Vorsichtig schauend, tastend, sich der Dinge erst vergewissernd, unternimmt Peter Handke es, über zwei Jugoslawien-Durchquerungen während des Krieges zu sprechen. Sein Text, dessen beide Teile jeweils unmittelbar nach den Reisen entstanden sind, zeigt ihn als genauen Beobachter, als einen poetischen Beschwörer der kleinen Ereignisse, als Mitleidenden mit den Menschen an den Orten des Geschehens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2000Wem die Standuhr schlägt
Die vielen Töne des Peter Handke · Von Thomas Wirtz
"Du kannst nicht auf Dauer Feind deiner Zeit bleiben." Peter Handke, so will es dieser selbstmahnende Satz glauben machen, ist in der Gegenwart angekommen: als einverständiger Zeitgenosse und unser aller Augenblicksteilhaber. Obwohl ein resignierender Ton mitschwingt, weil der ausgezeichnet einsame Widerstand nicht länger weiterzuleben ist, scheint der Satz sich über seine Kapitulation zu trösten: Vorbei soll es sein mit der versuchten Dauermüdigkeit, vorbei mit poesievoller Wiederholung und Leere, vorbei mit der Stille eines geglückten Tags. Mit geöffneten Augen, so sagt es der Satz, wolle er nun vorangehen, ein Schritt haltender Freund der Zeit, Arm in Arm mit allen gemeinsamen Stunden: Peter Handke, ein Zeitmitläufer. Was für eine Überraschung! Was für ein Schrecken!
Wer nun fürchtet, der bisher unbewegte Dichter, der Standuhrmensch Peter Handke, lebe in nachbarschaftlichem Schulterschluss mit der Gegenwart, habe sein Reihenhaus neben anderen Tagesgeschäftlern bezogen, der irrt zum Glück. Denn Handke hat die Zeitrechnung ohne sein Ich gemacht. Das Ich, das mit den anderen Reihenhäuslern samstäglich Rasen schneiden will, hat nichts gemein mit dem Juke-Box-Ich, dem Ich-bin-aller-Gegenwart-Feind-Ich. Beide teilen keine Jägerzaungrenze, denn beide reden je für sich an himmelweit getrennten Orten. Es gibt nicht den einen Peter Handke, der verlautbarend für alle diese Handkes sprechen darf, keinen Anmaßer, der das große Wort in aller anderen Rede schwingt. Peter Handke lässt sich von niemandem dreinreden, nicht einmal von sich selbst. Und das ist gut so.
Denn der Verlautbarungs-Handke ist laut und ein wenig arg vulgär, er ist, wie der andere, stille Handke in seinem Buch "Am Felsfenster morgens" geschrieben hat, "blind vor Absicht". Der pöbelnde Handke ist ein Prolet des gesprochenen Worts, ein Selbstvergröberer, dem keine Zote zu derb ist, als dass man ihr nicht noch ein wenig Dreck hinterherwerfen kann. Sein Interview-Extemporieren über den "Bundesheerkretin", der "eine goldene Schokolade auf seine Fresse bekommen" hat, "weil er einen angeblichen Heckenschützen umgebracht hat", ist ein solches Schimpfschleudern. Dafür schämt sich der stille Handke schon immer vorauseilend, weil er dem anderen nicht den Mund verbieten konnte: "Im Reden tue ich, fast immer, etwas, was ich nicht bin." Dann steht die Zote trotzig und entfremdend zwischen beiden, lässt sich nicht aus der skandalisierten Welt schaffen, und der eine Peter Handke ist mit sich so uneins, dass einen das Erbarmen anfällt und man nicht weiß, wohin man schauen, hören oder lesen soll.
Vielleicht in das jüngste Buch "Unter Tränen fragend", das einer Bußübung für alle vorherigen Anzüglichkeiten gleichkommt, einem geduldigen Wiedererlernen des viel sagenden Schweigens. Es erzählt von den beiden Fahrten, die Handke im April des letzten Jahres am Beginn des Kosovo-Kriegs nach Serbien unternommen hat. Eigentlich, so könnte man nach dem ersten Lesen meinen, gibt es darin nur wenig, das nicht schon aus der "Winterlichen Reise" bekannt wäre: die Autofahrt durch eine uralte Gedächtnislandschaft, das Horchen auf die unendlich langsamen geologischen Verschiebungen, die der politischen Hast auf der Erdoberfläche keine Ruhe mehr geben können, das Lob der serbischen Gastfreundschaft, die Klage über das zerfallene Neunte Land, das Einsinken des Schreckens in Bombenkratern. All das ist vertraut von früheren Pilgerfahrten in das Land der Kindheit, von Zeitreisen in eine ungeschiedene Welt. Und doch hat sich in den Nuancen, die Handke zu lesen gelehrt hat, etwas verändert.
Wohltuend blasser geworden ist das Selbstbildnis vom Reisenden als Märchenheld, der ausgezogen war, das träumende Sehen zu lernen. Diese Poetik des Einsammelns unverbrauchter Dinge, die mit dem Anachronismus ein wenig kokettierte und sich zuweilen einen künstlichen Bart vorband, ist verschwunden. Und verloren hat sich der Sirenenton der Medienschelte, der so penetrant wie manche der beanstandeten Schlagzeilen war. Zwischen gedämpfter Selbstverzauberung und beruhigter Zeitungslektüre tritt nun eine intensive Gelassenheit hervor - "Dramatisiere nicht" -, die diesem Buch seine unscheinbare Dauer geben wird. Die etwas beklommene Weinerlichkeit des Titels verliert sich dann im ausgenüchterten Bericht.
Dieser Peter Handke braucht keine verlegenen Anhänger, weil er Leser haben wird. Überwunden ist damit der Irrtum, Gegenwärtigkeit mit dem schrillen Kommentar zu verwechseln. Wer etwas auf Literatur hält, sollte sich an den Peter Handke des Buchs halten und den anderen, mikrofonfressenden überhören. Nur so verdient Handkes Satz seine Unbescheidenheit und wird zur Wahrheit: "Es war ein Moment der Weltgeschichte, und ich habe diesen Moment für immer schön gemacht."
Peter Handke: "Unter Tränen fragend". Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 158 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die vielen Töne des Peter Handke · Von Thomas Wirtz
"Du kannst nicht auf Dauer Feind deiner Zeit bleiben." Peter Handke, so will es dieser selbstmahnende Satz glauben machen, ist in der Gegenwart angekommen: als einverständiger Zeitgenosse und unser aller Augenblicksteilhaber. Obwohl ein resignierender Ton mitschwingt, weil der ausgezeichnet einsame Widerstand nicht länger weiterzuleben ist, scheint der Satz sich über seine Kapitulation zu trösten: Vorbei soll es sein mit der versuchten Dauermüdigkeit, vorbei mit poesievoller Wiederholung und Leere, vorbei mit der Stille eines geglückten Tags. Mit geöffneten Augen, so sagt es der Satz, wolle er nun vorangehen, ein Schritt haltender Freund der Zeit, Arm in Arm mit allen gemeinsamen Stunden: Peter Handke, ein Zeitmitläufer. Was für eine Überraschung! Was für ein Schrecken!
Wer nun fürchtet, der bisher unbewegte Dichter, der Standuhrmensch Peter Handke, lebe in nachbarschaftlichem Schulterschluss mit der Gegenwart, habe sein Reihenhaus neben anderen Tagesgeschäftlern bezogen, der irrt zum Glück. Denn Handke hat die Zeitrechnung ohne sein Ich gemacht. Das Ich, das mit den anderen Reihenhäuslern samstäglich Rasen schneiden will, hat nichts gemein mit dem Juke-Box-Ich, dem Ich-bin-aller-Gegenwart-Feind-Ich. Beide teilen keine Jägerzaungrenze, denn beide reden je für sich an himmelweit getrennten Orten. Es gibt nicht den einen Peter Handke, der verlautbarend für alle diese Handkes sprechen darf, keinen Anmaßer, der das große Wort in aller anderen Rede schwingt. Peter Handke lässt sich von niemandem dreinreden, nicht einmal von sich selbst. Und das ist gut so.
Denn der Verlautbarungs-Handke ist laut und ein wenig arg vulgär, er ist, wie der andere, stille Handke in seinem Buch "Am Felsfenster morgens" geschrieben hat, "blind vor Absicht". Der pöbelnde Handke ist ein Prolet des gesprochenen Worts, ein Selbstvergröberer, dem keine Zote zu derb ist, als dass man ihr nicht noch ein wenig Dreck hinterherwerfen kann. Sein Interview-Extemporieren über den "Bundesheerkretin", der "eine goldene Schokolade auf seine Fresse bekommen" hat, "weil er einen angeblichen Heckenschützen umgebracht hat", ist ein solches Schimpfschleudern. Dafür schämt sich der stille Handke schon immer vorauseilend, weil er dem anderen nicht den Mund verbieten konnte: "Im Reden tue ich, fast immer, etwas, was ich nicht bin." Dann steht die Zote trotzig und entfremdend zwischen beiden, lässt sich nicht aus der skandalisierten Welt schaffen, und der eine Peter Handke ist mit sich so uneins, dass einen das Erbarmen anfällt und man nicht weiß, wohin man schauen, hören oder lesen soll.
Vielleicht in das jüngste Buch "Unter Tränen fragend", das einer Bußübung für alle vorherigen Anzüglichkeiten gleichkommt, einem geduldigen Wiedererlernen des viel sagenden Schweigens. Es erzählt von den beiden Fahrten, die Handke im April des letzten Jahres am Beginn des Kosovo-Kriegs nach Serbien unternommen hat. Eigentlich, so könnte man nach dem ersten Lesen meinen, gibt es darin nur wenig, das nicht schon aus der "Winterlichen Reise" bekannt wäre: die Autofahrt durch eine uralte Gedächtnislandschaft, das Horchen auf die unendlich langsamen geologischen Verschiebungen, die der politischen Hast auf der Erdoberfläche keine Ruhe mehr geben können, das Lob der serbischen Gastfreundschaft, die Klage über das zerfallene Neunte Land, das Einsinken des Schreckens in Bombenkratern. All das ist vertraut von früheren Pilgerfahrten in das Land der Kindheit, von Zeitreisen in eine ungeschiedene Welt. Und doch hat sich in den Nuancen, die Handke zu lesen gelehrt hat, etwas verändert.
Wohltuend blasser geworden ist das Selbstbildnis vom Reisenden als Märchenheld, der ausgezogen war, das träumende Sehen zu lernen. Diese Poetik des Einsammelns unverbrauchter Dinge, die mit dem Anachronismus ein wenig kokettierte und sich zuweilen einen künstlichen Bart vorband, ist verschwunden. Und verloren hat sich der Sirenenton der Medienschelte, der so penetrant wie manche der beanstandeten Schlagzeilen war. Zwischen gedämpfter Selbstverzauberung und beruhigter Zeitungslektüre tritt nun eine intensive Gelassenheit hervor - "Dramatisiere nicht" -, die diesem Buch seine unscheinbare Dauer geben wird. Die etwas beklommene Weinerlichkeit des Titels verliert sich dann im ausgenüchterten Bericht.
Dieser Peter Handke braucht keine verlegenen Anhänger, weil er Leser haben wird. Überwunden ist damit der Irrtum, Gegenwärtigkeit mit dem schrillen Kommentar zu verwechseln. Wer etwas auf Literatur hält, sollte sich an den Peter Handke des Buchs halten und den anderen, mikrofonfressenden überhören. Nur so verdient Handkes Satz seine Unbescheidenheit und wird zur Wahrheit: "Es war ein Moment der Weltgeschichte, und ich habe diesen Moment für immer schön gemacht."
Peter Handke: "Unter Tränen fragend". Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 158 S., geb., 32,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
In einer sehr ausführlichen Rezension versucht sich Ina Hartwig mit fairen Mitteln Handkes Bericht seiner zweiten Jugoslawienreise zu nähern, obwohl ihr manchmal anzumerken ist, wie schwierig sie dies findet. Nicht, dass es ihr an Argumenten fehlt, aber wie will man einem "hasserfüllten Bewohner eines Elfenbeinturms", der allerorts nur Feinde wittert, mit Argumenten begegnen? So stellt sie zunächst den Unterschied zu Handkes erstem Serbienberichts heraus: Damals habe Handke vor allem den westlichen Medien einseitige Berichterstattung vorgeworfen. Diesmal präsentiere er sich jedoch zunehmend als "Kriegsdeuter", der sich auch mit Partisanen beschäftigt. Dabei wirft Hartwig ihm eine unangebrachte Vermischung von Partisanentum im Zweiten Weltkrieg und den Geschehnissen während des Kosovo-Krieges vor. Und anstatt seine Kritik beispielsweise am gebrochenen UN-Vetorecht anzusetzen, was leicht gewesen wäre, gebe sich Handke dubiosen Verschwörungstheorien hin: Die USA wollten Jugoslawien vernichten etc., eine Annahme, die Handke jedoch weder begründen noch beweisen könne. Handke passe seine "egozentrischen Assoziationen" seiner Feindbild-Denkweise entsprechend an, so Hartwigs Diagnose.
© Perlentaucher Medien GmbH
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