Auszug: 'Meran, den 6. Oktober 186? Seit acht Tagen, die ich nun hier bin, keine Zeile geschrieben! Ich war zu erschöpft und aufgeregt von der langen Reise. Wenn ich mich niedersetzte und auf die weißen Blätter starrte, war mir's, als blickte ich in eine Camera obscura. Alle Bilder, die mir unterwegs entgegen geflogen waren, tauchten ganz deutlich und farbig wieder auf und jagten sich wie im Fiebertraume, bis mir die Augen übergingen. Unterwegs fühlte ich auch mehr als ein Mal, dass mir die Tränen nahe waren; aber ich war nicht allein, und von den fremden Herren, die mitfuhren, bemitleidet und ausgefragt zu werden, hatte ich wahrlich keine Lust. Hier ist's anders; ich bin einsam und frei; ich habe es schon erfahren, dass nur die Einsamen frei sein können. Warum schäme ich mich denn auch jetzt noch, zu weinen? Ist es denn nicht traurig genug, dass ich erst einen Blick in alle Schönheiten dieser Welt tun durfte, seit ich weiß, dass es ein Abschiedsblick ist? - Es wäre wohl besser, ich verschlösse dieses Heft und ließe die Blätter leer. Womit kann ich sie füllen, als mit unfruchtbaren Klagen? Ich hatte es mir schön und tröstlich gedacht, alles niederzuschreiben, was mir in diesem letzten Winter, den ich noch zu leben habe, durch den Sinn gehen würde. Ich wollte meinem geliebten Bruder, meinem kleinen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Leben und den Tod zu verstehen, an diesem Hefte ein Vermächtnis hinterlassen, das ihm teuer wäre, wenn er später einmal nach seiner Schwester fragte und Niemand da wäre, der ihm antworten könnte. Aber ich sehe wohl, es war ein törichter Gedanke. Möchte man denn in der Erinnerung eines teuren Menschen fortleben unter dem Bilde der letzten Krankheit? Er soll mich lieber vergessen, als sich diese blassen Züge einprägen, die mich selber erschrecken, so oft ich in den Spiegel sehe.
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