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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Necati Öziris Roman "Vatermal" schildert eine Ruhrgebietsjugend
Als es fast geschafft ist, als zur Einbürgerung des achtzehnjährigen türkischstämmigen Arda nur noch ein letztes Dokument fehlt, reicht es dem jungen Mann. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, seine Familie lebt hier, er hat die Geburtsurkunde seiner Mutter und die eigene in die Behörde mitgebracht und dem Sachbearbeiter, einem Herrn Kozminski, vorgelegt. Er hat sogar eidesstattlich bekundet, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hat, was für Ardas Einbürgerung eine Rolle spielt - "Vater gegen Pass. Guter Tausch", denkt der Abiturient. Dann aber verlangt Kozminski einen "schriftlichen Sprachnachweis" von ihm, "mindestens 300 Zeichen". Und bekommt einen Text, den er "sehr witzig" findet. Zwei Grammatikfehler moniert er noch, dann bekommt Arda seinen Pass.
Der aus dem Stegreif geschriebene satirische Text aber kommt in die Akte. Wer immer sie einmal aufschlägt, wird darin alle Klischees wiederfinden, gegen die junge Männer wie Arda in Deutschland zu kämpfen haben. "Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar", heißt es dort und schließlich: "Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos." Eben mit dem Text, der zur Grundlage seiner Einbürgerung werden soll, unterläuft Arda das ganze Verfahren und weist damit wiederum nach, dass er nicht nur mit der Gesellschaft und ihren Vorurteilen vertraut ist, in der er längst lebt, sondern auch, dass er deren Sprache perfekt genug beherrscht, um in ihr die Ängste zu beschreiben, die sich an ihn knüpfen. Inhaltlich ist der Text eine einzige Warnung, formal erfüllt er die Anforderungen zur Einbürgerung spielend.
Der Sachbearbeiter Kozminski jedenfalls, an dem Arda in dieser Situation zum ersten Mal einen leichten polnischen Akzent wahrnimmt, scheint ein ähnliches Bild von dem Verfahren - Arda nennt die Besuche bei der Behörde "geraubte Zeit" - zu haben, das Arda gerade durchläuft. Es gehe dabei nicht um den jungen Mann, sagt er: "Das sind Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland und entweder wir ziehen das jetzt durch, oder Sie verlassen dieses Büro so staatenlos, wie Sie gekommen sind."
Arda erzählt diese Episode aus dem Abstand von einigen Jahren in einer Situation existenzieller Bedrohung. Eine Autoimmunkrankheit hat den Studenten in kürzester Zeit auf die Intensivstation eines Krankenhauses gebracht; ob er überleben wird, ist offen. In diesem Moment blickt er zurück - auf das, was gewesen ist, und das, was hätte sein können, wenn sein Vater die Familie nicht schon so früh verlassen hätte, dass der Junge ihn nie kennenlernen konnte.
An diesen abwesenden Vater, Metin, richtet Arda nun seine Worte, die er vom Krankenbett aus in seinen Laptop tippt - Vermächtnis oder Erinnerungsstütze, je nachdem, wie die Sache ausgeht, bei der es allerdings nicht viel Hoffnung zu geben scheint. Dabei zeigt sich Arda als Erzähler von Necati Öziris Roman "Vatermal" durchaus skrupulös, er hält inne, setzt mehrfach an, prüft, was er berichtet hat, auf ein verklärendes Wunschdenken hin, verwirft und holt lieber neu aus. Er unterscheidet deutlich zwischen dem, was er selbst erlebte und daher mit größerer Sicherheit erzählen kann, und dem anderen, das er gehört hat oder sich auch nur vorstellt. Die Grenzen dieser Bereiche respektiert er und findet doch zu einer kohärenten Erzählung einer vorläufigen Lebensgeschichte.
Vor allem aber setzt seine dramatische Situation auch bei seiner Mutter und seiner älteren Schwester Aylin etwas in Gang. Die beiden sind sich spinnefeind, seit Aylin nach einem Streit die Wohnung verlassen hat und von einer deutschen Pflegefamilie aufgenommen wurde. Inzwischen hat sie ihren Namen in "Yvonne" geändert, eine Banklehre gemacht und sich in eine Polizistin verliebt, mit der sie zusammenlebt. Dass ihr Vater, dem sie sich viel näher fühlte als der Mutter, damals gegangen ist und den Kontakt abgebrochen hat, hat sie tief getroffen, immerhin bildete sie zusammen mit Arda dessen Kindheit über "ein eingespieltes Team", bis sie das Versprechen brach, das sie der Mutter gegeben hatte: nicht auch noch zu gehen. Nun, auf der Intensivstation, gehen sie sich weiterhin aus dem Weg.
Necati Öziri, Jahrgang 1988, der als Dramaturg arbeitet und 2021 einen Ausschnitt aus diesem Roman in Klagenfurt vorgetragen hat, greift dabei auf sein 2017 uraufgeführtes Theaterstück "Get Deutsch or Die Tryin'" zurück, ohne dass man dem Roman diese Herkunft anmerken würde. Entstanden ist ein großer Text, der von seinem Ausgangspunkt mit einer erklärten Absicht auf einen Adressaten zielt und doch allmählich weit darüber hinausgeht, dass ein Sterbenskranker dem abwesenden Vater erzählen will, welchen Sohn er verpasst hat.
Stattdessen werden Schicht um Schicht Erinnerungsfragmente einer Ruhrgebietsjugend um die Jahrtausendwende besichtigt und auserzählt: frühe Bilder der verzweifelten, trinkenden Mutter, die außer der Abwesenheit des Vaters noch einen weiteren Grund zur Verzweiflung hat, den sie bis zum Ende des Romans für sich behält; die Freunde vom Bahnhofsvorplatz und ihre Familien; latente und manifeste Ausländerfeindlichkeit; schließlich der stille Tod einer Frau, die Arda sein Leben lang gekannt hatte.
Je weiter diese Erinnerungen niedergeschrieben werden, umso mehr beleuchten sie einander, stellen sich gegenseitig infrage oder ergänzen, was in einem früheren Fragment noch nicht sichtbar war. Das betrifft vor allem die Mutter, die deutlich nuancierter wird, je länger von ihr berichtet wird. Welche Rolle die türkische Kindheit für ihr Leben in Deutschland spielt, wie sehr sie sich bemüht, gerade ihre Tochter vor dem zu beschützen, was sie selbst durchmachen musste, wird ebenso deutlich wie die Tragik, die daraus entsteht, dass sie mit den Kindern hoffnungslos überfordert ist und so Aylin und Arda permanent vor die Frage stellt, wie weit Loyalität der Mutter gegenüber gehen kann.
Der Junge jedenfalls, der sich als den "Klebstoff" empfindet, der die verbliebene Familie zusammenhält, wird mehr und mehr zum Beobachter, einem, der lange nicht spricht und dann umso aufmerksamer einordnet, was er sieht.
"Wir selbst waren einander die Väter, die wir nie hatten", sagt Arda einmal über sich und seine Freunde. Umso mehr erzählt er von den Müttern, ihren Freundinnen und Töchtern. Der nüchterne und doch liebevolle Blick, den er auf sie richtet, überlagert am Ende die Aporie der Vatersuche. Schon deshalb wünscht man der vaterlosen Familie noch eine Zukunft zu dritt. TILMAN SPRECKELSEN
Necati Öziri:
"Vatermal". Roman.
Claassen Verlag, Berlin 2023. 304 S., geb., 25,- Euro.
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