ungleichheit der Chancen und Mittel zum Wohlbefinden schafft und fördert, aber die extremen Folgen dieser Ungerechtigkeit nicht akzeptieren möchte, der wird mit Harry G. Frankfurt Verbesserungen in diesem oder jenem Bereich fordern und sich dafür einsetzen, dass die "Superreichen" etwas abgeben und die Armen nicht mehr arm sind. Entscheidend sei, meint der Philosoph, dass die, die weniger haben, zu wenig haben, nicht, dass sie weniger haben als andere. Was uns verstöre, sei die Tatsache, dass sie so arm sind. Wenn wir aber alle arm wären, würde uns dann ein Armer verstören?
Harry G. Frankfurt sagt, es sei sinnvoller, über Suffizienz zu reden, darüber, ob einer genug hat, um ein Leben zu führen, mit dem er zufrieden ist, was eben nicht bedeuten muss, dass alle gleich viel vom selben haben oder haben wollen. Müsste dann aber nicht einer von den Dingen, die er nicht kennt, wenigstens gekostet haben, um zu wissen, ob er zufriedener wäre, wenn er diese Dinge besäße, die mitunter objektiv seinem Leben guttun, wie bessere Nahrungsmittel, bessere medizinische Versorgung und bessere Bildung?
Falsch sei die Annahme, sagt Harry G. Frankfurt, "dass jemand, der über ein geringes Einkommen verfügt, mehr wesentliche unbefriedigte Wünsche hat als jemand Bessergestelltes". Jeder weiß aber aus Erfahrung, dass mit den ökonomischen Mitteln auch die Wünsche wachsen, weshalb wir lieber unseren Besitz vermehren, statt etwas davon abzugeben. Braucht einer Häuser, Grundstücke, Aktien und viel Geld auf dem Konto, um glücklich zu werden? Die Erfahrung derer, die all das haben, spricht gegen die Annahme, dass diese Dingen Lasten seien, die mit sich herumzuschleppen ein Opfer bedeutet. Ökonomische Ungleichheit ist für Harry G. Frankfurt vor allem ein Ausdruck von unterschiedlichen individuellen Vorlieben und Präferenzen, die im Leben geltend gemacht werden. Eine Voraussetzung dafür sei, dass jeder materiell genug habe. Um das Geld kommt keiner herum, auch wenn er davon nicht so viel haben möchte wie andere. Wo seine Bescheidenheit anfängt, wird er am besten herausfinden können, wenn er nicht aus Not bescheiden sein muss. Doch wo hört die Not des unerfüllten Suchens und Verlangens auf? Und wo beginnt der Überfluss?
Die Idee von Gleichheit an sich, die Harry G. Frankfurt nicht gefällt, ist ein Ideal, weil sie der Wirklichkeit der Ungleichheit hinterherhinkt. Ideale können Menschen vor der Willkür und Macht situativer Lagebeurteilungen durch den realistischen Verstand schützen. Alle Menschen zum Beispiel hätten etwas davon, wenn sie bei Kräften wären. Dass nicht alle gleich viele Bücher haben müssen, wenn nicht alle gerne lesen, versteht sich von selbst; so wie nicht alle Bücher, die allen gleich viel sagen möchten, allen gleich viel sagen, womit sie die tägliche Erfahrung von Ungleichheit bestätigen, mit der wir uns ungleich schneller abfinden als mit den ungleichen Forderungen der Gleichheit.
EBERHARD RATHGEB.
Harry G. Frankfurt: "Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen". Übersetzt von Michael Adrian. Suhrkamp, 107 Seiten, 10 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In seinem neuen Werk mischt sich der Ethiker lustvoll in die durch Thomas Piketty angeregte Debatte um ökonomische Ungleichheit ein. Seine Entgegnung ist brillant und provokativ, seine These schnörkellos.« Urs Rauber NZZ am Sonntag 20160327