Erst als der Sohn ihn danach fragt, spricht der Vater, Jahrgang 1933, von der NS-Zeit. Von der Napola, der Nationalpolitischen Lehranstalt, vom jüdischen Fellhändler am Markt und von seinem Onkel. Jenem Onkel Paul, nach dem der Sohn benannt ist und der NSDAP-Kreisgeschäftsführer war. Im Bundesarchiv findet der Sohn, als jüngstes von acht Kindern 1980 geboren, nur eine schmale Akte. Doch ihn lassen die Fragen nicht los: Wie setzen sich nationalsozialistische Prägungen auch in seiner Familie fort? Welche überkommenen Ideale, welche patriarchalen Vorstellungen haben sich in ihn eingeschrieben und gibt er vielleicht selbst weiter? In welchen Konflikten treten sie bis heute zutage? Er stellt fest, wie herausfordernd es ist, im Umgang mit den eigenen Kindern seine Rolle als progressiver Vater zu finden, zumal ihm klare Vorbilder dafür fehlen.
Paul Brodowsky erzählt in seinem Roman Väter von einem Jahrhundert deutscher Geschichte. Er verdichtet Erinnerungen, Recherchen und Reflexionen zu einem Bild der BRD nach der Zeit des Nationalsozialismus – er arbeitet auf, was in vielen Familien bis heute verschwiegen wird, und spannt so den Bogen von den dreißiger Jahren bis zur Gegenwart. Eine schonungslose Selbstbefragung und Spurensuche nach den Prägungen durch die Großväter und Väter.
Paul Brodowsky erzählt in seinem Roman Väter von einem Jahrhundert deutscher Geschichte. Er verdichtet Erinnerungen, Recherchen und Reflexionen zu einem Bild der BRD nach der Zeit des Nationalsozialismus – er arbeitet auf, was in vielen Familien bis heute verschwiegen wird, und spannt so den Bogen von den dreißiger Jahren bis zur Gegenwart. Eine schonungslose Selbstbefragung und Spurensuche nach den Prägungen durch die Großväter und Väter.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Roman noch nicht ganz ausgereift, aber mit den richtigen Fragen und Beobachtungen ausgestattet: So liest Rezensent Sascha Feuchert das Debüt von Paul Brodowsky, in dem er sich mit dem "Fortwirken des NS-Erziehungserbes" befasst. Sein Vater war auf die NS-Eliteschule Napola gegangen, erfahren wir, der mit dem Autor mindestens namensidentische Protagonist entdeckt immer mehr Prägungen aus dieser Zeit im Familienleben. Der Protagonist macht sich Sorgen, diese "Ideen von Überlegenheit" könnten sich auch in seiner eigenen Kleinfamilie niederschlagen und tritt vehement gegen alles ein, was ihm ein Gefühl von Wir gegen die Anderen vermittelt, erfahren wir. Als literarischer Text manchmal etwas zu akademisch, aber es werden die richtigen, nachdenklich machenden Schlüsse gezogen, schließt Feuchert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2023So klingt
der Moralismus
Es gibt ein Problem mit
Paul Brodowskys neuem
Roman „Väter“
Die Gegenwartsliteratur hat einen Hang zur Erfindungsfeindlichkeit. Die Fiktion ist mittlerweile in Verdachtsnähe von Fake News geraten. Gefragt sind beglaubigte Erfahrungen, Bekenntnisse, Haltungen. Wohin eine derartige Tendenz im schlimmsten Fall führen kann, lässt sich an Paul Brodowskys Roman exemplarisch herausarbeiten. Es kann nicht die Aufgabe von Literaturkritik sein, Lebenshaltungen und Meinungen zu rezensieren. Im Fall von „Väter“ allerdings, weniger ein Roman als eine Mischung aus Familiengeschichte, Selbsterkundung und Erziehungsratgeber, stehen Weltbild und Lifestyle des Ich-Erzählers und entgleiste Sprache in einem untrennbaren Zusammenhang.
Paul Brodowsky hat an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben studiert und ist heute Professor für Dramentechnik an der Universität der Künste in Berlin. Mittlerweile ist er 43 Jahre alt und zweifacher Vater, wenn man den Angaben in seinem Buch vertrauen darf, dessen Ich-Erzähler Paul Brodowsky heißt, von Beruf Schriftsteller und zweifacher Vater ist, wobei Schriftstellerdasein und Elternschaft sich immer wieder in die Quere kommen. Worum es geht? Um den eigenen Vater, den Brodowsky zu dessen Vergangenheit, seinem Aufwachsen in der Zeit des Nationalsozialismus befragt. Und um sein eigenes Vatersein, das Verhältnis zu seinen Kindern, der gleichberechtigten Aufteilung der Care-Arbeit innerhalb der Beziehung zu seiner Freundin Judith. Um das Aufwachsen des Ich-Erzählers als eines von acht Kindern in einer Akademikerfamilie. Und darum, wie all das, der Vater, der Nationalsozialismus und dessen Prägungen, sich bis in die Gegenwart festgesetzt haben. „Transgenerative Traumata“ heißt das Stichwort, das gerade modisch ist und in einen Kontext von vermeintlich nicht aufgearbeiteter nationalsozialistischer Vergangenheit gestellt werden kann.
Selbstverständlich ist es legitim, sich Gedanken darüber zu machen, wie man zu dem geworden ist, der man ist, und wie sich Fehler der Elterngeneration vermeiden lassen. Auch in einem Roman. Dieses Nachdenken allerdings bringt hier Satzmonster wie dieses hervor: „Insgesamt merke ich, dass der in Spielsachen, Büchern, Filmen und ganz allgemein subtil kommunizierten Verhaltensnormen suggerierte Möglichkeitsraum bezüglich dessen, was die spätere Rolle meiner Kinder in der Welt sein könnte, bei meiner Tochter und meinem Sohn stark divergiert und mir intuitiv und vor allem bei meiner Tochter als problematisch ins Auge fällt.“
Dieser aufgeblasene Tonfall, eine Mixtur aus pseudoakademischem und bürokratisch verschwiemeltem Jargon, durchzieht das gesamte Buch und wird aufgeladen durch zeitgeistige Buzzwords – toxisch, problematisch, viril grundiert –, die umgehend eine Verankerung innerhalb eines Milieus herstellen, das keinerlei Zweifel an der eigenen Weltsicht zulässt. Zwar befragt der Ich-Erzähler seinen Vater, eine echte Recherche kann man das aber nicht nennen, denn die würde Neugier voraussetzen. Dieser Erzähler weiß aber alles schon. Er fragt nicht, um zu verstehen, sondern um zu urteilen.
„Väter“ ist erzählt im Dauerpräsens, fragmentarisch in seiner Struktur, inhaltlich angeordnet um Themenblöcke wie Musik, Sexualität oder berufliche Erfahrungen. Das innere Schema, das Brodowsky ausstellt, ist aber stets das gleiche: Ein unverschuldet zum Opfer elterlicher Prägungen gewordener Mensch reproduziert die toxischen Verhaltensweisen, bis er diese reflektiert und in einem Akt der moralischen Überlegenheit revidiert – soweit das möglich ist. Brodowskys fader Realismus könnte als Privatsache durchgehen. Aber richtig unschön wird es dann, wenn die ideologischen Schnittmuster des Romans über Menschen gelegt werden, die den Läuterungsprozess des Protagonisten offenbar nicht nachvollzogen haben. Dass Brodowsky Schilderungen der Struktur seiner Familie die Abbildung einer Propagandapostkarte vom Nürnberger Reichsparteitag zur Seite stellt, ist geschmacklos. Dass er aber einen bekannten Literaturwissenschaftler und einstigen Förderer beschuldigt, im Netz „latent xenophobe und rassistische Inhalte“ zu propagieren, ist verleumderisch. Das eigentliche Vergehen dieses Mannes findet sich zwei Zeilen später: Er wendet sich „mit Vehemenz gegen eine geschlechtergerechte Sprache“ und vertritt „politisch ultrakonservative Werte“. Das geht natürlich nicht. Nicht für den vom toxischen Saulus gewandelten Erzähler-Paulus, der seine Privilegien gecheckt hat und daraus eine neue Form von Überlegenheit und Distinktionsgewinn zieht.
Am Ende steht dieser Mann mit seinem Lastenfahrrad am Neuköllner Zweigkanal, und während er in Gedanken einen Beatles-Song mit seinem Sermon zudröhnt, verbinden sich seine Tränen mit dem Wasser. Spätestens hier ist „Väter“ rettungslos im Kitsch der Selbstergriffenheit angekommen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Paul Brodowsky: Väter. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023.
304 Seiten, 24 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Moralismus
Es gibt ein Problem mit
Paul Brodowskys neuem
Roman „Väter“
Die Gegenwartsliteratur hat einen Hang zur Erfindungsfeindlichkeit. Die Fiktion ist mittlerweile in Verdachtsnähe von Fake News geraten. Gefragt sind beglaubigte Erfahrungen, Bekenntnisse, Haltungen. Wohin eine derartige Tendenz im schlimmsten Fall führen kann, lässt sich an Paul Brodowskys Roman exemplarisch herausarbeiten. Es kann nicht die Aufgabe von Literaturkritik sein, Lebenshaltungen und Meinungen zu rezensieren. Im Fall von „Väter“ allerdings, weniger ein Roman als eine Mischung aus Familiengeschichte, Selbsterkundung und Erziehungsratgeber, stehen Weltbild und Lifestyle des Ich-Erzählers und entgleiste Sprache in einem untrennbaren Zusammenhang.
Paul Brodowsky hat an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben studiert und ist heute Professor für Dramentechnik an der Universität der Künste in Berlin. Mittlerweile ist er 43 Jahre alt und zweifacher Vater, wenn man den Angaben in seinem Buch vertrauen darf, dessen Ich-Erzähler Paul Brodowsky heißt, von Beruf Schriftsteller und zweifacher Vater ist, wobei Schriftstellerdasein und Elternschaft sich immer wieder in die Quere kommen. Worum es geht? Um den eigenen Vater, den Brodowsky zu dessen Vergangenheit, seinem Aufwachsen in der Zeit des Nationalsozialismus befragt. Und um sein eigenes Vatersein, das Verhältnis zu seinen Kindern, der gleichberechtigten Aufteilung der Care-Arbeit innerhalb der Beziehung zu seiner Freundin Judith. Um das Aufwachsen des Ich-Erzählers als eines von acht Kindern in einer Akademikerfamilie. Und darum, wie all das, der Vater, der Nationalsozialismus und dessen Prägungen, sich bis in die Gegenwart festgesetzt haben. „Transgenerative Traumata“ heißt das Stichwort, das gerade modisch ist und in einen Kontext von vermeintlich nicht aufgearbeiteter nationalsozialistischer Vergangenheit gestellt werden kann.
Selbstverständlich ist es legitim, sich Gedanken darüber zu machen, wie man zu dem geworden ist, der man ist, und wie sich Fehler der Elterngeneration vermeiden lassen. Auch in einem Roman. Dieses Nachdenken allerdings bringt hier Satzmonster wie dieses hervor: „Insgesamt merke ich, dass der in Spielsachen, Büchern, Filmen und ganz allgemein subtil kommunizierten Verhaltensnormen suggerierte Möglichkeitsraum bezüglich dessen, was die spätere Rolle meiner Kinder in der Welt sein könnte, bei meiner Tochter und meinem Sohn stark divergiert und mir intuitiv und vor allem bei meiner Tochter als problematisch ins Auge fällt.“
Dieser aufgeblasene Tonfall, eine Mixtur aus pseudoakademischem und bürokratisch verschwiemeltem Jargon, durchzieht das gesamte Buch und wird aufgeladen durch zeitgeistige Buzzwords – toxisch, problematisch, viril grundiert –, die umgehend eine Verankerung innerhalb eines Milieus herstellen, das keinerlei Zweifel an der eigenen Weltsicht zulässt. Zwar befragt der Ich-Erzähler seinen Vater, eine echte Recherche kann man das aber nicht nennen, denn die würde Neugier voraussetzen. Dieser Erzähler weiß aber alles schon. Er fragt nicht, um zu verstehen, sondern um zu urteilen.
„Väter“ ist erzählt im Dauerpräsens, fragmentarisch in seiner Struktur, inhaltlich angeordnet um Themenblöcke wie Musik, Sexualität oder berufliche Erfahrungen. Das innere Schema, das Brodowsky ausstellt, ist aber stets das gleiche: Ein unverschuldet zum Opfer elterlicher Prägungen gewordener Mensch reproduziert die toxischen Verhaltensweisen, bis er diese reflektiert und in einem Akt der moralischen Überlegenheit revidiert – soweit das möglich ist. Brodowskys fader Realismus könnte als Privatsache durchgehen. Aber richtig unschön wird es dann, wenn die ideologischen Schnittmuster des Romans über Menschen gelegt werden, die den Läuterungsprozess des Protagonisten offenbar nicht nachvollzogen haben. Dass Brodowsky Schilderungen der Struktur seiner Familie die Abbildung einer Propagandapostkarte vom Nürnberger Reichsparteitag zur Seite stellt, ist geschmacklos. Dass er aber einen bekannten Literaturwissenschaftler und einstigen Förderer beschuldigt, im Netz „latent xenophobe und rassistische Inhalte“ zu propagieren, ist verleumderisch. Das eigentliche Vergehen dieses Mannes findet sich zwei Zeilen später: Er wendet sich „mit Vehemenz gegen eine geschlechtergerechte Sprache“ und vertritt „politisch ultrakonservative Werte“. Das geht natürlich nicht. Nicht für den vom toxischen Saulus gewandelten Erzähler-Paulus, der seine Privilegien gecheckt hat und daraus eine neue Form von Überlegenheit und Distinktionsgewinn zieht.
Am Ende steht dieser Mann mit seinem Lastenfahrrad am Neuköllner Zweigkanal, und während er in Gedanken einen Beatles-Song mit seinem Sermon zudröhnt, verbinden sich seine Tränen mit dem Wasser. Spätestens hier ist „Väter“ rettungslos im Kitsch der Selbstergriffenheit angekommen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Paul Brodowsky: Väter. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023.
304 Seiten, 24 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Paul Brodowskys Meditation über Vaterschaft und Mannsein heute, transgenerationale Prägungen und das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart ist ein entwaffnend ehrliches, hochambitioniertes, formal alle Grenzen und Kategorien bewusst überschreitendes Prosawerk.« tagesspiegel.de 20230522
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2023Täterschaftskontinuität
Paul Brodowsky fragt in seinem Roman "Väter" nach dem Erbe der NS-Erziehung
Als der Philosoph Odo Marquard 1995 in einer Vorlesung erstmals ausführlich über seine Zeit als Schüler einer Adolf-Hitler-Schule sprach, überraschte er sein überwiegend junges und in der Mehrzahl wohl linkes Publikum mit einem bemerkenswerten Schluss: Er habe, so Marquard, den Nationalsozialismus als "eine besonders scheußliche, widerliche und unüberbietbar schreckliche Form" der "Verweigerung der Bürgerlichkeit" erlebt, weshalb für ihn als einzige Konsequenz - nach einigen geistigen Wirrungen - nur der "Mut zur Bürgerlichkeit" und ein uneingeschränktes Bekenntnis zur liberalen bürgerlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland infrage gekommen sei. Damit stellte sich der Philosoph - völlig marquardtypisch - gegen die Lesart seiner Achtundsechziger-Kollegen, die den Faschismus als "terroristische Selbstverteidigung der bürgerlichen Gesellschaft" (Marquard) verstanden.
Es wäre sicher spannend zu erfahren, was wohl der Vater von Paul Brodowsky zu diesem Argument des Gießener Gelehrten sagen würde, denn als ehemaliger Schüler einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt (im Volksmund Napola genannt) teilte er einen ähnlichen Erfahrungshorizont mit dem fünf Jahre älteren Marquard und richtete sein Leben nach dem Krieg so ein, dass es von außen und innen betrachtet als durch und durch bürgerlich gegolten hat. Für den Sohn jedenfalls, der jetzt seinen autofiktionalen Romanerstling "Väter" vorgelegt hat, in dem er sich intensiv mit den Prägungen durch diesen Vater auseinandersetzt und die eigene Vaterrolle hinterfragt, erscheint das Leben seiner Eltern nach 1945 als Fortführung der im NS-System erfahrenen Sozialisation: "Je mehr ich zum Thema Napola lese, desto deutlicher erscheinen mir unsere Familienwerte und -strukturen von dieser Institution geprägt. Die Idee, als Gruppe, als Kohorte etwas Außergewöhnliches darzustellen, zur Elite zu gehören, fällt mir dabei als Erstes auf, also das, was ich inzwischen für mich als Brodowsky Exceptionalism oder in Anlehnung an das Konzept von White Supremacy auch als Brodowsky Supremacy bezeichne. Solche Ideen von Überlegenheit mag es, mal spielerischer, mal ernsthafter, in vielen Familien geben, ich habe das Gefühl, dass sie in unserer Familie besonders ausgeprägt sind - was als Beobachtung natürlich selbst wieder eine ins Negative gewendete Kehrfigur dieses Exzeptionalismus darstellt."
Paul Brodowskys namensgleiches Alter Ego ist jedenfalls äußerst beunruhigt über diese Kontinuitäten. Er, der 1980 geboren wurde und mittlerweile selbst zweifacher Vater ist, fragt sich, was da noch alles transgenerationell an ihn weitergegeben wurde und immer wieder in den eigenen Erziehungsmethoden trotz antiautoritärer Grundhaltung zum Vorschein kommt. Zumal sich das wohl zur Sippen-Entlastung gedachte Familiengerücht, die Urgroßmutter sei wahrscheinlich jüdisch gewesen, als falsch erweist.
Außer einer intensiven Selbstbeobachtung hat Paul sich jedoch weitere Gegenmittel geschaffen gegen die Welt des Vaters, jenes Antipoden, dessen Charakter er unter keinen Umständen reproduzieren will. Dazu gehört zum Beispiel eine ausgeprägte Skepsis gegen alles dichotomisch oder besser: binär Geordnete, das dem Vater anerzogen wurde: "die Gemeinschaft der Napolas gegenüber den übrigen Schulen des Reiches, Deutschland gegen den Rest der Welt, die arische Rasse gegenüber allen Nichtariern, die Menschheit gegenüber dem Tierreich, das Lebendige gegenüber dem Toten, die Erde gegenüber dem Kosmos, eine sich ins Unendliche fortsetzende, saubere, in den einzelnen Oppositionen binäre Reihe, die im Ganzen pyramidal geordnet ist".
Und natürlich zielt Pauls Erziehung der eigenen Kinder aufs Ideal gewaltfreier Pädagogik, denn sein Vater versteht auch jetzt, in der Erzählgegenwart, noch immer nicht, was gegen die eine oder andere Ohrfeige einzuwenden wäre, schließlich seien jahrhundertelang Kinder mit Schlägen erzogen wurden. Dass die "wohlgemeinten" Klapse, Püffe, Schellen darauf gerichtet sind, den Willen der Kinder zu brechen, anstatt sie zu selbstbestimmten, verantwortungsvollen Menschen werden zu lassen, weiß er dabei sehr wohl - und ist damit völlig einverstanden.
Paul Brodowskys beunruhigte Frage nach dem Fortwirken des NS-Erziehungserbes ist (auch literarisch) hochrelevant, und die Antworten, die er gibt, sind bedenkenswert und bisweilen alarmierend. Als Roman funktioniert der Text, dessen Entstehung als "Faltengebirge" der Leser ebenso metanarrativ mitverfolgen kann, indes nicht richtig: Es fehlt recht eigentlich an einem Plot, oft gerät das Erzählen darüber etwas zu akademisch, und die Sprünge zwischen den Zeitebenen sind hin und wieder nicht ganz nachvollziehbar. Dazu nerven auch Topoi, ohne die ein Berlin-Roman heutzutage einfach nicht mehr auszukommen scheint. Und doch: Das Debüt "Väter" lässt mehr als nur ahnen, dass mit dem Romancier Paul Brodowsky, der schon in anderen Genres erfolgreich ist und als Professor für Dramentechnik an der Berliner Universität der Künste wirkt, künftig zu rechnen sein wird. SASCHA FEUCHERT
Paul Brodowsky: "Väter". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 302 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Brodowsky fragt in seinem Roman "Väter" nach dem Erbe der NS-Erziehung
Als der Philosoph Odo Marquard 1995 in einer Vorlesung erstmals ausführlich über seine Zeit als Schüler einer Adolf-Hitler-Schule sprach, überraschte er sein überwiegend junges und in der Mehrzahl wohl linkes Publikum mit einem bemerkenswerten Schluss: Er habe, so Marquard, den Nationalsozialismus als "eine besonders scheußliche, widerliche und unüberbietbar schreckliche Form" der "Verweigerung der Bürgerlichkeit" erlebt, weshalb für ihn als einzige Konsequenz - nach einigen geistigen Wirrungen - nur der "Mut zur Bürgerlichkeit" und ein uneingeschränktes Bekenntnis zur liberalen bürgerlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland infrage gekommen sei. Damit stellte sich der Philosoph - völlig marquardtypisch - gegen die Lesart seiner Achtundsechziger-Kollegen, die den Faschismus als "terroristische Selbstverteidigung der bürgerlichen Gesellschaft" (Marquard) verstanden.
Es wäre sicher spannend zu erfahren, was wohl der Vater von Paul Brodowsky zu diesem Argument des Gießener Gelehrten sagen würde, denn als ehemaliger Schüler einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt (im Volksmund Napola genannt) teilte er einen ähnlichen Erfahrungshorizont mit dem fünf Jahre älteren Marquard und richtete sein Leben nach dem Krieg so ein, dass es von außen und innen betrachtet als durch und durch bürgerlich gegolten hat. Für den Sohn jedenfalls, der jetzt seinen autofiktionalen Romanerstling "Väter" vorgelegt hat, in dem er sich intensiv mit den Prägungen durch diesen Vater auseinandersetzt und die eigene Vaterrolle hinterfragt, erscheint das Leben seiner Eltern nach 1945 als Fortführung der im NS-System erfahrenen Sozialisation: "Je mehr ich zum Thema Napola lese, desto deutlicher erscheinen mir unsere Familienwerte und -strukturen von dieser Institution geprägt. Die Idee, als Gruppe, als Kohorte etwas Außergewöhnliches darzustellen, zur Elite zu gehören, fällt mir dabei als Erstes auf, also das, was ich inzwischen für mich als Brodowsky Exceptionalism oder in Anlehnung an das Konzept von White Supremacy auch als Brodowsky Supremacy bezeichne. Solche Ideen von Überlegenheit mag es, mal spielerischer, mal ernsthafter, in vielen Familien geben, ich habe das Gefühl, dass sie in unserer Familie besonders ausgeprägt sind - was als Beobachtung natürlich selbst wieder eine ins Negative gewendete Kehrfigur dieses Exzeptionalismus darstellt."
Paul Brodowskys namensgleiches Alter Ego ist jedenfalls äußerst beunruhigt über diese Kontinuitäten. Er, der 1980 geboren wurde und mittlerweile selbst zweifacher Vater ist, fragt sich, was da noch alles transgenerationell an ihn weitergegeben wurde und immer wieder in den eigenen Erziehungsmethoden trotz antiautoritärer Grundhaltung zum Vorschein kommt. Zumal sich das wohl zur Sippen-Entlastung gedachte Familiengerücht, die Urgroßmutter sei wahrscheinlich jüdisch gewesen, als falsch erweist.
Außer einer intensiven Selbstbeobachtung hat Paul sich jedoch weitere Gegenmittel geschaffen gegen die Welt des Vaters, jenes Antipoden, dessen Charakter er unter keinen Umständen reproduzieren will. Dazu gehört zum Beispiel eine ausgeprägte Skepsis gegen alles dichotomisch oder besser: binär Geordnete, das dem Vater anerzogen wurde: "die Gemeinschaft der Napolas gegenüber den übrigen Schulen des Reiches, Deutschland gegen den Rest der Welt, die arische Rasse gegenüber allen Nichtariern, die Menschheit gegenüber dem Tierreich, das Lebendige gegenüber dem Toten, die Erde gegenüber dem Kosmos, eine sich ins Unendliche fortsetzende, saubere, in den einzelnen Oppositionen binäre Reihe, die im Ganzen pyramidal geordnet ist".
Und natürlich zielt Pauls Erziehung der eigenen Kinder aufs Ideal gewaltfreier Pädagogik, denn sein Vater versteht auch jetzt, in der Erzählgegenwart, noch immer nicht, was gegen die eine oder andere Ohrfeige einzuwenden wäre, schließlich seien jahrhundertelang Kinder mit Schlägen erzogen wurden. Dass die "wohlgemeinten" Klapse, Püffe, Schellen darauf gerichtet sind, den Willen der Kinder zu brechen, anstatt sie zu selbstbestimmten, verantwortungsvollen Menschen werden zu lassen, weiß er dabei sehr wohl - und ist damit völlig einverstanden.
Paul Brodowskys beunruhigte Frage nach dem Fortwirken des NS-Erziehungserbes ist (auch literarisch) hochrelevant, und die Antworten, die er gibt, sind bedenkenswert und bisweilen alarmierend. Als Roman funktioniert der Text, dessen Entstehung als "Faltengebirge" der Leser ebenso metanarrativ mitverfolgen kann, indes nicht richtig: Es fehlt recht eigentlich an einem Plot, oft gerät das Erzählen darüber etwas zu akademisch, und die Sprünge zwischen den Zeitebenen sind hin und wieder nicht ganz nachvollziehbar. Dazu nerven auch Topoi, ohne die ein Berlin-Roman heutzutage einfach nicht mehr auszukommen scheint. Und doch: Das Debüt "Väter" lässt mehr als nur ahnen, dass mit dem Romancier Paul Brodowsky, der schon in anderen Genres erfolgreich ist und als Professor für Dramentechnik an der Berliner Universität der Künste wirkt, künftig zu rechnen sein wird. SASCHA FEUCHERT
Paul Brodowsky: "Väter". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 302 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main