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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Hausverwaltung sieht alles: In ihrem dystopischen Roman "Unten" ändert Maja Ilisch die Regeln
Wer Geld hat und in der Großstadt lebt, legt sich gern ein Penthouse zu. Hoch oben, um mit den Problemen der gemeinen Bevölkerung nichts zu tun zu haben. Die aber wohnt meist weiter unten - je geringer das Einkommen, desto kleiner und dunkler wird es. Die Zeichen, wer in unserer Gesellschaft oben und wer unten steht, sind nicht schwer zu lesen.
"Unten", der dystopische Roman der Fantasyautorin Maja Ilisch, macht aus diesem Bild eine Geschichte. Sie handelt von Nevo, einem Mädchen, das in einem scheinbar unendlichen Hochhaus lebt, einem Haus ohne Ausgang oder Außenwelt. Die Stockwerke sind in unterschiedliche Farben aufgeteilt, die die Bewohner einer gesellschaftlichen Schicht zuordnen. Nevo und ihre beste Freundin Juma wohnen auf "Zinnober vier", was, so kann man den Beschreibungen der Wohnungen entnehmen, vermutlich der unteren Mittelschicht zuzuordnen wäre. Im jeweiligen Abschnitt des Hauses spielt sich das ganze Leben der Bewohner ab: Hier ist die Schule, der Arbeitsplatz. Ausflüge in andere Abschnitte sind streng untersagt, und wer sich dieser Regel widersetzt, kann vermutlich nie wieder in sein Zuhause zurückkehren.
So entsteht schon auf den ersten Seiten des Buchs der Eindruck einer Big-Brother-ähnlichen Welt: Wenn die Mädchen auf dem Flur hin und her rennen, um ein wenig Bewegung zu bekommen, werden sie von einer unsichtbaren Instanz, der Hausverwaltung, die alles sieht und hört, ermahnt. Doch es kommt noch schlimmer. Als Juma sich aus Angst vor den Wachen der Hausverwaltung im Wäscheschacht versteckt, verschwindet sie spurlos. In der Wohnung neben Nevo zieht stattdessen ein anderes Mädchen ein, Miu, von der alle (inklusive Jumas und Nevos Mütter) behaupten, sie sei schon immer dagewesen - und eine Juma habe es niemals gegeben. Daraufhin macht sich Nevo auf die Suche nach ihrer Freundin, rauscht den Wäscheschacht hinab wie das Kaninchen bei "Alice im Wunderland" und begibt sich in eine ganz andere, nur in Teilen bedrohliche Welt. Denn das "schmutzige Pack" der unteren Etagen ist deutlich freundlicher, als sein Ruf vermuten lässt. Die wirklichen Gefahren liegen anderswo.
Das Schauerliche an diesem Roman, wie überhaupt an guten, weil wahrhaftigen Dystopien, ist der Umstand, dass die Dinge, die hier erzählt werden, nie ganz unrealistisch sind. Natürlich nehmen Hochhäuser irgendwann ein Ende, doch im Grunde treibt Ilisch nur auf die Spitze, was in unserer Gesellschaft angelegt ist: Die Aufteilung in Schichten, die sich durch bestimmte Merkmale zu erkennen geben - bessere Kleidung, gepflegtere Treppenhäuser und so weiter - und denen durch diese Zugehörigkeit bestimmte Dinge zustehen und andere nicht. Dort auszubrechen ist in unserer Welt mitunter schwierig. Im Roman ist es fast unmöglich - zumindest wenn man nach oben will.
Das liegt auch an der umfassenden Überwachung aller Bewohner. Um die Unfreiheit ihres Lebens unter Kontrolle zu ertragen, reden diese sich im Roman ein, nur das zu wollen, was sie haben. Deshalb kann Luus, die während ihrer Nachtschichten in der Wäscherei dort eingesperrt ist, diesen Umstand nicht als solchen anerkennen. Zwar sieht sie ein, dass die Tür zu ist: "Aber eingeschlossen wäre ich ja nur, wenn ich gehen wollte."
Das erinnert an die Verharmlosung digitaler Überwachung: Warum sollte irgendjemanden interessieren, was ein Durchschnittsmensch denkt und tut? Ilischs Roman zeigt, dass es nicht den Regelbruch braucht, um Angst zu haben und Beschränkungen in Kauf zu nehmen. Viele Bewohner des Hauses überschreiten niemals Grenzen - und sind trotzdem unfrei. Denn sie trauen sich nicht, den Status quo zu hinterfragen. So spricht Nevos Mutter von der viel zu kleinen Einzimmerwohnung als einer "guten Wohnung", als befürchte sie, beim kleinsten Fehltritt könne ihr auch diese weggenommen werden.
Im Roman gelingt die Befreiung dank Mut, einer gewissen Portion Verrücktheit - und Zusammenhalt. Am Ende kommt Nevo auf die Idee, die Hausordnung durch eine andere zu ersetzen, und befreit damit nicht nur ihre Freundin Juma, sondern gleich das ganze Haus. Denn ein Individuum, so heißt es im Roman, kann sich Freiheit verschaffen, indem es die Regeln bricht. Doch "wenn man will, dass alle anderen auch frei sind", erkennen Nevo und ihr neuer Freund Mat, "dann muss man die Regeln ändern".
Glücklicherweise klärt "Unten" nicht alle offenen Fragen. Was hinter der ominösen Hausverwaltung steckt, erfahren wir nicht. Vielleicht der Herr, dessen Foto sich neben den Hausregeln findet? Oder eine Künstliche Intelligenz, die menschlichen Angestellten Anweisungen gibt? Für Letzteres spricht, dass die Überwachung nur mit dem arbeitet, was ihr vorliegt. Als Nevo und ihre Freunde die Regeln ändern, gelten vom einen auf den anderen Moment diese.
Leser können entscheiden, ob sie sich über dieses Happy End freuen - oder darüber nachdenken, ob es genau an dieser Stelle nicht auch getrübt ist: Denn wie sehr hat sich die Welt geändert, wenn jegliche Regeln, die es gibt, übernommen werden? Wenn es im Grunde ein Zufall war, dass ein kluges achtjähriges Mädchen die Gelegenheit dazu hatte und nicht jemand mit noch finstereren Absichten als die des bisherigen Verfassers? Gäbe es Widerstand? Im Roman spricht das Verhalten einiger Figuren dafür und das vieler dagegen. Genug Raum für Interpretationen - und für eine Fortsetzung. Denn auch nach draußen hat es Nevo bei ihrem Ausflug nicht geschafft. ANNA VOLLMER
Maja Ilisch: "Unten". Roman.
Dressler Verlag, Hamburg 2023. 304 S., geb., 16,- Euro. Ab 10 J.
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