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Dagmar Leupolds Kammerspiel mit Liebhaber
Minna, die Heldin von Dagmar Leupolds neuem Roman, ist knapp über fünfzig, Single und ohne feste Beschäftigung. Damit ist fast schon alles gesagt. Kommt freilich noch hinzu, dass sie als "Frühchen" auf die Welt kam, mit einem verkürzten Finger obendrein und also mit einem Fehlbedarf an Glück, den aufzuholen unmöglich scheint. Ein Motto aus Laurence Sternes "Tristram Shandy", das vor Nachlässigkeiten beim Zeugungsgeschäft warnt, bekräftigt die früh gestiftete Misere. Das kann nicht gutgehen. Dennoch sollte man Minna nicht unterschätzen. Ein Wohnungsnachbar stellt ihr ein gutes Zeugnis aus: der Körper drahtig und wendig, unerschrocken die Person. "Witzige Erzählerin, scharfe Beobachterin. Neigung zu altklugen Bemerkungen. Am Ende Tränen." Er hat in allem recht. Leider macht er seine Bemerkung erst, als er die Nachbarin tot - allerdings so wie Dornröschen - auf ihrem Bett vorfindet. Das geschieht am Anfang des Romans, ihr hinterlassenes Manuskript ist der Roman.
Die Konstruktion, literarisch so alt wie Laurence Sterne, bringt ein paar Schwierigkeiten mit sich. Wie versteckt man die Arbeit an einem Roman in diesem selbst? Die Existenz eines Manuskripts wird nie so recht deutlich, natürlich auch nicht der Schreibvorgang. Nichts also von der Schriftstellerexistenz und ihren Mühen. Stattdessen erleben wir einen kargen Elfenbeinturm in einem städtischen Nirgendwo, das zufälligerweise München heißt, wenige ungeregelte Tätigkeiten - "ich bewirke nichts, ich arbeite nur" -, eigentlich nur ein paar Nachhilfestunden, Wohnungsaufsichten, Korrekturlesen und ein beängstigend zartes Lebensgewebe, das aus kaum einer Handvoll Personen besteht.
"Die Gier nach Stoff" - das ist ein vielsagender Seufzer. Dagmar Leupold hat ihn ihrem Kleist in den Mund gelegt, den sie in einer Art Totengespräch mit Ulrike Meinhof verwickelt. Der gleichwohl monologische Roman, in dem dies geschieht ("Die Helligkeit der Nacht", 2009), greift nach repräsentativen Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart, doch sie bleiben Sprachrohre eigener Befindlichkeiten. Ein anderer Versuch, sich fremde, opake Wirklichkeit zu eigen zu machen, war Leupolds Roman über ihren Vater im Krieg ("Nach den Kriegen", 2004). Doch die Sättigung mit Realität, Merkmal des klassischen Romans, will nicht recht gelingen. Die Erfahrungen des eigenen Ich bleiben das schmale Reservoir, aus dem diese Autorin schöpft, die nicht von ungefähr auch als Lyrikerin hervorgetreten ist. Umso heikler der "Zweifel an der Biographie", den einer ihrer wohltuend klaren Essays behandelt, der Zweifel an der "Geschichtshaltigkeit" des literarischen Subjekts, dem, so scheint es, jede platte Fernsehgröße den Rang abläuft. "Ich glaube an Begabung, und ich glaube an Zeitgenossenschaft", hält sie fast trotzig dagegen.
Minna gehört zur Familie der Melancholiker - damit ist für ihre Begabung gesorgt. "Durch mich läuft ein Schwarz wie Tinte", sagt sie, und sie weiß, dass sich mit dieser Tinte gut schreiben lässt (bevor es den PC gab). Mit gläserner Haut sei sie zur Welt gekommen, zerbrechlich und durchsichtig - auch dieser kapriziöse Wahn gehört zur Symptomatik der Melancholie. Sie liebt Wortspiele, die "Zungenfertigkeit der Worte", besonders solche mit dem Wort "Schwarz": sie sei in die schwarze Grube gefahren, sie verrichte Schwarzarbeit, sie fährt nach Schwarzort. Aber sie weiß auch, dass sich "Schwarzgalligkeit" kurieren lässt. Minnas Manuskript ist eine solche Kur.
Es beginnt nach einem ersten Suizidversuch in einer toskanischen Reha und mit einem merkwürdigen italienischen Mäzen. Vico heißt er, verdient viel Geld mit Abfallwiederverwertung und besticht durch einen zusätzlichen Zahn, einen "Löwenzahn". Er möchte Minna zu einer "Glücksmissionarin" machen, aber wie? Wieder zu Hause, erlebt sie das Übliche. "Auf dem Küchentisch vor mir die vertrauten Gegenstände ..." Fernsehen und Wein. Der Liebhaber Franz, den sie beim Neurologen kennengelernt hat. Minna und ihr Körper "eine einzige Vermisstenanzeige", ohne Wärme, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Frohsinn. Das alte Lied kann also wieder beginnen? "Immerhin kein Geld ausgegeben heute und niemanden gekränkt", sagt sie nach einem solchen Tag.
Und doch ist etwas geschehen, das ihr Leben in eine andere Richtung lenkt - leise, unspektakulär, zufällig. "Unter der Hand" nennt der Romantitel das, Minna will von Zufall nichts wissen, sie selbst sei der "Agent", aber Genaueres weiß auch sie nicht. Sie ist Lotte Schuchardt begegnet, an einer Bushaltestelle, einer älteren Frau, die sie schon häufig gesehen hat, einer Ostpreußin, wie sie im Buche steht. Und Minna nimmt die Bekanntschaft an, besucht die über Achtzigjährige, hört ihre Geschichte, steht ihr bei, als ein Schlaganfall sie trifft, ist für sie da, wie eine Tochter. "Ich bin ... in ihr Leben getreten" - sie lernt buchstäblich, was das heißt.
Und auf einmal füllt sich der Alltag rundum mit Leben. Der iranische Nachhilfeschüler ruft Neugier und Anteilnahme wach und wird zur Person. Am wichtigsten natürlich: Heinrich, ein neuer Liebhaber, erscheint, diesmal der richtige. "Von allen Maßnahmen die schönste", sagt sie, als sie die Arme um ihn legt. Und wo bislang nichts als Labilität war, ist auf einmal alles "im Lot". Endlich Wärme, nachdem sie einundfünfzig Jahre gefroren hat.
Dagegen kommt die schwarze Galle nicht mehr an. Und Glück wirkt offenbar ansteckend, es breitet sich aus, erfasst den ganzen kleinen Lebenskreis Minnas. Die traurigen Solitäre werden zu einer Art Familie, die zusammen kocht, Mahlzeiten einnimmt, Ausflüge macht - bis hin zu einer Bahnfahrt nach Salzburg, die wie ein Opernfinale alle Figuren versammelt. Wo sonst Gram war, kehrt eine neue Überschwänglichkeit ein. "Lebensentzücktheit": Was für ein freundliches Wort, das sich da zuletzt im Gesicht der alten Ostpreußin spiegelt. Literarischer Takt sorgt freilich dafür, dass sich in das Ende kräftige Molltöne mischen.
Wie Dagmar Leupold das macht, wie ihr Roman sich "unter der Hand" aufhellt und die schwarze Misere hinter sich lässt, das hat Geschmack und Stil. Routiniertes Romangeplapper gibt es bei ihr nicht. Auch braucht sie nichts Grelles, Wildes, Extremes, um sich Gehör zu verschaffen. Wache und wortgewitzte Aufmerksamkeit für das Alltägliche rundum, das ist das Pfund, mit dem sie wuchert. Kammermusik in Romanform. Aus einem schönen Essay weiß man, dass ihr bei den Nöten des Schreibens Musik beisteht. Man möchte annehmen, dass es diesmal Haydn gewesen ist.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Dagmar Leupold: "Unter der Hand". Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013. 289 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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