1961, vor jetzt 50 Jahren, begann Paul Nizon, seine Journale zu führen. Täglich notiert er dort, was ihm wichtig ist, und hält so die Wahrnehmung auf sich und die Welt wach. Was als Alltagsprotokoll, Autobiographie und Werkstattbericht begann, hat sich längst zu etwas Eigenständigem ausgewachsen, zur anderen Seite von Paul Nizons Werk. Vier Journale sind bislang erschienen, und von Buch zu Buch ist mehr offenbar geworden, dass sich hier jemand sein Leben erschreibt, seinen Lebensroman erfindet. In Urkundenfälschung, dem Journal über die Jahre 2000 bis 2010, finden sich berückend-schöne Alltagsbeobachtungen und Erzählungen, hellsichtige Porträts von Schriftstellern und Zeitgenossen, erschreckende Traumsequenzen und euphorisierende Stadtminiaturen, die einem zum sofortigen Aufbruch verlocken. Wir verfolgen mit, wie der Roman »Das Fell der Forelle Gestalt« annimmt, und lesen über seine Scheidung, die wie eine Naturkatastrophe erlebt wird. Wir erfahren in dieser »grandios-rigorosen Tagebücherei«, die »frei, wild, zart, in eigener Sache, aber zeitdurchtränkt« daherkommt, unendlich viel über das Handwerk des Schreibens und über den »Reichtum des Lebens« - in einer Sprachintensität und Unmittelbarkeit ohnegleichen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2012Wer steht da so einsam vor beleuchteten Fenstern?
Alles was dem wandelnden Dichter und Flaneur seit jeher zugeschrieben wird, entdeckt nun auch Paul Nizon in seinem Leben wieder: Sein Tagebuch "Urkundenfälschung" erzählt die Jahre 2000 bis 2010.
Im Journal verhält sich Susan Sontag zufolge der moderne Schriftsteller sich selbst gegenüber heroisch. "In ihm existiert er allein als wahrnehmendes, leidendes, kämpfendes Wesen." Einsamkeit sei dabei "die unerlässliche Metapher des Bewusstseins", so gesellig oder engagiert der jeweilige Autor in der Lebenswelt sein möge. Der Künstler erscheine im Journal als ein "exemplarischer Leidender", der freilich immer in der christlichen Gefahr stehe, das Leiden zu überschätzen oder in der Überhöhung zu rechtfertigen.
Paul Nizon zeigt sich auch im Journal seines achten Lebensjahrzehnts wieder als einsam seine Bürde tragender Sisyphos der Moderne, als ein Heros im "Schreibleben und Lebschreiben" und als kämpfendes Wesen in der Disziplin "Sprachringen". Der Autor wird nicht müde, immer neue, oft ziemlich gedrechselte Wendungen für das "handschellengeeinte Zusammengehen von Leben und Schreiben" zu erfinden. Das wird so oft wiederholt, dass der Leser sich fragt, ob er denn für begriffsstutzig gehalten wird, oder ob etwas dahinter steckt, was der Diarist nicht verraten will.
Der Herausgeber Wend Kässens ist da wenig hilfreich, er hämmert dem Leser zum Schluss seines Nachworts noch einmal nachdrücklich ein, was für eine wichtige Angelegenheit er da vor sich hat: "ein sich schreibendes Leben! Eine sich lebende Schrift! Das ist die Aufgabe der Dichter." In Anfällen von Nüchternheit sagt es sein Autor aber viel einfacher. Schreiben ist die Aufgabe des Schriftstellers und sein Bedürfnis, so wie sein Schweizer Landsmann Roger Federer Tennis spielt, weil es sein Beruf ist und weil er es sehr gern tut.
Alles, was seit Charles Baudelaire dem einsam wandelnden Dichter und Flaneur zugeschrieben worden ist, findet der aus der Enge Berns nach Paris geflüchtete Schriftsteller in seinem Leben wieder. Er ist der Einzelgänger, die Randerscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, ein aristokratischer Exilant, der Ausgestoßene, der Auserwählte, der ewige Fremdling, Gast auf Erden, der Verdammte, der Strolch. Und es fehlt auch nicht der altbekannte Blick des unbehausten Außenseiters "in beleuchtete Wohnungsfenster der so schönen pariserischen Bürgerhäuser", hinter denen Paul Nizon wider seine Erfahrung in drei gescheiterten Ehen ein besseres Leben "in gegenseitiger Achtung und Liebe" zu vermuten vorgibt.
Dergleichen geht dem Leser anfangs zu Herzen, im Laufe der Lektüre aber auf die Nerven. Der modernen Kunst ist das Gedächtnis des Leidens aufgegeben, gerade vom Schriftsteller darf erwartet werden, dass er dem evidenten Leiden Ausdruck verschafft. Beim "Loten und Ringen um die menschliche Sinnfrage" scheint der exemplarisch Leidende aber nicht zu bemerken, wie nahe er dem Jargon der Eigentlichkeit kommt, dem bloßen Behaupten von Tiefe im "Unsagbaren", in "Suche" und "Beschwörung".
Auch da, wo der Leser und Deuter über die Gesellschaft seiner imaginären Lebensmenschen, über Elias Canetti oder Vincent van Gogh spricht, wird die Metaphorik künstlerischer Produktivität im Hereinziehen ins Eigene fast immer zu dick aufgetragen. So findet Nizon im leidenden Maler "ein fortgesetztes Erkämpfen bis zum Grade der höchsten Erschöpfung, aber auch mit allen Verheißungen des dazugehörigen Glücks".
Es ist zudem rührend zugleich und peinlich, wie dieser hochdekorierte Chevalier der Literatur und der Kunstkritik unaufhörlich betonen muss, dass er für "einen bedeutenden bis großen Schriftsteller" gehalten wird. Es gefällt ihm, wenn sich "die einzige auffallend hübsche junge Frau" bei einem Empfang als "Nizon-Leserin" entpuppt. Stolz notiert er, dass der französische Zöllner nur kurz in den Pass blickt, um ihn dann als "l'écrivain" willkommen zu heißen (wobei ihn der Beamte hoffentlich nicht mit dem französischen Dichter Paul Nizan verwechselt hat). Dann wiederum beklagt er wehleidig und manchmal auch neidisch seinen mangelnden "klingenden und klingelnden Erfolg" und sieht sich weit entfernt von Sieg und Ruhm.
Thomas Bernhard, dessen Genie Siegfried Unseld immer vorausgesetzt habe, stehe im Licht, er selbst aber im Dunkeln. Er sei nur eine "offene Wette" für den Verleger gewesen und kein Geschäftspartner wie Bernhard. Unseld "mochte im Grunde den erfolglosen Autor nicht".
Schwer vorstellbar, dass der Verleger auf den vorliegenden Band viel gesetzt hätte. Vielleicht hätte er seinem Autor ja offen gesagt, dass "Urkundenfälschung" viel zu viel pathetisches Bramarbasieren enthält, das ungeschützte "Loslabern" solle er doch lieber Rainald Goetz überlassen. Und bestimmt hätte Siegfried Unseld wie gewohnt ermutigt, Paul Nizon sei doch ein so genauer wie phantasievoller Beobachter von Alltagsszenen, er verstehe sich auf hinreißende Miniaturen der Erinnerung an verlorene Liebesmühe und schließlich sei er auch ein begabter Lobredner und funkelnd bösartiger Kritiker. Mehr davon, lieber Autor, hätte er vermutlich gesagt, und weniger Gejammer über mangelnden Erfolg. Denn das Nachmachen oder Verfälschen von Metaphern der Leidensartistik wird mit Isolation vom Leser bestraft.
FRIEDMAR APEL
Paul Nizon: "Urkundenfälschung". Journal 2000-2010. Herausgegeben von Wend Kässens. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 376 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles was dem wandelnden Dichter und Flaneur seit jeher zugeschrieben wird, entdeckt nun auch Paul Nizon in seinem Leben wieder: Sein Tagebuch "Urkundenfälschung" erzählt die Jahre 2000 bis 2010.
Im Journal verhält sich Susan Sontag zufolge der moderne Schriftsteller sich selbst gegenüber heroisch. "In ihm existiert er allein als wahrnehmendes, leidendes, kämpfendes Wesen." Einsamkeit sei dabei "die unerlässliche Metapher des Bewusstseins", so gesellig oder engagiert der jeweilige Autor in der Lebenswelt sein möge. Der Künstler erscheine im Journal als ein "exemplarischer Leidender", der freilich immer in der christlichen Gefahr stehe, das Leiden zu überschätzen oder in der Überhöhung zu rechtfertigen.
Paul Nizon zeigt sich auch im Journal seines achten Lebensjahrzehnts wieder als einsam seine Bürde tragender Sisyphos der Moderne, als ein Heros im "Schreibleben und Lebschreiben" und als kämpfendes Wesen in der Disziplin "Sprachringen". Der Autor wird nicht müde, immer neue, oft ziemlich gedrechselte Wendungen für das "handschellengeeinte Zusammengehen von Leben und Schreiben" zu erfinden. Das wird so oft wiederholt, dass der Leser sich fragt, ob er denn für begriffsstutzig gehalten wird, oder ob etwas dahinter steckt, was der Diarist nicht verraten will.
Der Herausgeber Wend Kässens ist da wenig hilfreich, er hämmert dem Leser zum Schluss seines Nachworts noch einmal nachdrücklich ein, was für eine wichtige Angelegenheit er da vor sich hat: "ein sich schreibendes Leben! Eine sich lebende Schrift! Das ist die Aufgabe der Dichter." In Anfällen von Nüchternheit sagt es sein Autor aber viel einfacher. Schreiben ist die Aufgabe des Schriftstellers und sein Bedürfnis, so wie sein Schweizer Landsmann Roger Federer Tennis spielt, weil es sein Beruf ist und weil er es sehr gern tut.
Alles, was seit Charles Baudelaire dem einsam wandelnden Dichter und Flaneur zugeschrieben worden ist, findet der aus der Enge Berns nach Paris geflüchtete Schriftsteller in seinem Leben wieder. Er ist der Einzelgänger, die Randerscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, ein aristokratischer Exilant, der Ausgestoßene, der Auserwählte, der ewige Fremdling, Gast auf Erden, der Verdammte, der Strolch. Und es fehlt auch nicht der altbekannte Blick des unbehausten Außenseiters "in beleuchtete Wohnungsfenster der so schönen pariserischen Bürgerhäuser", hinter denen Paul Nizon wider seine Erfahrung in drei gescheiterten Ehen ein besseres Leben "in gegenseitiger Achtung und Liebe" zu vermuten vorgibt.
Dergleichen geht dem Leser anfangs zu Herzen, im Laufe der Lektüre aber auf die Nerven. Der modernen Kunst ist das Gedächtnis des Leidens aufgegeben, gerade vom Schriftsteller darf erwartet werden, dass er dem evidenten Leiden Ausdruck verschafft. Beim "Loten und Ringen um die menschliche Sinnfrage" scheint der exemplarisch Leidende aber nicht zu bemerken, wie nahe er dem Jargon der Eigentlichkeit kommt, dem bloßen Behaupten von Tiefe im "Unsagbaren", in "Suche" und "Beschwörung".
Auch da, wo der Leser und Deuter über die Gesellschaft seiner imaginären Lebensmenschen, über Elias Canetti oder Vincent van Gogh spricht, wird die Metaphorik künstlerischer Produktivität im Hereinziehen ins Eigene fast immer zu dick aufgetragen. So findet Nizon im leidenden Maler "ein fortgesetztes Erkämpfen bis zum Grade der höchsten Erschöpfung, aber auch mit allen Verheißungen des dazugehörigen Glücks".
Es ist zudem rührend zugleich und peinlich, wie dieser hochdekorierte Chevalier der Literatur und der Kunstkritik unaufhörlich betonen muss, dass er für "einen bedeutenden bis großen Schriftsteller" gehalten wird. Es gefällt ihm, wenn sich "die einzige auffallend hübsche junge Frau" bei einem Empfang als "Nizon-Leserin" entpuppt. Stolz notiert er, dass der französische Zöllner nur kurz in den Pass blickt, um ihn dann als "l'écrivain" willkommen zu heißen (wobei ihn der Beamte hoffentlich nicht mit dem französischen Dichter Paul Nizan verwechselt hat). Dann wiederum beklagt er wehleidig und manchmal auch neidisch seinen mangelnden "klingenden und klingelnden Erfolg" und sieht sich weit entfernt von Sieg und Ruhm.
Thomas Bernhard, dessen Genie Siegfried Unseld immer vorausgesetzt habe, stehe im Licht, er selbst aber im Dunkeln. Er sei nur eine "offene Wette" für den Verleger gewesen und kein Geschäftspartner wie Bernhard. Unseld "mochte im Grunde den erfolglosen Autor nicht".
Schwer vorstellbar, dass der Verleger auf den vorliegenden Band viel gesetzt hätte. Vielleicht hätte er seinem Autor ja offen gesagt, dass "Urkundenfälschung" viel zu viel pathetisches Bramarbasieren enthält, das ungeschützte "Loslabern" solle er doch lieber Rainald Goetz überlassen. Und bestimmt hätte Siegfried Unseld wie gewohnt ermutigt, Paul Nizon sei doch ein so genauer wie phantasievoller Beobachter von Alltagsszenen, er verstehe sich auf hinreißende Miniaturen der Erinnerung an verlorene Liebesmühe und schließlich sei er auch ein begabter Lobredner und funkelnd bösartiger Kritiker. Mehr davon, lieber Autor, hätte er vermutlich gesagt, und weniger Gejammer über mangelnden Erfolg. Denn das Nachmachen oder Verfälschen von Metaphern der Leidensartistik wird mit Isolation vom Leser bestraft.
FRIEDMAR APEL
Paul Nizon: "Urkundenfälschung". Journal 2000-2010. Herausgegeben von Wend Kässens. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 376 S., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es ist nicht das erste Buch, das Rezensent Friedmar Apel von Paul Nizon liest, deshalb weiß er, dass der Schweizer Autor auch anders kann, wunderbare Alltagsszene und bezaubernde Miniaturen zu Beispiel. Aber was Nizon in diesem Journal vorlegt, ist Apel geradezu peinlich. Ein unaufhörliches "Bramarbasieren" über die eigene Bedeutung bei gleichzeitiger Wehleidigkeit angesichts des ausbleibenden Erfolgs (natürlich nur in pekunärer Hinsicht). Schlimm findet Apel auch, wie oft und wie gedrechselt Nizon seine Ausnahmeexistenz im Leben und Schreiben, Schreiben und Leben, Schreibleben und Lebschreiben beschwört. Als wären seine Leser begriffsstutzig!
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Paul Nizon zeigt sich ... wieder als einsam seine Bürde tragender Sisyphos der Moderne ... und als kämpfendes Wesen in der Disziplin 'Sprachringen'.« Friedmar Apel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20120203