Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Richard Adams' Roman "Unten am Fluss", ein Klassiker des Nature Writings, erscheint in einer gelungenen Neuübersetzung.
VonCord Riechelmann
Normalerweise werden Wildkaninchen an einem bestimmten Ort geboren, das kann eine strauchbewachsene Böschung an einem alten Bahndamm oder ein Stadtpark sein, in dessen Nähe sie auch sterben. Die Mehrzahl der Kaninchen bewegt sich in ihrem Leben nur über kurze Strecken. Sie leben, schlafen manchmal monatelang im Freien, benötigen in der Nähe aber ein Loch oder einen Unterschlupf wie ein altes Autowrack oder einen Holzschuppen, in dem sie Zuflucht vor Feinden oder Unwettern finden können. Auch weil sie so standorttreu sind, kommen sie im Wesentlichen mit zwei Gangarten aus: dem gemächlichen Hoppeln und der blitzartigen Flucht. Hoppeln sieht man sie vor allem, wenn sie gemächlich auf einem Rasen oder Graswiesen von einem gerade weggeputzten Grasbüschel zu einem Löwenzahn hoppeln, um dem drögen Gras etwas Salat hinzuzufügen. Die blitzartige Flucht dient dem Ausweichen plötzlicher Bedrohungen durch Füchse, Eulen oder Menschen und findet ihr Ziel im Bau oder anderen Verstecken.
Zu weiten Wanderungen junger Kaninchen kommt es dennoch von Zeit zu Zeit. Die weite Verbreitung der Kaninchen in Europa wäre anders nicht zu erklären. Die Gründe können sehr verschieden sein. Die Zahl der Kaninchen in einer bestimmten Population an einem bestimmten Ort kann zu groß geworden sein, sodass sich nicht mehr alle ernähren können und die jüngeren Nachwachsenden entweder vertrieben werden oder sich selbst einen neuen Platz suchen. Es können aber auch infektiöse Krankheiten sein, die eine Kaninchengruppe befallen und die Überlebenden dazu bringen, sich an anderen Orten neu zu formieren. Und nicht zuletzt kann es die Zerstörung ihrer Lebensräume durch menschliche Aktivitäten sein, die Kaninchen dazu zwingt, sich auf längere Wanderschaften zu begeben.
Dabei stehen wandernde Kaninchen vor einigen Herausforderungen: Wie etwa soll man zwischen Hoppeln und Rennen eine mittlere Gangart finden? Vom Finden einer solchen Gangart handelt der gerade in einer deutschen Neuübersetzung von Henning Ahrens erschienene Roman "Unten am Fluss" des britischen Autors Richard Adams. Ahrens hat in seiner Übersetzung eine Sprache gefunden, die einen heute genauso in den Sog der Geschichte zieht, wie es in den Siebzigerjahren dem damals lesenden Teenager geschah. Als "Watership Down", so der Originaltitel, 1972 erstmals erschien, traf der Roman eine sich wandelnde Zeitstimmung in den westlichen Ländern. Die große Aufbruchstimmung der Sechziger mit ihrem blühenden Glauben an gesellschaftlichen und technischen Fortschritt begann langsam, aber stetig einem bis ins Katastrophische gesteigerten, von Skepsis durchzogenen Zeitgeist zu weichen.
Ihren wissenschaftlichen Ausdruck fand die allgemeine Skepsis im ebenfalls 1972 erschienenen sogenannten Meadows-Bericht des Club of Rome. Darin hatte eine Gruppe international anerkannter Experten und Technokraten im Auftrag von Industriellen und Staatspolitikern der Menschheit eine düstere Zukunft prophezeit. Durch Umweltverschmutzung, Zerstörung von Lebensraum, Ressourcenübernutzung, Bevölkerungsexplosion und knappe Nahrungsmittel werde das scheinbar ewige Wirtschaftswachstum an seine systemischen Grenzen stoßen und, wenn nicht gegengesteuert werden würde, in eine riesige Hungerkrise führen. Das Letztere bis heute ausblieb, ist immer noch einer der Kritikpunkte an den Prognosen des Club of Rome und einer der Gründe, den Bericht nicht zu ernst genommen zu haben. Als krisenhaft wird die aktuelle Lage aber tatsächlich auf einem ähnlich allgemeinen Niveau empfunden, wie es in den frühen Siebzigerjahren der Fall war.
Während es der Meadows-Bericht "nur" auf eine Auflage von zehn Millionen brachte, wurden von "Watership Down" bis heute mehr als 50 Millionen Exemplare verkauft. Es blieb nicht beim Buch. Ein Musical, Hörspiele und ein 1978 erschienener Zeichentrickfilm kamen hinzu. Erstaunlich ist der weltweite Erfolg von Adams' Kaninchensaga aus heutiger Sicht auch wegen der die Geschichte durchziehenden Gewalt. Für Adams ist nicht nur die Mensch-Tier- Beziehung wesentlich ein Gewaltverhältnis; dieses findet sich auch in den Beziehungen zwischen den Tierarten und innerhalb der Kaninchengesellschaften. Blut fließt unten am Fluss, wenn sich ein Kaninchen in einer von Menschen aufgestellten Schlinge verfängt, aber auch, wenn die Kaninchen untereinander in Streit geraten. Adams wurde daher vorgeworfen, Kinder durch solche Gewaltszenen zu verderben. Er wusste, dass diese zur Lebenswirklichkeit der Kaninchen gehören; er hielt wenig davon, Kindern diese Verhältnisse zu verschweigen.
Der Schock ist in seiner Erzählung auch kein nach Aufmerksamkeit schreiendes Stilmittel. Adams hatte seinen Einsatz genau erprobt und die Geschichte zuerst seinen Töchtern erzählt. Diese hatten ihn dann gedrängt, sie aufzuschreiben. Adams war für seinen Stoff prädestiniert. 1920 in Newburry geboren, schloss er 1948 nach seinem Einsatz in der britischen Armee im Zweiten Weltkrieg sein Studium der Neueren Geschichte in Oxford ab. Danach arbeitete er von 1948 bis 1974 als Beamter für das Ministry of Housing and Local Government in London. Sein Ministerium war so etwas wie der Vorläufer des heutigen Umweltministeriums und dürfte ihn mit dem nötigen Material über die beginnenden Umweltkrisen informiert haben.
Mit einer solchen Krise beginnt auch seine Geschichte. Eine Gruppe Kaninchen, im Fortgang der Geschichte alle mit Namen und unverwechselbarem Charakter versehen, lebt an einem Waldrand mit einem brombeerverkrauteten Graben in ihrer streng nach britischem Vorbild organisierten Hierarchie. Angeführt wird die Gruppe von einem "Lord Eberesche", es gibt junge und erfahrene Rammler, ebensolche Zibben, wie die Weibchen der Gruppe heißen, und sogenannte "Randlinge", die sich noch keinen Status erarbeitet haben. Was hier nach Fabel und Übertragung der britischen Gesellschaft in die Kaninchenwelt klingt, rückt jedoch nie in den Vordergrund der Erzählung.
Das hat mit der Landschaft und ihrer Beschreibung zu tun. Adams lässt die Geschichte an existierenden Orten in Hampshire spielen, einer Gegend, von der er sagte, sie sei sein Land, ihm zutiefst vertraut, er wisse, wie es dort rieche. Und das spürt man beim Lesen. Hier wächst kein Kraut, das Adams nicht durch seine Kaninchen benennen könnte - von den Schlüsselblumen über die Brunnenkresse bis zum Löwenzahn. Damit steht Adams in der britischen Tradition des Nature Writing, die sich immer dem Gegebenen eher verpflichtet sieht als dem Ausgedachten; eine Verpflichtung, die Adams auch gegenüber den Kaninchen einhält, wenn er sich bei den Beschreibungen an die Verhaltensbiologie der Tiere hält.
Was er hinzufügt, sind Sprache und spekulierendes Denken der Tiere. Dabei gelingt ihm ein Clou: die Beschreibung des Schwankens zwischen Intuition und Instinkt im Leben seiner Kaninchen. Da gibt es einen, den man nicht vergisst, und das liegt nicht nur am Namen. "Fiver" heißt er, weil er der schwächliche Fünftgeborene seines Wurfes ist. So heißen bei den Kaninchen, die nur bis vier zählen können, alle nach den ersten vier Geborenen. Fiver hat, obwohl schwach und ohne Rang, eine einmalige seherische Gabe. So werden für ihn, nachdem er ein Schild mit der Aufschrift "Auf diesen sechs Hektar Bauland in idealer Lage entstehen hochwertige, moderne Wohnhäuser" gesehen hat, ohne es entziffern zu können, die Landschaften um sein Zuhause blutrot. Aus Angst vor einem schrecklichen Unheil, dass er nicht näher benennen kann, sieht er in der Flucht die einzige Überlebenschance.
Natürlich schafft er es nicht, Lord Eberesche von seiner Ahnung zu überzeugen, und so flieht er denn mit ein paar Freunden, die Hazel, Silver, Bigwig oder Buckthorn heißen und sich durch gefährliche Wälder, Hecken, Wiesen und Äcker vorarbeiten, bis sie in Watership Down, unten am Fluss, ein neues Zuhause finden. Auf dem Weg dorthin ist dann durch die Kämpfe mit ekelhaften Drahtschlingen, durch unverhoffte Zusammentreffen mit einem Dachs und einer Krähe und die Wachsamkeit vor den Feinden etwas geschehen, was der Geschichte einen zeitlosen Charme gibt. In ihrer sich immer mehr ausbildenden Individualität und ihren ganz unterschiedlichen Fähigkeiten sind Hazel, Bigwig, Fiver und all die anderen sozial immer gleicher geworden. Die anfänglichen Statusunterschiede haben sich mit der Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Fähigkeiten in eine Gleichheit verwandelt, durch die allein die Kaninchen den Widrigkeiten der Umwelt zu widerstehen vermochten.
Richard Adams: "Unten am Fluss - 'Watership Down'". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Ullstein, 576 Seiten, 26,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main