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Felix Kuchers Roman über einen Lebensreformer
Karl Wilhelm Diefenbach, 1851 bis 1913, Maler, Lebensreformer, Eigenbrötler, geriet lange Zeit in Vergessenheit. Heute gilt er aber - wieder - in der Kunstgeschichte als ein früher, sehr spezieller Vertreter des Symbolismus und, was seine reformerischen Ansätze betrifft, als im deutschen Sprachraum wichtiger Propagandist von Vegetarismus (damals noch "Vegetarianismus" genannt), Tierschutz, Freikörperkultur und Pazifismus. Die erste Friedensnobelpreisträgerin, Bertha von Suttner ("Die Waffen nieder"), war mit ihm in Freundschaft verbunden. Beide mussten übrigens, er um etwa ein halbes Jahr, sie um einen knappen Monat, den Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr erleben.
Felix Kucher hat sich in unserer Pandemiezeit zu seinem Roman, eigentlich eher eine Mischung aus Biographie, Roman und Anekdoten, über Diefenbach vermutlich dadurch inspirieren lassen, dass dieser auch vehementer Impfgegner und mehr als skeptisch gegenüber den "Pharmakologen" (will heißen: den Herstellern pharmazeutischer Produkte und der sogenannten Schulmedizin) war. Damals freilich nicht ganz unbegründet, weigerten sich doch Ärzte und Krankenhauspersonal noch in den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts, trotz der Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis (um 1848) und Florence Nightingale (nach dem Krimkrieg), auch nur die geringsten Forderungen der Körperhygiene - Händewaschen! - während der Ausübung ihrer Berufe in Betracht zu ziehen. Andererseits hielt Diefenbach selbst Wasser, Frischluft und Sonnenlicht für ausreichend reinigend. Seife wurde damals ja auch noch zu einem gewissen Anteil aus Tierfetten hergestellt, was seine Abneigung begründet haben mag.
Für seine Erzählung greift Kucher in etwa den Zeitraum von 1880 bis 1892 heraus. Die Jahre zuvor, also die Kindheit Diefenbachs und das Verhältnis zu seinen Eltern, lässt er den "Meister", wie Diefenbach auch gerne von seinen Anhängern genannt wurde - er selbst sah sich eher als "primus inter pares", ließ sich auch als "Homo", also Lateinisch für "Mensch", bezeichnen -, in einem Gespräch gleich zu Anfang erzählen. Den auch nicht gerade ereignislosen Rest seines Lebens, nach der großen, künstlerisch erfolgreichen, finanziell aber desaströsen Ausstellung in Wien zu Beginn des Jahres 1892, schildert Kucher in einer knappen "Nachschrift".
Diese bisweilen doch recht eigenartig altertümliche Wortwahl findet sich im ganzen Werk. Für den nicht in Details geschilderten, aber öfters erwähnten Sex zwischen - meistens - Diefenbach, der zwar verheiratet war, es aber als Verfechter nicht nur des Nudismus, sondern auch der "freien Liebe" mit ehelicher Treue gar nicht genau nahm, und einer erklecklichen Anzahl von Frauen liest man etwa den antiquierten, eventuell aber noch im Juristendeutsch verbreiteten Begriff "Geschlechtsakt". Die ersten Gespräche, bevor der "Meister" den Leuten das Du anbietet und ihnen lateinische Spitznamen (Fidelis, Fidus, Helios, Lucidus et cetera) gibt, finden in einer "Sage Er - sage Sie"-Form statt, die man eher dem achtzehnten als dem neunzehnten Jahrhundert zuordnen würde. Nun ja, vielleicht kann sich Kucher da auf Quellen stützen, die er uns aber nicht verrät. Oder hat man damals in und um München herum, wo sich der Großteil der Handlung in von Diefenbach gegründeten "Kommunen" abspielt, tatsächlich noch so gesprochen?
Festzuhalten bleibt jedenfalls, und Belege dafür findet man heute mit Leichtigkeit in Bibliotheken und selbstverständlich im Internet, dass der oft von seinen Gegnern - "Feinde" wäre zu viel unterstellt - als "Kohlrabiapostel" betitelte, in der Stadt zumindest nicht nackte, aber nur in eine Wollkutte gehüllte, meist bloßfüßige, bei strenger Kälte in Gummistiefeln (wegen des Tierwohls niemals Lederschuhe!), mit wallender Mähne und wildem Vollbart auftretende und seine Lehren predigende Diefenbach ein stadtbekannter Sonderling war.
Ganz wird man freilich den Eindruck nicht los, dass der aus Kärnten stammende Autor seinen Romanhelden nie ganz ernst nimmt, sich gar, trotz gewissen Respekts für manche der Überzeugungen Diefenbachs, über ihn lustig macht. Das geht allerdings schon in Ordnung so und macht die Lektüre, trotz einiger Lücken in der Schilderung jener Jahre, durchaus unterhaltsam. MARTIN LHOTZKY
Felix Kucher: "Vegetarianer". Roman.
Picus Verlag, Wien 2022. 232 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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