Kip Norvald kann es sich nicht erklären. Immer wieder überkommen den Teenager diese Gewaltausbrüche, dieses rauschhafte Weiß, das ihn völlig außer Kontrolle geraten lässt. Im Florida der späten 1980er-Jahre ist er genau so ein Außenseiter wie der schwarze bisexuelle Leslie Z und das Trailer-Girl
Kira Carson. Was die drei so unterschiedlichen Charaktere verbindet, ist eine gemeinsame Liebe: die zum…mehrKip Norvald kann es sich nicht erklären. Immer wieder überkommen den Teenager diese Gewaltausbrüche, dieses rauschhafte Weiß, das ihn völlig außer Kontrolle geraten lässt. Im Florida der späten 1980er-Jahre ist er genau so ein Außenseiter wie der schwarze bisexuelle Leslie Z und das Trailer-Girl Kira Carson. Was die drei so unterschiedlichen Charaktere verbindet, ist eine gemeinsame Liebe: die zum Heavy Metal. Über das Erwachsenwerden dreier Außenseiter:innen in den 80er- und 90er-Jahren und vor allem über die Kraft der Musik schreibt John Wray in seinem neuen Roman "Unter Wölfen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben bei Rowohlt erschienen ist. Rock'n'Roll pur!
Hat es jemals zuvor einen literarischen Roman über Heavy Metal gegeben? Ich wage dies zu bezweifeln, auch wenn aktuell beispielsweise Karl Ove Knausgård kongenial und philosophisch den norwegischen Black Metal in seine "Morgenstern"-Reihe integriert. In diesem Umfang und mit dieser Hingabe ist John Wrays "Unter Wölfen" allerdings ein Novum. Dabei stammt der Autor selbst eher aus der Rockszene und musste sich für das Buch erst in die Metalszene einlesen, wie er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur verriet. Nun ist ihm dies überwiegend hervorragend gelungen.
Der Roman teilt sich in drei große Abschnitte, die sich sowohl in den Handlungsorten als auch den jeweiligen Musikrichtungen stark unterscheiden. Teil eins spielt in Venice, Florida, wo die drei Hauptfiguren ihre Liebe zum Death Metal und aufkommenden Bands wie Death, Deicide oder Cannibal Corpse frönen. Im Mittelteil reisen die Drei nach L.A. und lernen dort den Glamrock in all seinen Facetten kennen und - so geben sie es zumindest vor - hassen. Der Schlusspart führt die Leserschaft gar nach Bergen in Norwegen - und damit tief in das düstere Herz des norwegischen Black Metal zu Beginn der 90er-Jahre mit Bands wie Mayhem, Emperor und Burzum.
Zu loben ist auf jeden Fall, wie abwechslungsreich sich nicht nur musikalisch "Unter Wölfen" präsentiert. Von einem Coming-of-Age-Roman mit auch sprachlichem Rock'n'Roll entwickelt sich das Buch nämlich zu einem Liebesroman und am Ende gar zu einer Art literarischem Thriller, der zwar nicht das Unheimliche von Bret Easton Ellis' "The Shards" erreicht, aber durchaus gekonnt mit Ellis-haften Motiven spielt.
Hervorragend eingebunden sind auch die nerdigen Metal-Insiderfakten, die John Wray immer wieder ins Spiel bringt. Dies führt sogar dazu, dass Metal-Legenden selbst diverse Auftritte haben. Ob Vince Neil von Mötley Crüe oder im Schlussteil Euronymous von Mayhem, Samoth von Emperor oder der unsägliche Count Grishnackh: Sie alle geben sich in "Unter Wölfen" ihr Stelldichein. Für Metalheads definitiv ein großer Spaß! In einer besonders genialen Szene entdeckt Kip beispielsweise die legendären Polaroid-Fotos, die Euronymous nach dem Tod des Mayhem-Sängers Dead von dessen Leiche geschossen hat. Wray bindet dies als Randnotiz ein, ohne Pelle Ohlin alias Dead überhaupt namentlich zu erwähnen. Ein Gimmick für Metalfreund:innen, von denen es in dem Roman zahlreiche zu entdecken gibt.
Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sind das einerseits die Figuren, die sich gerade in den manchmal etwas nervigen Dialogen zu wenig entwickeln. Zudem wirkt der Roman durch ein paar belanglose Szenen doch etwas zu lang. Aus Metalsicht ist jedoch das größte Ärgernis, dass im letzten Abschnitt zwischen Black Metal-Figuren wie Euronymous und dessen späteren Mörder Varg Vikernes alias Count Grishnackh zu wenig differenziert wird. Beide wirken auf die Leserschaft wie satanistische, ideologisch rechts stehende Musiker, die irgendwo zwischen Bedrohung und Knallchargentum agieren. Dabei kommen Euronymous' kommunistische Ansichten ebenso zu kurz wie das spätere Täter-Opfer-Verhältnis der beiden.
Kleinere Wermutstropfen eines insgesamt aber spannenden und unterhaltsamen Romans, der insbesondere Metal-Fans aller Genres und Musikliebhaber:innen ohne Scheuklappen ansprechen sollte. Keep on rockin', John!