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Jens Beckert schreibt eine vergleichende Soziologie des Erbrechts in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten
Diese vergleichende Beschreibung der Entwicklung des Erbrechts in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten ist eine Pflichtlektüre für jeden Politiker, der mit Erbrecht befaßt ist. Sie zeigt, in unseren Breiten eignet sich das Erbrecht nicht, die Gesellschaft nennenswert zu beeinflussen. Es ist in allen drei Ländern stabil. Soweit es sich ändert, folgt es dem Trend der westlichen Gesellschaft zu mehr formaler Gleichheit, in den Vereinigten Staaten mit ihrer vergleichsweise kurzen politischen Geschichte stärker als in Deutschland und Frankreich. Insbesondere ist es nicht gelungen, mit Hilfe des Erbrechts die soziale Ungleichheit zu vermindern.
Der Verfasser kann das im Grunde nicht erklären. Sein "handlungstheoretischer Ansatz" zwingt ihn, soziale Probleme von "Akteuren" aus zu denken und die Akteure nach ihren Interessen näher zu bestimmen. Immerhin sieht er selbst, daß sich in dieser Perspektive keine stabilen Strukturen ausmachen lassen, wenn man nicht auf Normen und Werte zurückgreift. Das tut er auch. "Unverdientes Vermögen" soll das Grundproblem des Erbrechts andeuten: "Moderne Gesellschaften verstehen sich als Leistungsgesellschaften . . . Wie aber läßt sich die Vererbung von Vermögen mit diesem Selbstverständnis . . . in Einklang bringen?" Indem man die Folgen von Todesfällen analysiert. Schließlich ist Vererbung nicht der einzige Fall, der dem Leistungsprinzip zu widersprechen scheint. Sozialhilfe etwa ist ein weiterer.
Beckert ist weniger einer soziologischen und mehr einer historischen Objektivität verpflichtet. Wenn man sich auf die Geschichte konzentriert, die er erzählt, liest man sein Buch mit Gewinn. Die Länder, deren Erbrecht er beobachtet, gehören zum westlichen Kulturkreis und kämpfen mit den gleichen Problemen. Beckert untersucht die Testierfreiheit, die Ansprüche von Familienangehörigen, besonders die Pflichtteilsrechte, fideikommissarische Vermögensbindungen und Erbschaftsteuern. Sein Material bezieht er aus Debatten in den Parlamenten und der Öffentlichkeit um Gesetzgebungsvorschläge. So kann er bei Vorschlägen, die umgesetzt wurden, sagen, ob die Hoffnungen oder Befürchtungen der Initiatoren begründet waren oder nicht. Dieses Verfahren führt zu aufregenden Einsichten. Zum Beispiel haben vor allem die Liberalen die Eigentumsvererbung kritisiert, während sich Sozialdemokraten für das Thema wenig interessiert haben. Liberale haben Vorbehalte gegen Macht, gleichgültig, ob privat oder öffentlich, Sozialdemokraten hoffen, mit Macht soziale Gerechtigkeit durchsetzen zu können. Es gibt heute kein erbpolitisches Argument, das in den letzten zweihundert Jahren nicht verwendet worden wäre und dessen Tragfähigkeit, Konsequenzen und Versagen sich nicht an diesem Buch überprüfen ließen.
Beckert stellt in allen drei Ländern einen einheitlichen Trend fest. Die Rechte der überlebenden Ehepartner und unehelicher Kinder wurden erweitert, die Bevorrechtigung erstgeborener Söhne, die Ungleichbehandlung von Söhnen und Töchtern und fideikommissarische Bindungen wurden abgeschafft und Erbschaftsteuern eingeführt, die in den Vereinigten Staaten erstaunlich höher waren als in Deutschland und Frankreich, aber die Besitzverhältnisse kaum berührt haben.
Ein häufiges Argument zugunsten einer Erbschaftsteuer ist so frech, daß man fragen muß, wie es ernsthaft vorgetragen werden konnte. In der Version August Bebels lautet es: "Wer Besitz hat, für den hat der Staat am meisten zu sorgen." Also nicht die Wohlhabenden sorgen für den Staat, der Staat sorgt für die Wohlhabenden, deren Erben dafür zahlen müssen. Da dieses Argument auch in Frankreich verwendet wurde, kann man es nicht als Umkehrung der preußischen Wahlrechtsidee verstehen, Vermögen sei ein Indiz für politische Verantwortung. Vielmehr gilt, ein Erblasser hat seine Pflichten gegenüber dem Staat mit seinen Steuern und seiner Berufsarbeit bereits erfüllt. Eine Erbschaftsteuer bedeutet daher in dieser Perspektive, daß der Staat die Erben für denselben Tatbestand ein zweites Mal zur Kasse bittet. Nach Beckert hat das damals niemand kritisiert.
Erben können sich kaum gegen solche Argumente wehren. Denn bei Todesfällen ist das gesellschaftliche Hauptproblem nicht die Verteilung des Erbes, wie Beckert meint, sondern das Flicken des Lochs, das jeder Tod in das Netz der sozialen Beziehungen reißt. Ein Toter kann nichts mehr zahlen, veranlassen oder veräußern. Aber Frau und Kinder wollen versorgt werden, die Gemeinde will sich im Glanz seiner Erfolge sonnen, die Gläubiger wollen Geld, das Gras muß gemäht und die Hecke geschnitten werden, der Betrieb muß weiterlaufen. Ein Riesenproblem, das zum größten Teil von der Familie, den Freunden, Berufskollegen, Vereinen und den Gemeinden gelöst wird. Der Staat wäre damit hoffnungslos überfordert. Für ihn bleibt der schmale Rest, der sich rechtlich fassen läßt, im wesentlichen also das Vermögen.
Für den Umgang mit hinterlassenem Vermögen gibt es aber kein normatives Modell mehr, seit die Gesellschaft das Individuum zum letzten Bezugspunkt allen Handelns erklärt hat. Im Todesfall kann das Individuum nichts mehr sagen, und seine Verwandten und Freunde haben nichts zu sagen, weil nur das Individuum zählt. Deshalb können sie sich gegen staatliche Leichenfledderei nicht wehren. Andererseits muß die Gesellschaft die Wunden möglichst schnell schließen, die jeder Tod reißt. Sonst droht ihr Instabilität. Dieses Buch lehrt: Die Lösung des Dilemmas ist die Bevorzugung des Gewohnten.
GERD ROELLECKE
Jens Beckert: "Unverdientes Vermögen". Soziologie des Erbrechts. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2004. 424 S., br., 27,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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"Eine Pflichtlektüre für jeden Politiker, der mir Erbrecht befaßt ist." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.2004)
"Selten sind soziologische Analysen so spannend." (schrägstrich, 15.05.2005)