Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nico Bleutge dichtet über Erinnerungen und Träume
Wer Lyrik liest, konzentriert sich meist auf ein einzelnes Gedicht oder einen Band. Wer sie schreibt, hat oft größere Zusammenhänge im Blick. Liest man die Titel der drei bislang erschienenen Lyrikbände von Nico Bleutge in Folge, lässt sich beobachten, wie der 1972 geborene, vielfach Ausgezeichnete mit großer Bedachtsamkeit ein poetisches Bezugssystem auf- und ausbaut: Sein Debüt "klare konturen" bezeichnet die Umrisslinien von Körpern. "fallstreifen" (2008) verwendet die meteorologische Bezeichnung für Niederschläge, die, bevor sie die Erde erreichen, in der Luft verdunsten und dabei schleier- oder streifenartige Schleppen bilden. Aus Linien werden Schleppen, die sich in "verdecktes gelände", so der Titel des jüngsten Bandes, zur Fläche weiten. Vollzieht man den Dreischritt, wird eine zweite, in gewissem Sinne gegenläufige Bewegung erkennbar. Sie führt von der Klarheit über ein Verschleiern hin zum Verdeckten.
Man kann auch in der Mikrostruktur der in Kleinbuchstaben gesetzten Gedichte, in ihrem Rhythmus, ihrer fein austarierten Lautlichkeit und Motivik, diesen Zusammenhängen nachspüren, die Bleutges Formbewusstsein und seine immense Fähigkeit zum Weben feinster sprachlicher Texturen belegen. Dafür ist zunächst Geduld unabdingbar, denn die Gedichte erscheinen kühl, was ihrem Fokus auf oft menschenleere Landschaften geschuldet ist, mehr jedoch der fast gänzlich fehlenden Selbstadressierung des lyrischen Ichs. Das Ich in "verdecktes gelände" mutet an wie ein Flussbett, durch das Bilder und Töne fließen, wie ein Medium, das visuelle und akustische Phänomene der Natur, urbaner Landschaften und städtischer Peripherien vermittels Sprache aufzeichnet und mit der Erinnerung reflektierend ins Verhältnis setzt. Durchlässig für die Phänomene, versucht dieses Ich umgekehrt, sich sprechend in der Welt zu verankern. Die Wechselwirkungen zwischen und Durchdringungen von Wahrnehmen, Benennen und Bedenken entfalten eine soghafte Wirkung.
Sie zeigt sich schon im ersten Gedicht "dämmerung. schwanken" in der ersten der fünf Abteilungen von "verdecktes gelände". In der Dämmerung, in der sich das Licht noch nicht durchgesetzt hat oder verschwunden ist, verliert die Außenwelt an Sichtbarkeit, gewinnt Wahrgenommenes Raum und kann sich in das Ich einsenken: "lange schon wies der weg / durch die felder. zweige bewegten sich, regen / strich durch die stirn. das wasser schob sich quer an den flanken der bäume entlang." Der Regen sickert ins Bewusstsein, streicht "durch die stirn", nicht "über die Stirn", besetzt den Raum des Denkens. Solcherart flirrend und zugleich frei von schwärmerischen Gesten sind Bleutges Gedichte ein Sprechen über die Natur "nach der natur", wie es in "fallstreifen" heißt. Mythologische oder transzendente Bezüge lassen sich allenfalls erahnen. Neben den Verweisungszusammenhängen innerhalb der Bände muss man sich konkrete Bezugspunkte einzelner Verse nicht selten aus "Nachbildern" der Verse erschließen.
Das Gedicht "und dann hinunter" etwa verwendet Sprachmaterial aus Johann Peter Hebels "Von den Schlangen", wo es heißt: "Und die Schlange, ob sie gleich mit dem Bauch auf der Erde schleicht, ist doch ein merkwürdiges und wirklich ein schönes Tier." Anders als Hebels die Natur und die göttliche Schöpfung preisende Kalendergeschichte, nennt Bleutges Gedicht die Schlangen nicht beim Namen, sondern nur in einer Anmerkung. Gegenstand des Gedichts ist eher die "Schlangenhaftigkeit", es stellt sinnliche Eindrücke vor, die von Schlangen erzeugt werden, ein Geräusch von sich berührender Reptilienhaut oder den Anblick und das Aufgewühlte von bewegtem Wasser. Offen bleibt, ob die Schlangen wahrgenommen, vorgestellt oder erinnert sind: "wer könnte sagen, ob sie kommen, schon dagewesen sind" - die Ungewissheit befördert die innere Spannung und den Reiz der Verse.
In ihrer Klarheit und Genauigkeit sind Bleutges Gedichte Talismane gegen ein Abstumpfen der Sinne und jeglichen Alltagssprachbrei. Sie fordern dazu auf, sich langsam und konzentriert den Räumen und Rändern des Wahrnehmens, Denkens, Erkennens, Erinnerns und Sprechens zu nähern. Mit seinem Vokabular, in dem, wie in den späteren Gedichten Paul Celans, geologische Begriffe wie "muschelkalk", "ton", "lehm", "grauwacke", "schlamm" auftauchen, fahndet "verdecktes gelände" nicht nur nach der Schichtung und Beschaffenheit der Erde. Das Vokabular lässt sich auch auf Sprach- und Bewusstseinsschichten und Erinnerungen beziehen. Bleutges Gedichte durchmessen ein Gelände, in dem jede Entdeckung neue Rätsel gebiert.
BEATE TRÖGER
Nico Bleutge: "verdecktes gelände". Gedichte.
Verlag C. H. Beck, München 2013. 76 S., geb., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main