Unser Leben in den Wäldern führt uns in eine gar nicht so ferne Zukunft, wo wir es vermutlich ganz normal finden werden, dank implantierter Technik ständig "online" zu sein, smart vernetzt mit Wohnung, Verkehrsmitteln, Arbeit und den staatlichen Autoritäten. Was aber geschieht mit uns, wenn wir in einer Gesell- schaft leben, in welcher der technische Fortschritt und Turbo-Kapitalismus auf die Spitze getrieben sind? In der Klone uns als lebende Ersatzteillager für Organe dienen? In der Roboter den Großteil der Arbeit übernehmen? In der die Unter- scheidungslinie zwischen KI-Affen und Menschen zu verschwinden droht? Die wenigen Rebellen, denen dämmert, was für eine Realität tatsächlich hinter dem System steckt, flüchten sich in die Offline-Welt der Wälder. Und dort schreibt Marie, ehemalige Psychiaterin, mit Bleistift und Papier ihre Aufzeichnungen: ein in aller Eile verfasster Bericht vom Leben, von der Liebe, vom langsamen Be- greifen einer fast undurchschaubaren Überwachungsdiktatur, wo eliminiert wird, wer – wie sie – zu viel fragt. Sie schreibt ins Ungewisse hinein, voller Hoffnung, irgendwer könnte irgendwann ihren Mahnruf lesen, der den letzten glühenden Funken freien menschlichen Willens bezeugt. Ein fulminanter Text, verzweifelt, wütend, geprägt von schwarzem Humor – aus einer Zukunft, die sich erschreckend logisch aus unserer Gegenwart speist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2019Rettet die Psychoanalyse uns vor der Robotisierung?
Marie Darrieussecqs Roman "Unser Leben in den Wäldern" lässt eine Therapeutin gegen den totalitären Staat antreten
Marie Darrieussecq mag Wechselbäder: Nach den Schwärmereien und Enttäuschungen eines Hollywoodsternchens ("Man muss die Männer sehr lieben") schildert sie in "Unser Leben in den Wäldern" einen Überwachungsstaat und die rustikale Existenz derer, die ihn fliehen. Der neue Roman, der sich auch qualitativ vom schwachen Vorgänger abhebt, entwirft eine Dystopie: Die Heldin Marie, Therapeutin mit Trauma- und Sexologie-Spezialisierung, lebt in einer Welt von Klonen, Online-Überwachung per Implantat, ruhigstellenden Drogen, Umweltverschmutzung und Organraub. Eines Tages geht sie offline und in den Wald, wo Gleichgesinnte lesen und von einer alternativen Gesellschaft träumen. Erzählt wird im Rückblick: "Ich schreibe, um zu verstehen und um Zeugnis abzulegen, in ein Heft selbstverständlich, mit einem Holzbleistift mit Grafitmine, das gibt es noch: nichts, womit man online gehen könnte."
So weit, so wohlbekannt, den Genreklassikern "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley (1932) und "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury (1953) fügt Marie Darrieussecq auf den ersten Blick wenig Neues hinzu. Bei näherem Hinsehen finden sich jedoch zwei Wendungen, die "Unser Leben in den Wäldern" zu einer interessanten Variation der Dystopie werden lassen. Die erste ist die Akzentsetzung: So wichtig der Entwurf einer abschreckenden Zukunft ist, Darrieussecq zielt mehr noch auf das Wie der Enthüllung ab. Nach und nach erfährt die Heldin die Wahrheit über sich und die Gesellschaft; wie in einem Krimi erzeugt die Autorin eine düstere Atmosphäre und erzählerische Spannung.
Anfangs führt Marie ein erfolgreiches Leben als Therapeutin. In einer von Attentaten und Entführungen geprägten Zeit hilft sie Zeugen und Überlebenden, wieder in eine normale Existenz zu finden - wobei Normalität eine fensterlose Einraumwohnung, ein geklontes Haustier, konstanten Arbeitsdruck für Hungerlohn sowie die völlige Abwesenheit von Natur oder Erholung meint. Gelegentlich besucht Marie ihren Klon, der in seinem Bett schläft und darauf wartet, als Ersatzteillager genutzt zu werden; sie entwickelt eine enge Beziehung zu ihm.
Zwei Patienten stören die Routine. Da wäre die Überlebende eines Flugzeugattentats, bei dem Mann und Kinder gestorben sind; ihr Selbstmord erschüttert die Therapeutin. Wichtiger noch ist "Patient Zero", dessen Arbeit im Herstellen von Assoziationsketten besteht, die Robotern beibringen sollen, menschlich zu denken und empfinden: "Blau = Himmel = Melancholie = Musik = Prellung = blaues Blut = Adel = Enthauptung." Die "Klicken" genannte Arbeit wird fünfzehn Stunden täglich ausgeübt, für zwei Dollar die Stunde und mit dem Ziel, menschliche Arbeitskräfte endgültig zu ersetzen. Der depressive Klicker wünscht sich nur eines: "dass nichts passiert"; die Sitzung besteht in Schweigen, Therapeutin und Patient kommen sich vorsichtig näher. Mitunter unterhalten sie sich, immer bemüht, die Roboterüberwachung auszutricksen. Patient Zero hilft Marie bei ihrer Bewusstwerdung - bis er spurlos verschwindet.
Eine Entdeckung bringt Maries Leben vollends durcheinander: Ein Auge wird schwächer, sie wird das ihres Klons benötigen. Allerdings bemerkt sie nach der Operation, dass dem gar keins fehlt, und begreift, dass sie selbst das Ersatzteillager ist. Der Klicker meldet sich und warnt sie: Sie entfernt die Implantate und flieht zu ihm in den Wald. Das Ende des Romans beschäftigt sich mit der Rebellengemeinschaft: Entscheidend sind weder die Überlebensstrategien noch die Klon-Befreiungen, sondern die Auflösung der Rätsel dieser menschenkonsumierenden Romanwelt. Der von Kritikern gemachte Vorwurf, der Roman gehe assoziativ vor, trifft nicht: Er ist im Gegenteil genau konstruiert.
Die zweite Innovation besteht in einer Abrechnung. Die Autorin warnt nicht nur genretypisch vor den Gefahren aktueller technischer und sozialer Entwicklungen, indem sie diese in die Zukunft fortschreibt - sie rechnet vor allem mit einer bestimmten Psychologie ab. Darrieussecq hat bis 2017 (dem Erscheinungsjahr des Originals) als Psychoanalytikerin gearbeitet; das schlägt sich vielfach nieder. Es finden sich typische Referenzen, etwa Kopernikus als Beispiel einer narzisstischen Kränkung oder das Motiv des gestohlenen beziehungsweise ersetzten Auges. Die Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann", die Freud in "Das Unheimliche" vornimmt, wird spitzbübisch ins Spiel gebracht: "Hhhhmmmmm. Glasauge, fällt Ihnen da nicht irgendetwas ein?"
Darüber hinaus wird die Psychoanalyse verteidigt. Das geschieht durch eine Kritik an Maries Therapiearbeit: "So wie ich ausgebildet wurde, dient mein Beruf dazu, den Menschen ihre erlebten Traumata ,möglich' zu machen." Dazu zieht sie besonders die neurophysiologische EMDR-Methode heran, um das "Gehirn umzuprogrammieren"; die Verzweiflung wird erträglich gemacht. Ziel ist nicht Aufarbeitung, sondern das rasche und reibungslose Funktionieren: EMDR, Biographiearbeit et al. lassen sich leicht in den Dienst des Überwachungsstaates nehmen. Sie und ihre Phrasen - "Die Vergangenheit ist vergangen, wir müssen in der absoluten Gegenwart leben. Erkennen Sie, wer Sie sind! Konzentrieren Sie sich auf Ihre Lebenslinie!" - sind Teil einer totalitären Manipulation, die willige Untertanen, Arbeitskräfte und Organlieferanten produziert. Zwischen den Zeilen wird die heutige Persönlichkeitsoptimierung karikiert. Darrieussecq setzt dem ihr Vertrauen in Reden und Schweigen sowie eine am Unbewussten orientierte Trauma-Arbeit entgegen.
Man muss ihr darin nicht folgen, aber Darrieussecqs Text verdankt Theorie und Praxis der Psychoanalyse überzeugende Szenen und Motive. Das Spiel mit Assoziationsketten etwa ist spannend, der Roman lässt sie immer komplexer werden und führt die Robotisierungswünsche ad absurdum. Das Vertrauen in eine komplexe Sprache zeigt sich auch, wenn Metaphern und doppelte Verneinungen eingesetzt werden, um der Roboterüberwachung zu entkommen. Erzählerisch amüsiert das eine oder andere Augenzwinkern der Autorin: "Ein Minimum an Empathie. Ein Minimum an Identifikation." Das schenkt man dem darbenden Ersatzteillager Marie gern.
NIKLAS BENDER
Marie Darrieussecq:
"Unser Leben in den
Wäldern". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Zürich 2019. 110 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marie Darrieussecqs Roman "Unser Leben in den Wäldern" lässt eine Therapeutin gegen den totalitären Staat antreten
Marie Darrieussecq mag Wechselbäder: Nach den Schwärmereien und Enttäuschungen eines Hollywoodsternchens ("Man muss die Männer sehr lieben") schildert sie in "Unser Leben in den Wäldern" einen Überwachungsstaat und die rustikale Existenz derer, die ihn fliehen. Der neue Roman, der sich auch qualitativ vom schwachen Vorgänger abhebt, entwirft eine Dystopie: Die Heldin Marie, Therapeutin mit Trauma- und Sexologie-Spezialisierung, lebt in einer Welt von Klonen, Online-Überwachung per Implantat, ruhigstellenden Drogen, Umweltverschmutzung und Organraub. Eines Tages geht sie offline und in den Wald, wo Gleichgesinnte lesen und von einer alternativen Gesellschaft träumen. Erzählt wird im Rückblick: "Ich schreibe, um zu verstehen und um Zeugnis abzulegen, in ein Heft selbstverständlich, mit einem Holzbleistift mit Grafitmine, das gibt es noch: nichts, womit man online gehen könnte."
So weit, so wohlbekannt, den Genreklassikern "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley (1932) und "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury (1953) fügt Marie Darrieussecq auf den ersten Blick wenig Neues hinzu. Bei näherem Hinsehen finden sich jedoch zwei Wendungen, die "Unser Leben in den Wäldern" zu einer interessanten Variation der Dystopie werden lassen. Die erste ist die Akzentsetzung: So wichtig der Entwurf einer abschreckenden Zukunft ist, Darrieussecq zielt mehr noch auf das Wie der Enthüllung ab. Nach und nach erfährt die Heldin die Wahrheit über sich und die Gesellschaft; wie in einem Krimi erzeugt die Autorin eine düstere Atmosphäre und erzählerische Spannung.
Anfangs führt Marie ein erfolgreiches Leben als Therapeutin. In einer von Attentaten und Entführungen geprägten Zeit hilft sie Zeugen und Überlebenden, wieder in eine normale Existenz zu finden - wobei Normalität eine fensterlose Einraumwohnung, ein geklontes Haustier, konstanten Arbeitsdruck für Hungerlohn sowie die völlige Abwesenheit von Natur oder Erholung meint. Gelegentlich besucht Marie ihren Klon, der in seinem Bett schläft und darauf wartet, als Ersatzteillager genutzt zu werden; sie entwickelt eine enge Beziehung zu ihm.
Zwei Patienten stören die Routine. Da wäre die Überlebende eines Flugzeugattentats, bei dem Mann und Kinder gestorben sind; ihr Selbstmord erschüttert die Therapeutin. Wichtiger noch ist "Patient Zero", dessen Arbeit im Herstellen von Assoziationsketten besteht, die Robotern beibringen sollen, menschlich zu denken und empfinden: "Blau = Himmel = Melancholie = Musik = Prellung = blaues Blut = Adel = Enthauptung." Die "Klicken" genannte Arbeit wird fünfzehn Stunden täglich ausgeübt, für zwei Dollar die Stunde und mit dem Ziel, menschliche Arbeitskräfte endgültig zu ersetzen. Der depressive Klicker wünscht sich nur eines: "dass nichts passiert"; die Sitzung besteht in Schweigen, Therapeutin und Patient kommen sich vorsichtig näher. Mitunter unterhalten sie sich, immer bemüht, die Roboterüberwachung auszutricksen. Patient Zero hilft Marie bei ihrer Bewusstwerdung - bis er spurlos verschwindet.
Eine Entdeckung bringt Maries Leben vollends durcheinander: Ein Auge wird schwächer, sie wird das ihres Klons benötigen. Allerdings bemerkt sie nach der Operation, dass dem gar keins fehlt, und begreift, dass sie selbst das Ersatzteillager ist. Der Klicker meldet sich und warnt sie: Sie entfernt die Implantate und flieht zu ihm in den Wald. Das Ende des Romans beschäftigt sich mit der Rebellengemeinschaft: Entscheidend sind weder die Überlebensstrategien noch die Klon-Befreiungen, sondern die Auflösung der Rätsel dieser menschenkonsumierenden Romanwelt. Der von Kritikern gemachte Vorwurf, der Roman gehe assoziativ vor, trifft nicht: Er ist im Gegenteil genau konstruiert.
Die zweite Innovation besteht in einer Abrechnung. Die Autorin warnt nicht nur genretypisch vor den Gefahren aktueller technischer und sozialer Entwicklungen, indem sie diese in die Zukunft fortschreibt - sie rechnet vor allem mit einer bestimmten Psychologie ab. Darrieussecq hat bis 2017 (dem Erscheinungsjahr des Originals) als Psychoanalytikerin gearbeitet; das schlägt sich vielfach nieder. Es finden sich typische Referenzen, etwa Kopernikus als Beispiel einer narzisstischen Kränkung oder das Motiv des gestohlenen beziehungsweise ersetzten Auges. Die Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann", die Freud in "Das Unheimliche" vornimmt, wird spitzbübisch ins Spiel gebracht: "Hhhhmmmmm. Glasauge, fällt Ihnen da nicht irgendetwas ein?"
Darüber hinaus wird die Psychoanalyse verteidigt. Das geschieht durch eine Kritik an Maries Therapiearbeit: "So wie ich ausgebildet wurde, dient mein Beruf dazu, den Menschen ihre erlebten Traumata ,möglich' zu machen." Dazu zieht sie besonders die neurophysiologische EMDR-Methode heran, um das "Gehirn umzuprogrammieren"; die Verzweiflung wird erträglich gemacht. Ziel ist nicht Aufarbeitung, sondern das rasche und reibungslose Funktionieren: EMDR, Biographiearbeit et al. lassen sich leicht in den Dienst des Überwachungsstaates nehmen. Sie und ihre Phrasen - "Die Vergangenheit ist vergangen, wir müssen in der absoluten Gegenwart leben. Erkennen Sie, wer Sie sind! Konzentrieren Sie sich auf Ihre Lebenslinie!" - sind Teil einer totalitären Manipulation, die willige Untertanen, Arbeitskräfte und Organlieferanten produziert. Zwischen den Zeilen wird die heutige Persönlichkeitsoptimierung karikiert. Darrieussecq setzt dem ihr Vertrauen in Reden und Schweigen sowie eine am Unbewussten orientierte Trauma-Arbeit entgegen.
Man muss ihr darin nicht folgen, aber Darrieussecqs Text verdankt Theorie und Praxis der Psychoanalyse überzeugende Szenen und Motive. Das Spiel mit Assoziationsketten etwa ist spannend, der Roman lässt sie immer komplexer werden und führt die Robotisierungswünsche ad absurdum. Das Vertrauen in eine komplexe Sprache zeigt sich auch, wenn Metaphern und doppelte Verneinungen eingesetzt werden, um der Roboterüberwachung zu entkommen. Erzählerisch amüsiert das eine oder andere Augenzwinkern der Autorin: "Ein Minimum an Empathie. Ein Minimum an Identifikation." Das schenkt man dem darbenden Ersatzteillager Marie gern.
NIKLAS BENDER
Marie Darrieussecq:
"Unser Leben in den
Wäldern". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Zürich 2019. 110 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2019Tyrannei ohne
Tyrannen
Schon ganz nah: Die dystopische Zukunft von Marie
Darrieussecqs Roman „Unser Leben in den Wäldern“
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Dystopien funktionieren besonders gut, wenn sie als Zukunft der Gegenwart plausibel sind. Daher ist die Inkubationszeit dystopischer Romane unberechenbar. Nicht selten erleben sie lange nach ihrem Erscheinen ein Revival. So war Huxleys „Brave New World“ das aktuellste Buch der Stunde, als Ende der Neunzigerjahre Sloterdijk und Habermas über die Risiken der Biotechnologie debattierten. Erschienen war der Roman über sechzig Jahre davor. Ähnlich ergeht es seit Trumps Regierungsantritt Orwells „1984“. Angesichts der Rede von den sogenannten alternativen Fakten möchten viele noch einmal nachlesen, wie sich das Orwell’sche Konzept des „Doppeldenk“ gesellschaftlich auswirkt.
Die Inkubationszeit von Darrieussecqs „Unser Leben in den Wäldern“ läuft gegen null. Es wird eine totalitäre Kontrollgesellschaft der nahen Zukunft beschrieben, in der künstliche Intelligenz und Klontechnologie als Machtinstrumente eingesetzt werden. Das ist alles andere als unvorstellbar. KI-Überwachung ist im Sozialkreditpunktesystem der Volksrepublik China bereits im Einsatz und Experimente mit reproduktiver Gentechnologie finden in kaum versteckten Hinterzimmern statt.
Wie düster dies alles ausgehen kann, macht Darrieussecq von Anfang an klar. In einem dunklen Loch unter der Erde im Wald legt ihre Protagonistin Zeugnis ab. Offline und ohne einen Computer zur Hand verwendet sie die exotisch gewordenen Utensilien Bleistift und Papier. Aus der Perspektive einer Überlebenden zu erzählen, ist ein Taschenspielertrick dystopischer Romane. Bedrohliche Zukunftsszenarien lassen sich so ohne besserwisserischen Kultur- und Fortschrittspessimismus vor Augen führen. Das gelingt Darrieussecq in diesem Buch, das der Secession-Verlag in deutscher Übersetzung von Frank Heibert herausgebracht und mit bibliophiler Präzision gestaltetet hat, auf atemberaubend kluge Weise.
Alles was medizinisch und technisch vorstellbar ist, wird in der Zukunft, von der sie erzählt, ohne Zaudern umgesetzt. Klone dienen als Organdepots der Gesundheitsvorsorge. Und Roboter, als Menschen getarnt oder in Gadgets eingebaut, bilden eine technologisch aufgerüstete Stasi. Weder in der eigenen Wohnung noch während der Psychotherapie ist man vor ihnen sicher.
Hannah Arendt hat derartig totale Herrschaftsformen durch das Fehlen konkreter politischer Ziele definiert. Es gehe im Totalitarismus nicht um die Realisierung einer politischen Idee, sondern um „die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen“. Obwohl sich diese Beherrschung tyrannisch anfühlt, übt kein Tyrann sie aus. Alle Macht liegt in den vielen unsichtbaren Händen, die immer und überall ihre Finger im Spiel haben. Dabei verschwindet mit der Privatsphäre auch die Öffentlichkeit als Ort politischen Widerstands. Das absolute Außen bleibt als einziger Ausweg.
Darrieussecqs Erzählerin wird diesen Weg am Ende wählen. Bevor sie sich für das Leben in den Wäldern entscheidet, arbeitet sie als Sexologin. Zum eingeübten Repertoire ihrer Ratschläge gehört: „Entterritorialisieren Sie Ihr Liebesspiel!“ Das heißt, man solle es einmal nicht im Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer miteinander versuchen. Bei derlei lauen Tipps kann der therapeutische Erfolg kaum das Hauptziel sein. So dienen die Sitzungen auch vor allem der Datensammlung, denn natürlich hört auch hier der Staatsapparat mit.
Bei verdächtigen Wortkombinationen schlagen die künstlich intelligenten Spitzel Alarm. Da es für emotionale Soft Skills keine fertige Software gibt, müssen die Programme eine Art Herzensbildung durchlaufen. Dafür werden sie mit möglichst vielen emotionalen Assoziationen gefüttert. Diese Aufgabe übernehmen die „Klicker“. Je mehr Daten sie einspeisen, desto emotionaler ticken beziehungsweise klicken die Roboter. Für die Doppelbödigkeit rhetorischer Formulierungen bleiben sie allerdings taub. Die poetische Sprache wird damit zum letzten Kampfplatz des politischen Widerstands. Keine unschuldige Pointe für einen literarischen Text.
In ihrer physischen Leistungsfähigkeit sind die Menschen dagegen klar unterlegen, geradezu antiquiert. Obwohl es das Organdepot gibt, leiden viele an einer schweren Krankheit und sterben früh. Es herrscht eine brutale Körperpolitik, die von undurchsichtigen Interessen geleitet wird. Die Klone leben isoliert in „Erholungszentren“ und werden dort in einem komatösen Schlaf gehalten. Sie tragen Zahlenreihen als Namen und ihre Schädel sind rasiert. Mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der auch ein Leser von Arendts Texten zum Totalitarismus ist, lassen sich die Klone als „bloßes Leben“ bezeichnen. Eine politische Existenz ist ihnen verwehrt, allein das biologische Überleben wird durch medizinische Vorrichtungen gesichert.
„Unser Leben in den Wäldern“ berichtet von der Flucht aus dieser brutalen Sozialisierung der Biologie. Auf dem matschigen Untergrund des Waldes bricht die Unterscheidung von Klon und Nicht-Klon zusammen. Diese Einsicht kostet die Protagonistin ihr Sehvermögen. Ähnlich wie König Ödipus, der sich die Augen aussticht, als er begreift, dass er seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter geschlafen hat. Hier stehen die Dinge mindestens so schlimm. Es geht um unser Verhältnis zu Klonen und Robotern, um die Unterscheidung zwischen Natur und fataler Zivilisation. Darrieussecqs Roman stellt ethische Grundsatzfragen. Das Unbehagen daran wirft die Frage auf, was an unserer Wirklichkeit schon heute nicht stimmen könnte, was wir möglicherweise verdrängen, unterschätzen oder übersehen.
Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Zürich 2019. 110 Seiten, 18 Euro.
Die poetische Sprache wird
zum letzten Kampfplatz des
politischen Widerstands
Die 1969 geborene französische Schriftstellerin Marie Darrieussecq.
Foto: dpa
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Tyrannen
Schon ganz nah: Die dystopische Zukunft von Marie
Darrieussecqs Roman „Unser Leben in den Wäldern“
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Dystopien funktionieren besonders gut, wenn sie als Zukunft der Gegenwart plausibel sind. Daher ist die Inkubationszeit dystopischer Romane unberechenbar. Nicht selten erleben sie lange nach ihrem Erscheinen ein Revival. So war Huxleys „Brave New World“ das aktuellste Buch der Stunde, als Ende der Neunzigerjahre Sloterdijk und Habermas über die Risiken der Biotechnologie debattierten. Erschienen war der Roman über sechzig Jahre davor. Ähnlich ergeht es seit Trumps Regierungsantritt Orwells „1984“. Angesichts der Rede von den sogenannten alternativen Fakten möchten viele noch einmal nachlesen, wie sich das Orwell’sche Konzept des „Doppeldenk“ gesellschaftlich auswirkt.
Die Inkubationszeit von Darrieussecqs „Unser Leben in den Wäldern“ läuft gegen null. Es wird eine totalitäre Kontrollgesellschaft der nahen Zukunft beschrieben, in der künstliche Intelligenz und Klontechnologie als Machtinstrumente eingesetzt werden. Das ist alles andere als unvorstellbar. KI-Überwachung ist im Sozialkreditpunktesystem der Volksrepublik China bereits im Einsatz und Experimente mit reproduktiver Gentechnologie finden in kaum versteckten Hinterzimmern statt.
Wie düster dies alles ausgehen kann, macht Darrieussecq von Anfang an klar. In einem dunklen Loch unter der Erde im Wald legt ihre Protagonistin Zeugnis ab. Offline und ohne einen Computer zur Hand verwendet sie die exotisch gewordenen Utensilien Bleistift und Papier. Aus der Perspektive einer Überlebenden zu erzählen, ist ein Taschenspielertrick dystopischer Romane. Bedrohliche Zukunftsszenarien lassen sich so ohne besserwisserischen Kultur- und Fortschrittspessimismus vor Augen führen. Das gelingt Darrieussecq in diesem Buch, das der Secession-Verlag in deutscher Übersetzung von Frank Heibert herausgebracht und mit bibliophiler Präzision gestaltetet hat, auf atemberaubend kluge Weise.
Alles was medizinisch und technisch vorstellbar ist, wird in der Zukunft, von der sie erzählt, ohne Zaudern umgesetzt. Klone dienen als Organdepots der Gesundheitsvorsorge. Und Roboter, als Menschen getarnt oder in Gadgets eingebaut, bilden eine technologisch aufgerüstete Stasi. Weder in der eigenen Wohnung noch während der Psychotherapie ist man vor ihnen sicher.
Hannah Arendt hat derartig totale Herrschaftsformen durch das Fehlen konkreter politischer Ziele definiert. Es gehe im Totalitarismus nicht um die Realisierung einer politischen Idee, sondern um „die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen“. Obwohl sich diese Beherrschung tyrannisch anfühlt, übt kein Tyrann sie aus. Alle Macht liegt in den vielen unsichtbaren Händen, die immer und überall ihre Finger im Spiel haben. Dabei verschwindet mit der Privatsphäre auch die Öffentlichkeit als Ort politischen Widerstands. Das absolute Außen bleibt als einziger Ausweg.
Darrieussecqs Erzählerin wird diesen Weg am Ende wählen. Bevor sie sich für das Leben in den Wäldern entscheidet, arbeitet sie als Sexologin. Zum eingeübten Repertoire ihrer Ratschläge gehört: „Entterritorialisieren Sie Ihr Liebesspiel!“ Das heißt, man solle es einmal nicht im Schlafzimmer, sondern im Wohnzimmer miteinander versuchen. Bei derlei lauen Tipps kann der therapeutische Erfolg kaum das Hauptziel sein. So dienen die Sitzungen auch vor allem der Datensammlung, denn natürlich hört auch hier der Staatsapparat mit.
Bei verdächtigen Wortkombinationen schlagen die künstlich intelligenten Spitzel Alarm. Da es für emotionale Soft Skills keine fertige Software gibt, müssen die Programme eine Art Herzensbildung durchlaufen. Dafür werden sie mit möglichst vielen emotionalen Assoziationen gefüttert. Diese Aufgabe übernehmen die „Klicker“. Je mehr Daten sie einspeisen, desto emotionaler ticken beziehungsweise klicken die Roboter. Für die Doppelbödigkeit rhetorischer Formulierungen bleiben sie allerdings taub. Die poetische Sprache wird damit zum letzten Kampfplatz des politischen Widerstands. Keine unschuldige Pointe für einen literarischen Text.
In ihrer physischen Leistungsfähigkeit sind die Menschen dagegen klar unterlegen, geradezu antiquiert. Obwohl es das Organdepot gibt, leiden viele an einer schweren Krankheit und sterben früh. Es herrscht eine brutale Körperpolitik, die von undurchsichtigen Interessen geleitet wird. Die Klone leben isoliert in „Erholungszentren“ und werden dort in einem komatösen Schlaf gehalten. Sie tragen Zahlenreihen als Namen und ihre Schädel sind rasiert. Mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der auch ein Leser von Arendts Texten zum Totalitarismus ist, lassen sich die Klone als „bloßes Leben“ bezeichnen. Eine politische Existenz ist ihnen verwehrt, allein das biologische Überleben wird durch medizinische Vorrichtungen gesichert.
„Unser Leben in den Wäldern“ berichtet von der Flucht aus dieser brutalen Sozialisierung der Biologie. Auf dem matschigen Untergrund des Waldes bricht die Unterscheidung von Klon und Nicht-Klon zusammen. Diese Einsicht kostet die Protagonistin ihr Sehvermögen. Ähnlich wie König Ödipus, der sich die Augen aussticht, als er begreift, dass er seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter geschlafen hat. Hier stehen die Dinge mindestens so schlimm. Es geht um unser Verhältnis zu Klonen und Robotern, um die Unterscheidung zwischen Natur und fataler Zivilisation. Darrieussecqs Roman stellt ethische Grundsatzfragen. Das Unbehagen daran wirft die Frage auf, was an unserer Wirklichkeit schon heute nicht stimmen könnte, was wir möglicherweise verdrängen, unterschätzen oder übersehen.
Marie Darrieussecq: Unser Leben in den Wäldern. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Secession Verlag, Zürich 2019. 110 Seiten, 18 Euro.
Die poetische Sprache wird
zum letzten Kampfplatz des
politischen Widerstands
Die 1969 geborene französische Schriftstellerin Marie Darrieussecq.
Foto: dpa
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