Autor und Musikproduzent Johann Scheerer knüpft in „Unheimlich nah“, seinem im Januar 2020 erschienenen autofiktionalen Roman, an sein Debüt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ an. Darin schildert er die bangen Wochen der Unsicherheit, nachdem sein Vater Jan Philipp Reemtsma entführt worden war.
Nun, fast drei Jahre später, erzählt er, was danach geschah. Vom Leben nach dem Verbrechen. Die 90er…mehrAutor und Musikproduzent Johann Scheerer knüpft in „Unheimlich nah“, seinem im Januar 2020 erschienenen autofiktionalen Roman, an sein Debüt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ an. Darin schildert er die bangen Wochen der Unsicherheit, nachdem sein Vater Jan Philipp Reemtsma entführt worden war. Nun, fast drei Jahre später, erzählt er, was danach geschah. Vom Leben nach dem Verbrechen. Die 90er Jahre neigen sich dem Ende und die 2000er Jahre stehen in den Startlöchern. Europa begrüßt den Euro und während sich Johanns Freunde von ihren Eltern und generell allen Erwachsenen emanzipieren, sieht sich Johann mit einer völlig anderen Realität konfrontiert. Statt seine Jugend unbeschwert und vor allem unbeobachtet genießen zu können, verfolgen ihn Personenschützer auf Schritt und Tritt. Was denken die Freunde über ihn? Reden sie über ihn? Und wie soll er so auf Partys gehen, sich verlieben? Wie kann er auch mal Mist bauen oder in eine Prügelei verwickelt werden, ohne dass ihm ständig jemand über die Schulter blickt?
Dieser Coming-of-Age Roman wird getrieben von Johanns innersten Gefühlen und Gedanken. Er ist „emotional wahrhaftig“, sagte Scheerer bei seiner Lesung im Literaturhaus Hamburg am 20. Januar 2020. So ist „Unheimlich nah“ teils tragisch und traurig, teils blickt die Figur von Johann selbstironisch auf peinliche Momente und diverse absurde Erlebnisse zurück. Vor allem aber hat mich die unbedingte Ehrlichkeit überzeugt und an dieses Buch gefesselt. Die Ehrlichkeit, mit der Johann seine Situation regelrecht seziert, seine Gefühle und die seines Gegenübers auseinandernimmt, sich hinterfragt – im Grunde sein gesamtes Leben in Frage stellt. Andere bestimmen über sein Leben, andere organisieren seinen Alltag. Geht so Selbstständigkeit? Schwierig.
Was macht das mit einem jungen Menschen? Durch die Sicherheitsvorkehrungen ändert sich der Blick auf die Umwelt und dadurch entwickeln sich Ängste. Johann bewegt sich also auf einem schmalen Grat zwischen Angst und Besorgnis und dem damit einhergehenden Schutzbedürfnis sowie dem drängenden Wunsch, dieser permanenten Beobachtung zu entfliehen. Ein fortwährender Zwiespalt. Jugendliche Rebellion sieht anders aus. Zwischendurch erlebt Johann zwar immer wieder Augenblicke, die Freiheit versprechen: Eine Klassenfahrt, Musikaufnahmen für seine Band Score! in Amerika, die erste Freundin – doch letztendlich kreist er immer wieder um diesen einen Gedanken:
"Wo sonst, wenn nicht in einem Polizeiwagen, umringt von anderen Polizeiwagen, konnte die Gefahr abwesender sein? Alles passierte schließlich einzig und allein zu unserem Schutz. Doch plötzlich schoss mir ein Gedanke in den Kopf, der mich nie wieder loslassen würde: Wie übermächtig musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?"
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Romans ist das etwas spannungsgeladene Verhältnis zu seinem Vater. So wie sein Sohn hat auch er mit den Nachwirkungen der Entführung zu kämpfen. Sein Zuhause wird verändert, Schutzzäune errichtet, Überwachungskameras installiert, er wird vom Fahrer seines eigenen Automobils zum Mitfahrer auf dem Rücksitz, auch er wird nachhaltig „beraubt“: „Mein Vater selbst aber war fort. Vor ein paar Jahren war er zurückgekommen, hatte aber einen Teil von sich nicht wieder mitgebracht“, schreibt Johann über ihn. Auch diese Beziehungslosigkeit nagt an ihm.
Doch nicht nur inhaltlich hat mich „Unheimlich nah“ überzeugt, auch sprachlich ist dies ein hervorragendes Werk. Direkt, reflektiert und mitunter selbstkritisch bringt der Autor seine Geschichte zu Papier. Manchmal erlaubt er es, dass seine jugendliche Stimme durchbricht, impulsiv und voller Emotionen, nur um sie schnell wieder einzufangen und mit Sachlichkeit zu bändigen. Doch das genügt, um als Leser:in in das Herz von Johann zu blicken und zu verstehen, wie sich ein Leben oft erst dann verändert, wenn das auslösende Ereignis schon längt Vergangenheit ist.