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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Reihe lateinamerikanischer Autorinnen belebt ein Genre neu - mit dem Grauen und den Gespenstern des Alltags, in dem sie leben.
Der Realismus reicht nicht mehr aus, um die Wahrheit über die Schrecken unserer Gesellschaften auszusprechen. Der Horror hilft, davon zu erzählen." Was die argentinische Schriftstellerin Mariana Enríquez da sagt, im Gespräch zu Besuch in Berlin, bringt es auf den Punkt. Und es klingt zugleich wie ein programmatischer Kampfruf zu einem aufregenden Experiment, das Autorinnen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas im Moment durchführen: die Wiedererfindung der Horrorliteratur.
Zunächst war das nur eine kuriose Randerscheinung, inzwischen ist es ein Phänomen, das unterschiedliche Namen bekommen hat: "lateinamerikanischer Gothic", "anomaler Realismus" , "feministischer Horror". Aber wie man es auch nennen mag, diese Begriffe verbinden jedenfalls die Werke gleich mehrerer Schriftstellerinnen, die Kennzeichen des Horrorgenres verwenden, neu interpretieren, neu besetzen, um damit die dunklen Seiten Lateinamerikas genauso fesselnd wie verstörend ins Licht zu holen.
Die Argentinierin Mariana Enríquez ist die international prominenteste Vertreterin dieser Bewegung. Bekannt wurde sie durch die Erzählbände "Los peligros de fumar en la cama" ("Die Gefahren, im Bett zu rauchen", 2009), der auf der Shortlist des International Booker Prize stand, und "Was wir im Feuer verloren", ein Bestseller, der 2017 auch auf Deutsch bei Ullstein erschienen ist.
Diese Erzählungen sind minutiös konstruierte Maschinerien, die durch etablierte Horrormotive - Sekten, Spukhäuser, gespenstische Gestalten - die Fans des Genres begeistert haben. Unter der erzählerischen Oberfläche aber handeln die Geschichten der Autorin von sehr realen Miseren: Depression, Armut, ökologischen Katastrophen oder Gewalt.
Ihr bislang wichtigstes Werk ist vor wenigen Wochen auch auf Deutsch erschienen: "Unser Teil der Nacht". Der Roman erzählt von der komplizierten Beziehung eines todkranken, von Visionen geplagten Mannes zu seinem kleinen Sohn. Beide werden gezwungen, als Medien für eine Geheimgesellschaft zu dienen, die auf der Suche nach ewigem Leben Menschen quält und barbarische Rituale veranstaltet. Und weil sich Mariana Enríquez in ihrem achthundertseitigen Buch furchtlos mit Gewalt auseinandersetzt, verschiedene Zeitebenen verknüpft und mit literarischen Formen spielt, wurde der Roman mit Roberto Bolaños "2666" verglichen, inzwischen ein Klassiker der neueren lateinamerikanischen Literatur.
"Unser Teil der Nacht" hat den berühmten Herralde-Preis in Spanien erhalten und ist auch als Horrorroman äußerst spannend. Seine Wucht und Brisanz aber haben vor allem mit dem geschichtlichen Hintergrund zu tun: mit den letzten Jahren der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien herrschte, und der sozialen Ungewissheit, die mit der Rückkehr der Demokratie einherging. Die permanente Angst der Protagonisten vor Verfolgung und Gewalt wird hier zum Symbol der Angst von Millionen. Die Erbarmungslosigkeit der Sekte wird zur Metapher der Verbrechen der Diktatur, der Folterung und Ermordung von Tausenden von Menschen, der Entführung von Kindern und des Verschwindens von mehr als 30 000 Personen.
Die Art, in der sich in Enríquez' Büchern geisterhafte Elemente mit der Anspielung auf authentische Übel vermischen, ist repräsentativ für die Arbeit einer Reihe anderer Autorinnen, die ebenfalls durch den Filter der Horrorliteratur auf die Realität Lateinamerikas blicken. Was ihre Geschichten so furchteinflößend macht, ist der oft bloß angedeutete Bezug auf reale Missstände, auf die ungeheure Ungleichheit Lateinamerikas und die Gleichgültigkeit - oder Brutalität - seiner Institutionen.
Leider sind die Bücher der ecuadorianischen Autorin María Fernanda Ampuero bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. In ihrem phänomenalen Erzählband "Sacrificios humanos" ("Menschenopfer") schildert sie in einer der Erzählungen die allmähliche "Besetzung" eines gutbürgerlichen Viertels durch ärmere Menschen. Der Hass eines lange ansässigen Nachbarn, der Tod eines Kindes und ein verhängnisvoller Fluch bilden die Basis für eine subtile Fabel sozialen Terrors. Mariana Enríquez wiederum schreibt in ihrer Erzählung "Tief unten im schwarzen Wasser" (aus dem Band "Was wir im Feuer verloren") von Polizisten, die zwei junge Männer dazu zwingen, durch einen kloakenähnlichen Fluss - "tot, bedeckt mit Öl und Plastikteilen und voller Chemieabfälle" - zu schwimmen. Einer der Jungen stirbt. Der andere, man erahnt es, erlebt eine ungeheuerliche Verwandlung. Bis auf die Verwandlung beruht die Geschichte auf einem wahren Fall.
Auch häusliche und sexuelle Gewalt sind wiederkehrende Motive in dieser neuen weiblichen lateinamerikanischen Horrorliteratur. Mónica Ojeda, eine ebenfalls noch nicht ins Deutsche übersetzte Schriftstellerin aus Ecuador, erzählt in ihrem Roman "Nefando" (2016) von einer Wohnung, in der bestialische Leute leben, und von den Schandtaten, die sich im "Deep Web" verstecken. Eine ihrer Erzählungen, "Canino", handelt von einer seltsamen Familie. Der Vater nimmt langsam die Eigenschaften eines Hundes an. Die Realität dahinter sind sexuelle Perversität und Kindesmissbrauch. Auch die gefeierte bolivianische Autorin Giovanna Rivero, die in ihren realistischen Kurzgeschichten auf Stilmittel des Horrorgenres zurückgreift, schreibt in "La mansedumbre" ("Die Sanftmut") von Vergewaltigungen in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien - und auch diese Geschichte stützt sich auf reale Ereignisse.
Real wie das Drama der "Desaparecidos" - so nennt man jene Menschen, die durch Diktaturen, Mafiakriege, Menschenhandel und andere Ausprägungen der Gewalt in Lateinamerika unter ungeklärten Umständen verschwunden sind und immer noch verschwinden. Diese "Desaparecidos" tauchen wie Gespenster auch im neuen lateinamerikanischen Horror auf. Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin, deren Romane und Erzählungen auf Deutsch erschienen sind, erzählt in ihrer verstörenden Kurzgeschichte "Bajo tierra" ("Unter Tage") von einem Dorf von Minenarbeitern, deren Kinder anfangen, ein Loch in die Erde zu graben. Eines Nachts verschwinden sie für immer; ihre Eltern verfallen nach und nach dem Wahnsinn.
Mariana Enríquez wiederum schreibt in "Adelas Haus" von einem unheimlichen, verlassenen Gebäude in Buenos Aires, das ein neugieriges Mädchen betritt - seine Familie wird es nie wiedersehen. "In dieser Erzählung gibt es zwar eine übernatürliche Wendung", sagt Enríquez, "aber in Argentinien gibt es heute noch viele Spukhäuser: solche, wo hinter unschuldigen Fassaden bei ohrenbetäubender Musik Leute ermordet wurden."
Die Gefahren, die es in Lateinamerika - und nicht nur dort - mit sich bringen kann, eine Frau zu sein: Auch damit beschäftigen sich all diese Horrorautorinnen immer wieder in ihren Büchern. Wir treffen auf Frauen, die, weil sie es satthaben, von anderen Frauen zu erfahren, deren Gesichter und Körper ihre Partner mit Säure zerstörten, nun beschließen, sich selbst abzufackeln, "damit die Männer niemanden mehr zum Verbrennen haben".
Und immer wieder sind da missbrauchte Frauen, die, weil sie anderen missbrauchten Frauen bei Abtreibungen helfen, schrecklich bestraft werden. Oder Frauen, die, als unregistrierte Migrantinnen, Jobs annehmen müssen, die ihnen ihre Seelen, Körper und ihren Verstand rauben. All diese Geschichten sind der reinste Horror - und dabei doch nur die literarische Zuspitzung von Dingen, die jeden Tag in der lateinamerikanischen Wirklichkeit geschehen.
"Alle Frauen, die ich kenne", hat María Fernanda Ampuero einmal gesagt, "haben eine Geschichte von Gewalt: körperliche und verbale, dazu niedrigere Löhne, Gefahr auf der Straße, Vergewaltigung . . . Und viele von ihnen denken sogar: 'Vielleicht habe ich es selbst provoziert.' Als ich das gemerkt habe, auch an mir selbst, war ich erschrocken. Und ich wusste, dass ich genau so darüber schreiben will."
So wie all diese Autorinnen Motive teilen, so haben sie auch literarische Einflüsse gemeinsam: die britische Gothic-Literatur, also Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts wie Mary Shelleys "Frankenstein" oder Bram Stokers "Dracula", dann die großen Horrorklassiker der Vereinigten Staaten: Edgar Allan Poe und H. P. Lovecraft, Shirley Jackson und Stephen King. Aber genauso ist auch die Tradition der phantastischen Literatur Lateinamerikas spürbar, wie sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend in Argentinien geprägt worden ist, von Jorge Luis Borges, Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo oder Julio Cortázar. Auch diese Autoren verband eine große Faszination für Science-Fiction und Horror, auch sie experimentierten damit.
Doch die Schriftstellerinnen von heute setzen sich bewusst von ihren Vorfahren ab, und zwar in entscheidenden Punkten. Einmal ist da ihr Interesse an einheimischen Heiligenkulten und den indigenen Mythologien Lateinamerikas, die Autoren der Region früher oft gering geschätzt haben. In den Erzählungen von Enríquez, Ojeda und Rivero spielen sie jetzt eine große Rolle. Und während die Gothic-Autoren oder auch Lovecraft in der Regel Horror als etwas schilderten, das aus übernatürlichen Quellen stammt, von bösartigen kosmischen Wesen, Geistern, Monstern, deuten die neuen Vertreterinnen des Genres das Unheimliche als eine Facette des ganz alltäglichen Grauens.
Und während die Angstszenarien klassischer Horrorliteratur in der Regel zuerst darauf abzielen, das Publikum zu schocken, zu erstaunen und zu unterhalten - was dem Genre, wie aller Genreliteratur, ja immer noch oft genug als banal vorgeworfen wird -, wollen diese lateinamerikanischen Autorinnen von heute Unterhaltung mit Sozialkritik verknüpfen. Das verbindet sie übrigens mit den Filmen prominenter afroamerikanischer Regisseure wie Jordan Peele ("Get Out") oder Regisseurinnen wie Nia DaCosta ("The Marvels"), die ihren Horrorszenarien geschickt einen gesellschaftskritischen Subtext geben.
Die Geschichte Lateinamerikas, sagt Mariana Enríquez im Gespräch, "ist ja eine einzige Horrorgeschichte. Alle Autorinnen meiner Generation wurden in eine Diktatur hineingeboren oder sind inmitten von Bürgerkriegen aufgewachsen. Die Zeichen der Gewalt müssen in der Literatur auftauchen." Das könnte erklären, warum das Horrorgenre in den vergangenen Jahren in Lateinamerika bei denen, die schreiben, und jenen, die lesen, so populär geworden ist. Und dass gerade so auffällig viele Autorinnen sich so unerschrocken der Wiederbelebung des Genres widmen, ist dabei überhaupt nicht verwunderlich.
"Frau zu sein", hat María Fernanda Ampuero gesagt, "heißt oft, in einem Horrorfilm mitzuspielen." Jetzt schreiben die Frauen selbst Geschichten des Horrors. Sie stellen sich ihren Dämonen.
HERNÁN D. CARO
Mariana Enríquez: "Was wir im Feuer verloren". Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt. Ullstein, 240 Seiten, 9,99 Euro. Und: "Unser Teil der Nacht". Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann. Tropen, 832 Seiten, 28 Euro.
Samanta Schweblin: "Sieben leere Häuser". Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp, 150 Seiten, 20 Euro.
María Fernanda Ampuero: "Sacrificios humanos". Páginas de espuma, 130 Seiten, 22 Euro.
Mónica Ojeda: "Nefando". Candaya, 208 Seiten, 15 Euro. Und: "Las voladoras". Páginas de espuma, 128 Seiten, 14 Euro.
Giovanna Rivero: "Tierra fresca de su tumba". Candaya, 176 Seiten, 15 Euro.
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