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Seit wann und aus welcher Interessenlage heraus ist der Begriff der liberalen Demokratie eigentlich politisch sinnfällig geworden? Und wie hängen unsere analytischen Konzepte mit den institutionellen Kontexten sowie mit den Konflikten zusammen, die sie bloß zu beschreiben vorgeben?
Philip Manow skizziert eine mit der jüngsten Entwicklung der politischen Institutionen sowie der dadurch ausgelösten Krise systematisch verwobene Begriffsgeschichte unserer demokratischen Gegenwart. Dabei deutet der Politikwissenschaftler die derzeitige Krise als Konsequenz der Epochenschwelle von 1989/90.…mehr

Produktbeschreibung
Seit wann und aus welcher Interessenlage heraus ist der Begriff der liberalen Demokratie eigentlich politisch sinnfällig geworden? Und wie hängen unsere analytischen Konzepte mit den institutionellen Kontexten sowie mit den Konflikten zusammen, die sie bloß zu beschreiben vorgeben?

Philip Manow skizziert eine mit der jüngsten Entwicklung der politischen Institutionen sowie der dadurch ausgelösten Krise systematisch verwobene Begriffsgeschichte unserer demokratischen Gegenwart. Dabei deutet der Politikwissenschaftler die derzeitige Krise als Konsequenz der Epochenschwelle von 1989/90. Generell zeigt sich: Unsere Ontologien sind immer historisch und deswegen auch immer politisch. Dies gilt im Besonderen, wenn es sich um Ontologien des Politischen handelt.

Autorenporträt
Philip Manow , geboren 1963, ist Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Siegen. In der edition suhrkamp erschien zuletzt Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde (es 2796).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die SZ lässt das viel diskutierte Buch des Politologen Philip Manow von dem Juristen Maximilian Steinbeis, der den Verfassungsblog gegründet hat, besprechen. Steinbeis tritt für eine Stärkung der Verfassung ein, entsprechend kritisch geht er mit Manows Buch um: Dessen Versuch, der liberalen Demokratie ihre Idealität abzusprechen, gelingt zwar mitunter recht überzeugend, so wenn Manow die "Checklisten-Metrik" hinterfragt, mit der man ihr Gültigkeit verschaffen will. Wenn es jedoch um die Institutionen geht, die die autoritär-populistischen Gegner der liberalen Demokratie kontrollieren wollen, stellt Steinbeis fest: Es geht in diesem Konflikt nicht um die liberale Demokratie, sondern um die Demokratie "überhaupt". Genau um diese Erkenntnis aber macht der Autor mit seinem "Liberal-illiberal-Aktions-Reaktions-Schema" einen Bogen, findet Steinbeis, der Manow darauf aufmerksam macht, dass autoritäre Populisten einen ganz anderen Demokratie-Begriff haben: Sie wollen die Demokratie gemäß ihrer Vorstellung des "wahren Volkes" zu einem "identitären Spiegelkabinett" umbauen, sobald sie an der Macht sind, wird die Verfassung entsprechend umgebaut, erinnert Steinbeis nicht nur mit Blick auf Ungarn. Die Verfassung zu schwächen, ist sicher nicht die Lösung des Problems, ärgert sich der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Es gibt ja nicht so häufig Sachbücher, in denen tatsächlich etwas Neues steht. Denn die meisten reproduzieren ein gängiges Narrativ, das sie für die Wirklichkeit halten. Nach der Lektüre von Philip Manows scharfsinnigem Buch Unter Beobachtung ... hingegen fühlt man sich wie nach einem Schleuderwaschgang: Man reibt sich die Augen, weil man jede Orientierung verloren hat und erst mal nicht mehr weiß, wo links und rechts, hinten und vorne und oben und unten ist.« Ijoma Mangold DIE ZEIT 20240620

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2024

Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?
Populistische Herausforderungen in anderem Licht: Für Philip Manow hat eine bestimmte Form liberaler Demokratie ihre oft beklagte Krise selbst produziert

Die Populisten bekämpfen die liberale Demokratie - so will es die Beobachtung liberaler Demokraten. Aber lässt sich überhaupt verstehen, was Populismus ist, wenn man nicht verstanden hat, was "liberale Demokratie" bedeutet? Diese Frage ist die Achse, um die sich "Unter Beobachtung" dreht, das neue Buch des Politikwissenschaftlers Philip Manow. Sie provoziert, weil sich der Autor wenig interessiert für die heroischen Ideale und ewigen Werte, die man üblicherweise anführt, um die populistische Gefahr zu beschwören. "Liberale Demokratie" ist für Manow eine konkrete, relativ neue Herrschaftsform. Und wer ihre Krise erklären will, muss verstehen, wem sie Macht verleiht - und wer in ihr das Nachsehen hat.

Der jüngst als Professor für Internationale Politische Ökonomie von Bremen nach Siegen gewechselte Autor setzt mit dieser Perspektivumkehr seine vorangegangenen Überlegungen fort. 2018 hatte er sich mit den wirtschaftlichen Entstehungsbedingungen links- und rechtspopulistischer Parteien in Süd- und Nordeuropa befasst, wo unterschiedliche Formen migrationspolitischer und ökonomischer Globalisierung jeweils verschiedene Forderungen nach Schließung hervorgebracht haben. Dass sich die infolgedessen entzündete Angst vor dem Untergang der Demokratie daraus erklären lässt, dass in den Medien und Parteien eine Vielzahl von Filtermechanismen und Gatekeepern weggefallen ist, und damit also die Möglichkeit, diese Forderungen einzuhegen, bildete die Hauptthese des darauffolgenden Buchessays. Aber auch hier blieben Fragen offen: Wieso prägt sich diese neue populistische Konfliktlinie so unversöhnlich aus? Wieso lässt sie sich nicht ohne Weiteres in die hergebrachten Formen parlamentarischen Parteienwettbewerbs einfügen, wie es etwa mit den Grünen gelungen ist?

Auf diese Fragen verspricht das neue Buch eine Antwort: Jene "liberale Demokratie", die in die Krise geraten ist, weil ihr in vielen Ländern eine neue populistische Fundamentalopposition entgegenschlägt, hat diesen Backlash selbst produziert. Seit den Neunzigerjahren, so Manows These, wurde der politische Raum in einem ungekannten Ausmaß verrechtlicht und konstitutionalisiert. Viele westeuropäische Länder führten Verfassungsgerichte ein und statteten sie mit der Kompetenz zur Kontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung aus. Insbesondere in Osteuropa, wo man sich nach dem Untergang des Sozialismus an dem bundesrepublikanischen Modell starker Verfassungsgerichtsbarkeit orientierte, erlebte die Judikative ungekannte Machtgewinne. Und diese Macht blieb - so Manows Schilderung - nicht ungenutzt. Um den ersehnten Beitritt zur Europäischen Union voranzutreiben und schließlich abzusichern, entwickelte sich etwa in Ungarn ein regelrechter Richteraktivismus: "Mithilfe des Rechts und der Aufsicht über das Recht durch Verfassungsgerichte versuchen diese Transformationsgesellschaften ihre Übergangsprozesse zu entpolitisieren und zu verregeln, ihnen somit Irreversibilität und Berechenbarkeit zu verleihen."

Verstärkt wird dieses Problem dadurch, dass die EU in ihren Verträgen eine Vielzahl ökonomischer und rechtlicher Bestimmungen absichert, die unter dem Erfordernis von Einstimmigkeit bei Vertragsänderungen quasi politisch sakrosankt sind. Dieser Umstand nimmt schließlich auch dem Europäischen Gerichtshof jede Scheu, sein Mandat exzessiv auszulegen und die "Integration durch Recht" auszuweiten und zu intensivieren - immerhin muss er schwerlich befürchten, von politischer Seite in die Grenzen gewiesen zu werden.

Diese Konstellation treibt irgendwann die Frage hervor: "Wer schützt eigentlich die Politik vor dem Recht?" Im Pathos des Menschenrechtsdiskurses und der allgemeinen Vorliebe für die vier Freiheiten des Binnenmarktes konnte man, so Manow, die Tatsache, "dass eine Aufwertung der Gerichte" zwangsläufig "mit einer Abwertung der Parlamente einhergeht" und damit "mit einer Abwertung der demokratischen Wahl", leicht vergessen. Doch diese Abwertung macht sich schließlich bemerkbar: Wenn der Raum des Politischen immer weiter zusammenschrumpft, können auch bestimmte neue politische Forderungen nicht parlamentarisch ausgetragen werden - und werden stattdessen in die Fundamentalopposition getrieben.

Diese Dialektik von Verrechtlichung und Radikalisierung ist überaus einleuchtend; ihr Gegenbild ist die integrative Kraft offen ausgetragener politischer Konflikte. Gerade deswegen ist es aber bedauerlich, dass das Buch nicht ausführlich darauf eingeht, welche konkreten Verrechtlichungen und Konstitutionalisierung als besonders problematisch gelten müssen - und wieso sie erst in jüngster Zeit die Kraft haben, ein Fünftel bis ein Drittel des Elektorats gegen die politischen Eliten zu mobilisieren. Man fragt sich schließlich, ob das beschriebene Entpolitisierungsproblem nicht noch über Rechtsfragen hinausreicht: Ist nicht auch die ungemein gestiegene internationale Kapitalmobilität ein wirksamer Bürge dafür, dass bestimmte politische Optionen als faktisch undenkbar gelten? Dass die allgemeine Globalisierungseuphorie in den Neunzigerjahren und das bis heute wirksame Dogma, es handle sich um einen eigentlich unumkehrbaren Prozess, ihren Teil zur Einbetonierung einer bestimmten Zukunftsvorstellung beigetragen haben, wird immerhin angedeutet.

Die im Buch geschilderten empirischen Beobachtungen sind für sich genommen nicht neu: Schon länger gibt es in der Rechts- und Politikwissenschaft Diskussionen zur Frage, ob es nach dreißig Jahren Konstitutionalisierung und Verrechtlichung auch zu viel Judikatur, zu mächtige Verfassungsgerichte geben kann. Ausgesprochen originell ist aber, wie Manow diese Entwicklung mit den Beobachtungsroutinen der politischen Öffentlichkeit verknüpft. "Liberale Demokratie", so die Pointe des Buches, ist kein Konzept, das sich aus universalen Prinzipien deduzieren ließe und nun im Grunde unverständlichen Anfeindungen ausgesetzt ist - wie es eine geläufige Entlastungserzählung will. Es handelt sich vielmehr um ein recht junges, konkretes institutionelles Phänomen, das - gerade in der EU - Stück für Stück Dinge vom politischen Tableau hat verschwinden lassen, um sie der Aufsicht wohlmeinender Richter zu übergeben. Der Populismus ist für Manow folglich "nicht der Gegner, sondern das Gespenst der liberalen Demokratie" - er ist der Wiedergänger der von ihr erstickten Politik.

In dieser Perspektive erscheinen auch die allgemeinen Warnungen vor dem Untergang der Demokratie in einem anderen Licht. Augenfällig wird, dass die meisten von ihnen sich um eine ganz bestimmte, liberale Variante derselben sorgen. "Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung." Weil man sich im demokratischen "Wertehimmel" aber nicht für den gewandelten institutionell-rechtlichen Körper der jeweiligen politischen Systeme interessiert, bleibt diese Besonderheit dem eigenen Urteil verborgen. Viele Krisendiagnosen sind deshalb eigentlich keine: Sie konstatieren bloß, dass dummerweise im rechten politischen Spektrum (und manchmal auch im linken) ein Gegner herangewachsen ist, der bekämpft werden muss. Was das mit der liberalen Demokratie selbst zu tun haben könnte, bleibt außerhalb des Horizonts oder scheint nur am Rande auf. Viele um die Gegenwart besorgte Bücher enden deshalb nicht selten mit der Forderung, "dass die richtigen Werte halt noch intensiver gelebt und noch nachdrücklicher vermittelt werden müssen".

Was wäre dagegen die Konsequenz von Philip Manows Beobachtungen? Das Buch hält sich mit praktischen Folgerungen fast vollständig zurück. Eine Entkonstitutionalisierung des Europarechts scheint in weiter Ferne zu liegen. In Deutschland weigert sich die Union bislang, die fiskalischen Grenzen, die die Schuldenbremse setzt, auch nur zu diskutieren. Vielleicht wäre aber schon etwas erreicht, wenn der Provokationscharakter von Manows Thesen die demokratische Öffentlichkeit nicht davon abhielte, die angebotene Perspektive versuchsweise zu übernehmen und zumindest ergänzend von Feindbeobachtung auf Selbstbeobachtung umzustellen. Vielleicht lernt man auf diesem Wege, wie man überhaupt zum Feind seines Feindes hat werden können. OLIVER WEBER

Philip Manow: "Unter Beobachtung". Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde.

Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 252 S., br., 18,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2024

Es geht hier um alles
Der Politologe Philip Manow fordert weniger Verfassungsrecht und mehr Macht für die Mehrheit.
Nur so sei unsere Demokratie noch zu retten. Im Gegenteil. Von Maximilian Steinbeis
Die liberale Demokratie jagt ihre Feinde so wie der Hund seinen eigenen Schwanz. Je mehr sie den politischen Raum mit verfassungsrechtlichen Institutionen, Bindungen und Kontrollverfahren vollstellt, desto mehr Widerstand löst sie damit aus. Und je mehr Widerstand sie auslöst und je mehr ihre Institutionen nun ihrerseits in politische Bedrängnis geraten, desto dringlicher erscheint es ihr, diese Kontrolle immer noch weiter auszubauen und die Schrauben immer noch weiter anzuziehen und sich immer weitere und mächtigere Institutionen mit immer noch weitreichenderen Sanktionsmöglichkeiten auszudenken. Was natürlich umso mehr Widerstand erzeugt, und damit umso mehr Kontrolle. So steigern sich verfassungsrechtliche Aktion und populistische Reaktion zu einem atemlosen Tanz um eine leere Mitte herum, der gar nicht anders enden kann als in Erschöpfung und Zusammenbruch, sofern es nicht gelingt, diese verschwendete Energie rechtzeitig auf ein produktiveres Ziel umzulenken, sprich: dem Hund einen Knochen hinzuhalten, auf dass er sich darauf besinnt, was in seinem eigentlichen (ökonomischen) Interesse ist.
Dies ist die Deutung, die der an der Universität Siegen lehrende Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem neuen Buch „Unter Beobachtung“ der aktuellen Krise der liberalen Demokratie angedeihen lässt. Wenn die liberale Demokratie nach Ursachen und nach möglichen Auswegen aus ihrer Krise suche, müsse sie bloß in den Spiegel schauen. Demokratie, so Manow, sei mitnichten so notwendig liberal, wie es sich der politikwissenschaftliche und politische Mainstream unserer Zeit selbst glauben mache. Sie sich nur als eine Ordnung vorstellen zu können, die von Verfassungsrecht und Verfassungsgerichten kontrolliert werde, sei ein relativ neues und interessengebundenes Phänomen. Wenn die Politik nun gegen diese Kontrolle aufbegehre, so Manow, dann habe sie das niemand anderem zuzuschreiben als sich selbst.
Zu einem globalen Standard ist die liberale Demokratie erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts geworden, in der Epoche der Demokratisierung in Ostmitteleuropa, Lateinamerika und anderenorts. Erst im Zuge dieses Prozesses wurde die Verfassungs-Verrechtlichung der Demokratie zum Maßstab einer erfolgreichen Demokratisierung. Nach dem Kollaps der kommunistischen und autoritären Diktaturen erschien ein robustes und durchsetzungsfähiges Rechtssystem, bewacht und ausgestaltet von selbstbewussten Verfassungsgerichten, als notwendiges Mittel, um die Transformation zu ermöglichen und zu verstetigen. Außerdem sollte es den Parteigängern der vormaligen Autokraten unproblematischer erscheinen, sich überstimmen zu lassen.
Der Preis dafür war, dass die Liberalisierung als politisches Programm politisch kaum mehr herausforderbar war. Zudem waren die, die dieses Programm von der Richterbank herab maßgeblich durchsetzten, als politische Akteure nicht mehr benenn- und bekämpfbar, ohne die Institutionen der Verfassung selbst zum politischen Gegner zu erklären. Mit anderen Worten: Der Preis der Liberalisierung ist der autoritäre Populismus, von Viktor Orbán über Giorgia Meloni bis zur AfD.
Dieser Zusammenhang, so Manow, gerate aus dem Blick, wenn man die liberale Demokratie zu einem zeitlos und über alle politischen Gegensätze hinweg gültigen „Wert“ verklärt. Also zu einem idealen Ziel stilisiert, das man nie ganz erreicht, dem man sich aber annähern kann, wenn man nur fleißig die richtigen Institutionen installiert. Es ist auch nicht falsch, dass Teile der Politikwissenschaft und die von ihr angeleitete Politik wirklich glauben, exakt messen zu können, welche Fort- und Rückschritte alle möglichen Staaten auf dem Weg zum Ideal verzeichnen. Der stumpfen Checklisten-Metrik, der ihre oft Überlegungen folgen, widmet Manow die stärksten Passagen seines Buches. Die liberale Demokratie ist in der Tat kein idealer Wert. Sie ist nicht das, was eintritt, wenn sich nur endlich Vernunft und Redlichkeit durchsetzen, als End- und Ruhezustand einer wohlgeordneten politikbefreiten Gesellschaft. Mit diesem technokratischen Lehnstuhltraum räumt Manow voll beißendem Sarkasmus auf.
Wenn man sich mit Manow den autoritären Populismus aber als „Gespenst“ der liberalen Demokratie erklärt, was folgt daraus dann für den Umgang mit ihm? Erledigt sich der ganze Spuk von selbst, sobald die Demokratie nur endlich aufhört, notwendig immer auch liberal sein zu wollen? Weniger Verfassungsrecht und weniger Verfassungsgerichte, mehr Mehrheit und mehr Politik, und schon lassen wir mitsamt der liberalen Demokratie auch ihre aktuelle Krise hinter uns?
Die prägnante Definition des polnisch-amerikanischen Politologen Adam Przeworski lautet: Demokratie heißt, dass Parteien Wahlen verlieren. Mehrheiten werden zu Minderheiten und umgekehrt, und solange das so ist, hat niemand Interesse daran, seine Mehrheitsmacht zu Dingen missbrauchen, die man sich selbst als Minderheit nicht gern zufügen lassen würde. Man lässt sich also überstimmen. Man muss sich nicht dauernd in allem einig werden, ob aus Einsicht oder unter Zwang. Man kann dagegen bleiben. Verschieden bleiben. Frei bleiben. Um das zu leisten, muss eine Demokratie tatsächlich nicht notwendig so liberal sein, wie wir das heutzutage gerne glauben.
Nur zählt es, und das kommt interessanterweise in Manows Analyse so gut wie überhaupt nicht vor, zu den Kennzeichen der autoritär-populistischen Feinde der liberalen Demokratie, dass ihnen eines in bemerkenswertem Umfang abgeht: die Bereitschaft, Wahlen zu verlieren. „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein“, sagte Viktor Orbán, nachdem er 2002 nach seiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident abgewählt worden war. Donald Trump ließ lieber das Kapitol stürmen, als zu akzeptieren, dass die Präsidentschaftswahl in den USA 2020 ein anderes Ergebnis produziert hatte als die Affirmation seiner Macht, und Jair Bolsonaro 2023 in Brasília ebenso.
Die Verfahren und Institutionen der Demokratie sind aus Sicht der autoritären Populisten dazu da, dem „wahren Volk“, das sie zu repräsentieren vorgeben, einen Spiegel hinzustellen. Die Demokratie hat dem „wahren Volk“ ein Abbild seiner selbst zu liefern, in dem es sich erkennen, von Minderheiten, Linken und anderem Kroppzeug unterscheiden und seiner Identität versichern kann. Wenn sie dieses identitäre Spiegelbild nicht liefert, dann stimmt mit ihr etwas nicht, und umso lauter fordern die autoritären Populisten die Macht für sich, die Demokratie zu reparieren, auf dass sie wieder liefert, was sie liefern soll.
Solange sie nicht an der Macht sind, nutzen sie ihre Oppositionsrolle und -rechte, um Entscheidungen zu blockieren, Verfahren zum Entgleisen zu bringen, Institutionen zu zerstören. Sie tun also alles dafür, um ihre Behauptung, dass mit dieser Demokratie etwas nicht stimmt, nach Kräften plausibel zu machen. Sobald sie jedoch selbst an die Macht gelangen, wird diese Macht dafür benutzt, die Demokratie zu einem identitären Spiegelkabinett umzubauen, das zuverlässig nur noch ihr eigenes Recht zur Herrschaft reflektiert. Wer immer in ihrem Land dann noch Wahlen verliert, sie sind es jedenfalls nicht mehr. In Ungarn ist das seit 2010 Realität, in Italien passiert es gerade – und in den USA könnte es schon in wenigen Monaten so weit sein.
Das zentrale Instrument dieser Strategie ist das Verfassungsrecht: mit den Mitteln des Rechts wird das identitäre Spiegelkabinett errichtet und perfektioniert. Und genau das macht es notwendig, die Institutionen, die Recht setzen und sprechen, unter Kontrolle zu bringen: die Gerichte, die supra- und internationalen Bindungen, die Verfassungsjustiz. Wenn der autoritäre Populismus mit diesen Institutionen in Konflikt gerät, dann nicht deshalb, weil sie die Spielräume für majoritäre Politik eng machen. Er gerät mit ihnen in Konflikt, weil sie der autoritären Machtergreifung im Wege stehen. Um es also noch einmal ganz klar zu sagen: Es geht in diesem Konflikt nicht um die liberale Demokratie. Es geht um die Demokratie überhaupt.
Das fehlt in Philip Manows Analyse. Teilweise hat man den Eindruck, er weiche der Erkenntnis dieser Zusammenhänge aktiv aus. So etwa, wenn er Kim Lane Scheppeles Forschung zu Viktor Orbáns autoritären Umbau der ungarischen Verfassungsordnung als unwissenschaftliche „Verschwörungstheorien zweiter Ordnung“ herabzuwürdigen versucht.
Als ob es dabei darum ginge, Orbáns finstere Motive aufzudecken statt seiner Techniken. Mit seinem Liberal-illiberal-Aktions-Reaktions-Schema macht Manow stattdessen die Institutionen des liberalen Rechtsstaats, die für die Resilienz der Demokratie gegenüber der autoritär-populistischen Strategie entscheidend sind, zu einer Ursache und damit zu einem Teil des autoritär-populistischen Problems. Zu dessen Erklärung trägt das nur ziemlich wenig bei – und zu dessen Lösung überhaupt nichts.
Gerichte stehen
der autoritären
Machtergreifung im Wege
Garanten der liberalen Demokratie – oder ein allzu selbstbewusster Kontrolleur der Politik? Rote Roben im Hinterraum des Sitzungssaals des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.
Foto: Uli Deck / dpa
Maximilian Steinbeis wurde 1970 in München geboren. Er ist Jurist und Chefredakteur des hochgelobten „Verfassungsblogs“ sowie Initiator des viel beachteten „Thüringen-Projekts“, bei dem es um die Erforschung der Resilienz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht.
Foto: Friedrich Bungert
Philip Manow: Unter Beobachtung – Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde.
Suhrkamp, Berlin 2024.
252 Seiten, 18 Euro.
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