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Obsessiver Kunstgenuß: Evelyn Grills Museumsbesucherroman
Die Schönheit ist alt geworden, und wenn sie dennoch - in der Kunst wie im Leben - ihre einstmalige Anziehungskraft behauptet, scheint sie dem Ekel verwandt zu sein. Das zeigte eine Ausstellung, die zunächst in Washington, dann München zu sehen war und mit dem Thema "Beauty now - Schönheit in der Kunst am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts" eine Ästhetik der Nicht-mehr-mehr-schönen-Künste vorstellt. In den "History Portraits" von 1988/90 posierte da Cindy Sherman in den schönsten Kostümen der schönsten Renaissanceporträts, ihre Gesamterscheinung aber, die pralle Wölbung der Stirn, das fette Rosa der Wangen machen die alte Pracht abstoßend. Wo Schönheit heute noch auftritt, umgibt sie die Aura von Untergang und Vergänglichkeit.
Deutlich genug verkündet der Titel "Vanitas", wie sehr Evelyn Grill vom Hautgout dieser morbiden Schönheit fasziniert ist. Hofstätter, die Hauptfigur ihrer Erzählung, einst ein berühmter Rechtsanwalt, nun ein von seiner Frau ausgehaltener Bonvivant, lebt sein Leben nicht, er durchwandert es wie eine Gemäldegalerie und gerät, je nach Lebenslage, in die Säle der schönen Kunst oder in jene, wo die Maler der Gegenwart ihre Wiederbelebung als Zerrbild versuchen. Jede Szene wird Hofstätter zur Inszenierung: Die eigene Mutter erscheint ihm schön wie die Frau auf einem Gemälde von Rossetti; besucht ihn ein junger Mann, so schlingt dieser seine "langen Beine so umeinander, daß Hofstätter an den Thyrsusstab der Bacchantinnen erinnert wurde". Die Wirklichkeit aber beschmutzt diese imaginären Bilder, mit deren Hilfe Hofstätter sein Leben in vergangene Pracht taucht, und verzerrt die Schönheit zur Groteske.
Inkarnation aller Vergänglichkeit ist Hofstätters Frau Olga, eine ehemalige Schauspielerin, die aus erster Ehe mit einem sehr alten und sehr reichen Fürsten sehr viel Geld für jene "Voluptas" mitgebracht hat, die die neue Ehe zum abstoßenden Dauerfest der "Vanitas" macht. Im Bade sich räkelnd, erscheint die Gattin dem Ehemann zwar wie "Venus Anadyomene", doch beleidigt die "irritierende Geräumigkeit" ihrer Figur, die er mit Streicheln, Kraulen, Massieren zu bedienen hat, sein Geschmacksempfinden. Die "greisenhafte Häßlichkeit" dieser Frau ist mit Worten nicht zu fassen, nur Künstlerhand könnte sie festhalten: Hofstätter "stellte sich das Gesicht seiner Frau in seinem grausamen Verfall von Lucian Freud gemalt vor".
Der Haß, den die Eheleute gegeneinander entwickeln, wird als Bilderstreit ausgetragen. Der Sohn, als er einmal ohnmächtig nach Hause gebracht wird, erinnert den Vater auf der obsessiven Wanderung durch sein imaginäres Museum an den "Schlaf des Endymion": "Niemals würde Hofstätter Girodet-Triosons großformatiges Ölbild vergessen." Der obsessive Kunstgenuß ist kein Charakterfehler der Romanfiguren, sondern eine Attitüde der Autorin. Auch die Leidensgeschichte, die der Sohn zu erdulden hat und die wie ein Vorwurf gegen falsche Erziehung zu lesen wäre, ist ja am ausdrucksvollsten schon in Goyas "Caprichos" vorweggenommen, auf die das Tagebuch des Sohnes oft genug anspielt. Evelyn Grill ist selbst der Ästhet, der nur durch Bilder spricht. Sie durcheilt die europäischen Museen, um die dort versammelte Kunstschönheit der Häßlichkeit eines sybaritischen und verkommenen Lebens zu konfrontieren, das aber selbst schon wieder seinen Ausdruck in der gegenwärtigen Malerei gefunden hat.
Kunst und falsche Pracht, Schönheitssinn und Prunksucht, ästhetisches Vergnügen und Eitelkeit, interesseloses Wohlgefallen und Wollust sind die Pole einer spätbarocken Weltanschauung und die Stoffe ihres Welttheaters, auf dem aber - ein besonders aparter Kontrast - nur moderne Figuren auftreten. Evelyn Grill zitiert viel Schönheit herbei und setzt dieser viel Schmutz entgegen; im Zimmertheater ihres Romans findet eine fortwährende Kostümprobe unter häßlichen Schauspielern statt. Das Medium, durch das sie spricht, ist die Kunst, der Stil aber, den sie - freilich bewußt - wählt, der Kitsch.
Damit fordert die Autorin den Vergleich mit der gegenwärtigen bildenden Kunst heraus, die Schönheit im Kitsch zerstört durch Übertreibung oder in der Groteske durch Konfrontation mit dem Verfall. Was aber im Bild gelingt, ist nicht ebenso durch das Wort zu leisten. Die übermütige Geschmacklosigkeit Jeff Koons etwa oder die lustvoll hingelagerten fetten Göttinnen Picassos, rücken, bei aller Parodie, die Schönheit unmittelbar vors Auge. Der Betrachter erlebt ein Auferstehungsfest, und im modernen Ambiente gerät dieses auch noch zu seinem großen Vergnügen zur Humoreske. Bei Evelyn Grill findet ein nicht enden wollendes Begräbnis statt. Was als Bild zur Veranschaulichung der Figuren und Szenen herangezogen wird, muß vorher schon im Gedächtnis ihres kunstsinnigen Rechtsanwalts eingesargt gewesen sein. Nach einem kurzen Anruf sinkt es sofort wieder in die Erinnerung zurück. Deshalb muß Evelyn Grill auch unentwegt neue Bilder zitieren, was mehr nach Bildungsgehabe denn nach Kritik an der traditionellen Schönheit aussieht. Zeitgemäß ist die Erzählung aber dennoch, denn den alten romantischen Künstlerroman setzt eine neue Gattung fort, der Museumsbesucherroman.
Evelyn Grill: "Vanitas oder Hofstätters Begierden". Roman. Residenz Verlag, Salzburg 2005. 181 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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