In ihrem autobiographischen Roman erzählt Wioletta Greg in unvergesslichen poetischen Bildern eine mal groteske, mal herzzerreißende Coming-of-Age-Geschichte im Polen der 1970er- und 1980er-Jahre. Seit 1981 herrscht das Kriegsrecht unter General Jaruzelski, aber die großen politischen Ereignisse wirken sich nur gebrochen auf das Leben im schlesischen Dorf Hektary aus. Dort, in einer ganz wunderbar vermittelten Atmosphäre aus Alltag in der Großfamilie, Mit ländlichen, fast heidnischen Bräuchen, einem sehr schlichten Katholizismus und kruden Sozialismus, schlägt sich die vitale, schlagfertige und neugierige Wiolka mit ihrer Mutter herum, entdeckt ihre Sexualität, nicht immer ganz freiwillig, und bemüht sich um den geliebten Vater, der viel zu früh stirbt. Als es heißt, der Papst wolle bei seinem historischen Polenbesuch auch an Hektary vorbeifahren, herrscht im Dorf Aufregung wie nie zuvor. Der Papst nimmt am Ende einen anderen Weg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2018Des Bügeleisens schwere Seele
Überformte Kindheit im kommunistischen Polen: Wioletta Greg erzählt
Das Mädchen ist eine Träumerin. Wenn sie der Leichtsinn überkommt oder etwas Verstörendes geschieht, denkt sich Wiolka den Schmerz einfach weg: eine umfallende Hühnerleiter, die sie nachts im Schweinestall am Rücken trifft, ein Abend im Schneesturm auf dem Feld, der sie fast das Leben kostet, ein allzu aufdringlicher Doktor. "Plötzlich wurde ich leicht wie ein Fetzen Plastik. Ich stieg nach oben und setzte mich auf die Scheibe des gekippten Fensterchens. Ich flog hinaus und kreiste eine Weile über dem Obstgarten." Es sind Sätze wie diese in Wioletta Gregs Erzählung "Unreife Früchte", die über die bloßen Kindheitserinnerungen der polnischen Autorin hinausdeuten, obwohl auf diesen 140 Seiten tatsächlich wenig mehr passiert, als dass ein Kind in einem schlesischen Dorf heranwächst.
Wiolka wird beiläufig in eine von Mangel und Repression bestimmte Zeit hineingeboren, während ihre Mutter noch im Arbeitsdienst Pflastersteine herstellt. Anfang der achtziger Jahre verhängte der General und damalige Ministerpräsident Jaruzelski das Kriegsrecht in Polen, und auch in der winzigen Ortschaft Hektary wird die sozialistische Staatsgewalt spürbar. Der Vater, der wegen Fahnenflucht im Gefängnis sitzt, lernt seine Tochter erst deutlich später kennen.
Wiolkas Erinnerungen beginnen mit den Ausnahmemomenten im ländlichen Alltag: eine Kirmes, ein trauriges Lama, Herren mit Strohhut und Spielzeugpistolen. Von der Katze der Familie lernt sie, in Heumieten zu kriechen, auf Kirschbäume zu klettern, Hornissennester zu meiden. Dann verschwindet die Katze, und von diesem Moment an ist das Leben des Kindes von intensiven Momenten bestimmt, auf die Ernüchterungen folgen. Bei einem Malwettbewerb gewinnt Wiolka einen Preis, beim nächsten aber setzt sich ein Klassenkamerad auf ihr Motiv des Roten Platzes. Sie schickt es dennoch ein, verschmiert und knittrig, und wird zur Direktorin beordert. Das Verhör eines listig fragenden Staatsdieners, Furcht und Autoritätenhörigkeit der Erwachsenen - durch Wiolkas Augen wirkt die Reaktion auf diesen Affront gegen die kommunistische Führung grotesk und bringt den subtilen, ins Tragische kippenden Humor der Autorin zum Vorschein.
Meistens ist es aber eine magische Welt, die das Mädchen entdeckt, in der ausgestopfte Habichte die Stube bevölkern, Spinnen göttliche Kräfte haben und Eierlikör auf die Gesundheit des Heiligen Vaters getrunken wird, in der Bügeleisen zum Aufbewahrungsort für alle Seelen der Familie dienen, weil die Platte, die erhitzt und ins Innere des Eisens gelegt wird, als Seele bezeichnet wird. Es ist aber auch eine Welt der nähenden Frauen, der katholischen Strenge und des Aberglaubens, in der immer dann geschwiegen wird, wenn dringend gesprochen werden müsste. Nachdem der Hausarzt das Mädchen sexuell bedrängt hat, schluckt Wiolka lieber Quecksilber aus dem Fieberthermometer, als ihrer Mutter davon zu berichten.
Die mittlerweile in England lebende Lyrikerin und Schriftstellerin Greg hat für ihre vierte Prosaveröffentlichung eine Erzählstimme gewählt, die schlicht und auf einnehmende Art naiv und abgeklärt zugleich klingt. Sie gibt gerade so viel preis, dass die Beobachtungen aus dem ländlichen Alltag niemals langweilen. Deshalb muss so vieles offen bleiben, deshalb fließt die Handlung wie ein Strom von Momentaufnahmen dahin, die nie ganz aufgeklärt werden, vom Beinahe-Besuch des Papstes in Hektary bis zum Tod des geliebten Vaters.
"Unreife Früchte" ist eher eine Sammlung lose verbundener Erzählungen als ein Roman, so unaufgeregt wie die Namen der Kapitel, die "Der Wimpelabend" und "Sauerkirschen" heißen. Das hätte sehr banal geraten können. Stattdessen entwirft Greg so phantasievoll einen Kosmos der Kindheit, dass beim Lesen eine unbestimmte Sehnsucht zurückbleibt. Als Wiolka an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, holt sie eines Abends ihre gesammelten Streichholzschachteletiketten aus dem Schrank und verbrennt sie, eines nach dem anderen, im Ofen: dreißig Jahre Volksrepublik Polen, nationale Volkszählung, die Jahrestage der freiwilligen Feuerwehr. Auch ohne Streichhölzer, Bügeleisen und Eierlikör ist uns dieser Abschied bekannt. Genauso wie die Sehnsucht nach der Zeit davor.
ELENA WITZECK
Wioletta Greg: "Unreife Früchte". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2018. 143 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überformte Kindheit im kommunistischen Polen: Wioletta Greg erzählt
Das Mädchen ist eine Träumerin. Wenn sie der Leichtsinn überkommt oder etwas Verstörendes geschieht, denkt sich Wiolka den Schmerz einfach weg: eine umfallende Hühnerleiter, die sie nachts im Schweinestall am Rücken trifft, ein Abend im Schneesturm auf dem Feld, der sie fast das Leben kostet, ein allzu aufdringlicher Doktor. "Plötzlich wurde ich leicht wie ein Fetzen Plastik. Ich stieg nach oben und setzte mich auf die Scheibe des gekippten Fensterchens. Ich flog hinaus und kreiste eine Weile über dem Obstgarten." Es sind Sätze wie diese in Wioletta Gregs Erzählung "Unreife Früchte", die über die bloßen Kindheitserinnerungen der polnischen Autorin hinausdeuten, obwohl auf diesen 140 Seiten tatsächlich wenig mehr passiert, als dass ein Kind in einem schlesischen Dorf heranwächst.
Wiolka wird beiläufig in eine von Mangel und Repression bestimmte Zeit hineingeboren, während ihre Mutter noch im Arbeitsdienst Pflastersteine herstellt. Anfang der achtziger Jahre verhängte der General und damalige Ministerpräsident Jaruzelski das Kriegsrecht in Polen, und auch in der winzigen Ortschaft Hektary wird die sozialistische Staatsgewalt spürbar. Der Vater, der wegen Fahnenflucht im Gefängnis sitzt, lernt seine Tochter erst deutlich später kennen.
Wiolkas Erinnerungen beginnen mit den Ausnahmemomenten im ländlichen Alltag: eine Kirmes, ein trauriges Lama, Herren mit Strohhut und Spielzeugpistolen. Von der Katze der Familie lernt sie, in Heumieten zu kriechen, auf Kirschbäume zu klettern, Hornissennester zu meiden. Dann verschwindet die Katze, und von diesem Moment an ist das Leben des Kindes von intensiven Momenten bestimmt, auf die Ernüchterungen folgen. Bei einem Malwettbewerb gewinnt Wiolka einen Preis, beim nächsten aber setzt sich ein Klassenkamerad auf ihr Motiv des Roten Platzes. Sie schickt es dennoch ein, verschmiert und knittrig, und wird zur Direktorin beordert. Das Verhör eines listig fragenden Staatsdieners, Furcht und Autoritätenhörigkeit der Erwachsenen - durch Wiolkas Augen wirkt die Reaktion auf diesen Affront gegen die kommunistische Führung grotesk und bringt den subtilen, ins Tragische kippenden Humor der Autorin zum Vorschein.
Meistens ist es aber eine magische Welt, die das Mädchen entdeckt, in der ausgestopfte Habichte die Stube bevölkern, Spinnen göttliche Kräfte haben und Eierlikör auf die Gesundheit des Heiligen Vaters getrunken wird, in der Bügeleisen zum Aufbewahrungsort für alle Seelen der Familie dienen, weil die Platte, die erhitzt und ins Innere des Eisens gelegt wird, als Seele bezeichnet wird. Es ist aber auch eine Welt der nähenden Frauen, der katholischen Strenge und des Aberglaubens, in der immer dann geschwiegen wird, wenn dringend gesprochen werden müsste. Nachdem der Hausarzt das Mädchen sexuell bedrängt hat, schluckt Wiolka lieber Quecksilber aus dem Fieberthermometer, als ihrer Mutter davon zu berichten.
Die mittlerweile in England lebende Lyrikerin und Schriftstellerin Greg hat für ihre vierte Prosaveröffentlichung eine Erzählstimme gewählt, die schlicht und auf einnehmende Art naiv und abgeklärt zugleich klingt. Sie gibt gerade so viel preis, dass die Beobachtungen aus dem ländlichen Alltag niemals langweilen. Deshalb muss so vieles offen bleiben, deshalb fließt die Handlung wie ein Strom von Momentaufnahmen dahin, die nie ganz aufgeklärt werden, vom Beinahe-Besuch des Papstes in Hektary bis zum Tod des geliebten Vaters.
"Unreife Früchte" ist eher eine Sammlung lose verbundener Erzählungen als ein Roman, so unaufgeregt wie die Namen der Kapitel, die "Der Wimpelabend" und "Sauerkirschen" heißen. Das hätte sehr banal geraten können. Stattdessen entwirft Greg so phantasievoll einen Kosmos der Kindheit, dass beim Lesen eine unbestimmte Sehnsucht zurückbleibt. Als Wiolka an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, holt sie eines Abends ihre gesammelten Streichholzschachteletiketten aus dem Schrank und verbrennt sie, eines nach dem anderen, im Ofen: dreißig Jahre Volksrepublik Polen, nationale Volkszählung, die Jahrestage der freiwilligen Feuerwehr. Auch ohne Streichhölzer, Bügeleisen und Eierlikör ist uns dieser Abschied bekannt. Genauso wie die Sehnsucht nach der Zeit davor.
ELENA WITZECK
Wioletta Greg: "Unreife Früchte". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Verlag C. H. Beck, München 2018. 143 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Leises Leseglück, das sich angesichts der wunderbaren Sprache der polnischen Autorin mühelos einstellt."
Brigitte Woman
"Ein bezaubernder kleiner Roman (...) eine intensive Momentaufnahme eines zur Frau heranwachsenden Mädchens."
Sigfried Schibli, Basler Zeitung, 26. Juli 2018
"Gut, dass Literatur scheinbar unscheinbare, sehr große kleine Welten aufzuheben in der Lage ist."
Stephan Opitz, Schleswig-Holstein am Wochenende, Mai 2018
"Faszinierend und ganz wunderbar!"
Prof. Erhard Schütz, Das Magazin, 6/2018
"Als Erwachsener aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen ist schwer. Der polnischen Schriftstellerin Wioletta Greg glückt es in dem autobiografischen Roman 'Unreife Früchte'."
Stephan Speicher, ZEIT, 7. Juni 2018
"Wunderbar kurzweilig, teils autobiographisch geprägte kleine Szenen, die sich zu einem facettenreichen Roman über eine untergegangene Welt verweben."
Flow, 17. April 2018
"Greg entwirft so phantasievoll einen Kosmos der Kindheit, dass beim Lesen eine unbestimmte Sehnsucht zurückbleibt."
Elena Witzeck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2018
"Ein zauberhafter kleiner Roman."
Manuela Sulner, Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 2. März 2018
"Es ist erstaunlich, wie es der Autorin gelingt, Wiolkas Geschichte aus deren Sichtweise zu erzählen und dennoch in dem kurzen Roman viele Facetten der Gesellschaft darzustellen."
Barbara Zeizinger, fixpoetry, 24. Februar 2018
"Magisch, sinnlich, poetisch: Mit kunstvoll-knappen Bildern des polnischen Landlebens beschwört Wioletta Greg eine für immer vergangene Welt herauf."
Mareike Ilsemann, WDR 5 Bücher, 8. Februar 2018
"Ein sinnlich-melancholischer Roman."
Ulrich Rüdenauer, SWR2 Buch der Woche, 12. Februar 2018
"Poetisch und mosaikartig (...) eine seltsam schöne Coming-of-Age-Geschichte."
Jurek Skrobala, LiteraturSPIEGEL, Februar 2018
"Ein funkelndes kleines Juwel von einem Buch - in Wioletta Gregs Schreiben liegen eine Frische und Wahrhaftigkeit, die mich an Elena Ferrante und Tove Jansson erinnern."
Carys Davies
"Gregs meisterhafter Roman ist bezaubernd, abwechselnd verführerisch und finster."
Kirkus Review
Brigitte Woman
"Ein bezaubernder kleiner Roman (...) eine intensive Momentaufnahme eines zur Frau heranwachsenden Mädchens."
Sigfried Schibli, Basler Zeitung, 26. Juli 2018
"Gut, dass Literatur scheinbar unscheinbare, sehr große kleine Welten aufzuheben in der Lage ist."
Stephan Opitz, Schleswig-Holstein am Wochenende, Mai 2018
"Faszinierend und ganz wunderbar!"
Prof. Erhard Schütz, Das Magazin, 6/2018
"Als Erwachsener aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen ist schwer. Der polnischen Schriftstellerin Wioletta Greg glückt es in dem autobiografischen Roman 'Unreife Früchte'."
Stephan Speicher, ZEIT, 7. Juni 2018
"Wunderbar kurzweilig, teils autobiographisch geprägte kleine Szenen, die sich zu einem facettenreichen Roman über eine untergegangene Welt verweben."
Flow, 17. April 2018
"Greg entwirft so phantasievoll einen Kosmos der Kindheit, dass beim Lesen eine unbestimmte Sehnsucht zurückbleibt."
Elena Witzeck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2018
"Ein zauberhafter kleiner Roman."
Manuela Sulner, Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 2. März 2018
"Es ist erstaunlich, wie es der Autorin gelingt, Wiolkas Geschichte aus deren Sichtweise zu erzählen und dennoch in dem kurzen Roman viele Facetten der Gesellschaft darzustellen."
Barbara Zeizinger, fixpoetry, 24. Februar 2018
"Magisch, sinnlich, poetisch: Mit kunstvoll-knappen Bildern des polnischen Landlebens beschwört Wioletta Greg eine für immer vergangene Welt herauf."
Mareike Ilsemann, WDR 5 Bücher, 8. Februar 2018
"Ein sinnlich-melancholischer Roman."
Ulrich Rüdenauer, SWR2 Buch der Woche, 12. Februar 2018
"Poetisch und mosaikartig (...) eine seltsam schöne Coming-of-Age-Geschichte."
Jurek Skrobala, LiteraturSPIEGEL, Februar 2018
"Ein funkelndes kleines Juwel von einem Buch - in Wioletta Gregs Schreiben liegen eine Frische und Wahrhaftigkeit, die mich an Elena Ferrante und Tove Jansson erinnern."
Carys Davies
"Gregs meisterhafter Roman ist bezaubernd, abwechselnd verführerisch und finster."
Kirkus Review