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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Mutter platzt vor Eifersucht auf ihre Tochter, eine Gruppe von Jugendlichen verliebt sich kollektiv in eine Nachbarin, ein selbst ernannter Rächer lockt den Geliebten seiner Freundin in eine Falle: Mojca Kumerdej seziert die Abgründe unseres Zusammenlebens. Ein Band mit Kurzgeschichten stellt die brillante slowenische Autorin vor.
Von Tilman Spreckelsen
Von Tilman Spreckelsen
Du bemerkst es nicht, wenn ich dich heimlich beobachte", so fängt eine Geschichte von Mojca Kumerdej an, und so beunruhigend klar damit eine Situation im Zusammenleben eines Paares beschrieben ist, so irritierend ist diese Anrede, dieses "du". Denn die Erzählerin adressiert, was sie sagt, an ihren Ehemann, sie beschwört die Anfänge ihrer Liebe herauf und fragt, welcher "Defekt", so der Titel der Erzählung, in der Beziehung entstanden ist und wann das geschah. Sie erinnert an den Prozess der Gewöhnung im Verlauf von zwanzig Jahren, an die wechselseitig schwindende Aufmerksamkeit für den anderen, je reibungsloser sich der Alltag innerhalb der Familie einspielte, und an eine Affäre, ihren "einzigen Versuch, mich aus dem Griff der Dumpfheit zu befreien".
Nun schaut sie zu, wie sich ihr Mann im Badezimmer bewegt und sich dabei, wie sie glaubt, der eigenen Attraktivität versichert. Dass er sie verlassen will und sich schon die Worte dafür zurechtlegt, weiß sie genau, er wird davon sprechen, dass die Liebe zwischen ihnen erloschen sei: "Sag nicht, dass du das nicht gemerkt hast, wirst du sagen, sag, dass du für mich schon lange so gut wie nichts empfindest."
Wird er das sagen? Die Ehefrau ist beredt, sie weiß sich auszudrücken, nur dass offenbar kein Wort dieser Suada über ihre Lippen kommt, trotz der Anrede. Denn indem sie penibel auseinandernimmt, wohin es mit der Partnerschaft gekommen ist, indem sie mit großer Sicherheit die fortgesetzte Untreue ihres Mannes feststellt - sie hat ein schulterlanges schwarzes Haar im Auto gefunden -, weiß sie, dass sie sich "schon auf dem Schlachtfeld" befindet, auf dem einmal über das Ende dieser Ehe verhandelt werden wird, und dass ihr strategischer Vorteil darin besteht, dass ihr Mann sich noch unentdeckt wähnt. Wir Leser aber, konfrontiert mit diesem geschlossenen, durch keinen Widerspruch erschütterten Konstrukt, denken uns unseren Teil, sicher nicht gegen den Willen der klugen Autorin.
In ihrer slowenischen Heimat ist Mojca Kumerdej, Jahrgang 1964, längst eine der wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur, international wurde sie durch zahlreiche Übersetzungen ihrer Texte bekannt. Aufenthaltsstipendien führten die studierte Philosophin unter anderem nach Russland, Mexiko und Berlin. Ihr Roman "Chronos erntet" von 2016 erschien drei Jahre später in Erwin Köstlers Übersetzung auf Deutsch, für einige Texte in Kumerdejs Sammelband "Unter der Oberfläche", der nun zum slowenischen Gastlandauftritt im Rahmen der Frankfurter Buchmesse publiziert worden ist, steuerte Köstler weitere Übertragungen bei; die übrigen stammen von so berufenen Übersetzern aus dem Slowenischen wie Fabjan Hafner, Liza Linde und Karin Almasy.
Die dreizehn Erzählungen sind im Original innerhalb eines Zeitraums von knapp zwanzig Jahren erschienen: fünf von ihnen 2003, weitere fünf 2011 und die übrigen erst im vergangenen Jahr. Zusammen mit "Chronos erntet" liegt nun ein Querschnitt durch ein Werk vor, dessen Autorin immer wieder und immer neu fragt, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir uns über das verständigen, was wir teilen, wie sich unsere Perspektiven sogar dann unversöhnlich gegenüberstehen, wenn wir dieselben Worte benutzen. Und damit auch wir.
Das heißt nicht, dass Kumerdejs Figuren sich nicht nach Nähe sehnten. Für manche von ihnen ist diese Sehnsucht derart beherrschend, dass sie jedes Maß verlieren, bereit, alles dafür zu opfern. In der Erzählung "Der Schutzengel" erzählt ein Stalker von der mit Abscheu gemischten Faszination, die er für eine Frau empfindet, deren Wohnblock er von seinem Büro aus sehen kann. Dabei belässt er es nicht, er findet ihren Namen heraus, folgt ihr und dringt in ihrer Abwesenheit über die offene Balkontür in ihre Wohnung ein. Er ekelt sich angesichts der Unordnung in ihren Räumen, mokiert sich über die Sorglosigkeit, die sie an den Tag legt, und schwelgt in Unterwerfungsphantasien.
Ein anderer Protagonist, ein jüngerer Mann, erzählt in "Der Rächer", wie er dem bisexuellen Geliebten einer guten Freundin, der sie schlecht behandelt, eine Falle stellt, ihn verführt und abrupt verlässt, bevor es ernst wird. Der Geliebte soll, findet der junge Mann, auf dieselbe Weise leiden, wie er die Freundin leiden ließ. Den Grund für seinen aufwendig inszenierten Rachefeldzug, seine Liebe zu jener Freundin, gesteht er sich schließlich ein. Was er dagegen auch vor sich selbst verbirgt, ist die sexuelle Anziehung, die das Opfer seiner Intrige, der untreue Geliebte, auch auf ihn ausübt.
Und schließlich die Erzählerin der so sanften, dabei ungeheuerlichen Titelgeschichte des Bandes "Unter der Oberfläche", die enthüllt, wie sie sich nach der Geburt ihrer Tochter allmählich von dem Kind aus dem Herzen ihres Mannes verdrängt fühlte. Als sich die Gelegenheit ergibt, an einem Tag am Meer durch schieres Nichtstun den alten Zustand wiederherzustellen, widersteht sie nicht.
Die Eifersucht, die in Kumerdejs frühen Geschichten die Erzählerinnen und Erzähler antreibt, die Sucht danach, den anderen auf verborgene Weise zu kontrollieren, bekommt ihre besondere literarische Färbung, weil - wie in "Defekt" - auch hier die Adressaten diejenigen sind, um die es in den Texten geht, und auch ihnen dennoch der Inhalt der an sie gerichteten Reden verborgen bleiben wird. Warum die Erzählerin von "Unter der Oberfläche" nicht schwimmen geht? "Den wahren Grund wirst du nie erfahren." Dass er sie liebt, kann der Erzähler von "Der Rächer" seiner guten Freundin erst sagen, wenn das Telefonat mit ihr zu Ende ist und er den Hörer aufgelegt hat. Und in "Der Schutzengel" ist sich der Stalker sicher, "dass du keine Ahnung hast, dass ich überhaupt existiere".
Die schrankenlose Offenheit, mit der hier erzählt wird, ist, so das den Texten zugrundeliegende Paradox, eng mit der größten Diskretion verbunden. Die Protagonisten sagen "du" und verschließen den Mund, das Bekenntnis bleibt lautlos, der Entschluss, endlich die Wahrheit zu sagen, hat keine Folgen. Dass diese Wahrheit freilich sehr subjektiv eingefärbt ist, teilt sich ebenso mit wie der Drang der Erzähler, sich selbst von etwas zu überzeugen, das der näheren Betrachtung nicht standhält. Schicht für Schicht häuten sie sich in ihren Berichten, ohne das eigentlich zu wollen, sie bringen an die Oberfläche, was sie sonst verborgen halten, aber trotz des Gestus der Selbsterkundung und Analyse verändert sich ihr Blick in der Regel nicht.
Dabei gäbe es durchaus die Gelegenheit, die eigene Perspektive mit den anderen abzugleichen. Was ist das für eine Person, jene "Marija auf der Terrasse", die so nachhaltig die Phantasie der pubertierenden Jungen in der Hochhaussiedlung beschäftigt? Die Kinder beobachten sie, drängen sich ihr auf, um ihr die Einkäufe in die Wohnung zu tragen und dabei das zu inspizieren, was sie sonst nur aus der Ferne observieren, registrieren durchaus die vielen Flaschen und die häufigen Besuche, die beunruhigenden Geräusche, die von ausufernden Festen künden und vielleicht auch von Gewalt gegen Marija.
Die Verehrung, die jene Jungen ihr entgegenbringen, ist kostbar und kaum in Einklang zu bringen mit den abfälligen Kommentaren der Erwachsenen. Am Ende ist Marija tot, ob von eigener oder fremder Hand bleibt offen, die Jungen von ehedem aber werden viele Jahre später feststellen, dass sie die Erinnerung an Marija nicht loswerden und die Tote in einer Wildfremden wiederfinden, nur dass sie jetzt dasselbe Alter hat wie ihre erwachsen gewordenen Verehrer.
Kumerdejs Instinkt für Kommunikation, die an sich selbst scheitert und den Zugang zur Realität geradezu erschwert, ist ausgeprägt, und besonders im Roman "Chronos erntet" stellt sie dar, wie Sprache eingesetzt wird, um etwas zu verschleiern oder Gewalt auszuüben. Dazu gehört, dass die Autorin einer ganzen Reihe von Stimmen die Bühne bereitet, dass sie etwa die Bewohner eines Dorfes wie einen Chor sprechen lässt, aus dem aber immer wieder auch die Stimmen Einzelner herauszuhören sind. Bedrohlich wird das in diesem historischen Roman, der um das Jahr 1600 im ländlichen Slowenien spielt, wenn sich auf diesem Weg Gerüchte zu scheinbaren Gewissheiten verdichten, aus der Witwe eines gewalttätigen Müllers seine Giftmörderin wird und aus dem plötzlichen Wohlstand eines Bauern der Lohn für ein Teufelsbündnis. Und wenn in Kontroversen Argumente wie "Der Glaube ist mein Beweis" angebracht werden, dann führt das in einem nächsten Schritt zu einem Wettstreit der Überzeugungen, in dem die bessere Erzählung zum Sieg führt, während das wissenschaftliche Denken in dieser Form der Entscheidungsfindung nur wenig zu melden hat: "Das Volk, wie du weißt, kennt keine Gnade", heißt es einmal und: "Vergiss nicht, dass das Volk Augen hat, die auch mit geschlossenen Lidern spähen."
Dabei bleibt es nicht. Denn die Autorin stellt dieser Gruppe, die gnadenlos späht und unbeirrt von der Empirie urteilt, eine Erzählinstanz gegenüber, die das Kollektiv direkt anspricht: "Nein, nein, ist schon gut, Volk", sagt sie, wenn ihre Überlegungen zur Genese des Kosmos auf Unverständnis und aufgeregtes Nachfragen stoßen, "du musst dich nicht damit abmühen und plagen", und da der Roman zur selben Zeit spielt, in der Giordano Bruno für seine kosmologischen Ideen verbrannt wird, kann man in diesem Rückzug des Erzählers vor den Figuren des eigenen Romans auch einen respektvollen Hinweis auf die Gefahr sehen, die solche Gedanken für den bedeuten, der sie äußert.
Natürlich zielen solche Passagen des Romans aus der frühen Neuzeit auf unsere Gegenwart, so wie auch die bisweilen zeitlich und fast immer räumlich unbestimmten Erzählungen im Band "Unter die Oberfläche" über die konkreten Konstellationen hinausweisen. Und wenn in "Der Nussbaum", einer der jüngsten Geschichten des Bandes, dann doch der Gegensatz zwischen der ländlichen slowenischen Gesellschaft und der Hauptstadt anklingt, dann schlägt die Autorin eine atemraubende Volte zurück zu ihrem Thema der Kommunikation und dazu, wie man aus den besten Absichten heraus das größte Unheil anrichten kann: indem man etwas aufdeckt, das besser verborgen geblieben wäre.
Mojca Kumerdej: "Unter die Oberfläche". Erzählungen.
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler, Liza Linde, Karin Almasy und Fabjan Hafner. Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 260 S., geb., 23,- Euro.
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