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Die NKWD-Lager in der SBZ/DDR dienten der Isolierung potentieller Feinde
Er war ein Schlüsseldokument, streng geheim, mit dem die Existenz russischer Internierungslager in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands begründet wurde - der Befehl Nr. 00315 des NKWD vom 18. April 1945. Er trug die Unterschrift von L. P. Berija, dem berüchtigten Volkskommissar für innere Angelegenheiten, und verstetigte "tschekistische Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen". Sie wurden schon seit 1944 ausgeführt. Zu verhaften waren "Spione", "Diversanten", "Terroristen", "aktive Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei", "Führer der faschistischen Jugendorganisationen" und andere pauschal Verdächtigte, die in Gefängnissen und Lagern "an Ort und Stelle unterzubringen" waren. So etablierte Stalins Geheimpolizei 1945 in der SBZ zahlreiche Gefängnisse, größere und kleinere, und richtete dreizehn "Internierungslager" ein, intern als "Speziallager" bezeichnet, die ihre offizielle Rechtfertigung durch Verweis auf die Erfordernisse der Entnazifizierung erfahren sollten.
Ursprünglich schien dies durchaus plausibel. "Dennoch kann von einer zielgerichteten Entnazifizierungspolitik mittels Internierungen nicht die Rede sein", resümiert die in Berlin lebende Historikerin Bettina Greiner, die das NKWD-Lagersystem in der SBZ/DDR zum Gegenstand einer fundierten wissenschaftlichen Untersuchung macht. Im Ergebnis zerstört sie die Entnazifizierungslegende. Die sowjetischen Verfolgungen der frühen Nachkriegsjahre charakterisiert die Autorin mit Recht als "Repressionsmaßnahmen, mit denen die Besatzungsmacht ihrer sicherheitspolitischen Paranoia Rechnung trug. Das legitime Ansinnen, deutsches Unrecht zu ahnden, blieb dabei auf der Strecke." Die Gesamtzahl der Internierten bis 1950 wurde in Moskau 1990 auf 157 827 Männer und Frauen beziffert, davon 122 671 deutsche Zivilpersonen, von denen 42 889 starben. Jeder dritte Häftling ist umgekommen, im Lager elend verhungert oder an Krankheiten zugrunde gegangen - unter ihnen mehrere tausend Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren, denen man überwiegend unbegründet "Werwolf"-Aktivitäten anlastete. Die Dunkelziffer der Opfer kennt niemand.
Frau Greiners Forschungen basieren auf russischen Archivalien, einschlägiger Fachliteratur und historischer Dokumentation, aber auch auf 77 Erlebnis- und Erfahrungsberichten ehemaliger Häftlinge, mit denen sie sich überkritisch auseinandersetzt. So etwa, wenn sie ihnen vorhält, "die nationalsozialistische Vorgeschichte auszublenden und ausnahmslos alle Speziallagerhäftlinge zu unschuldigen Opfern zu erklären". Andererseits erlauben die dramatischen Totenzahlen in den Speziallagern nicht deren Gleichsetzung mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern, wozu mancher Ex-Häftling neigt. Daraus den Vorwurf abzuleiten, stalinistisch Verfolgte wollten die NS-Verbrechen relativieren und die Deutschen von ihrer Vergangenheit freisprechen, ist aber allzu rigoros gefolgert.
Von den NKWD-Lagern, die bis 1948 der SMAD in Berlin-Karlshorst, danach der Hauptverwaltung Lager (GULag) in Moskau unterstanden, wurden zehn in den ersten drei Nachkriegsjahren wieder aufgelöst. Obwohl durch Befehl Nr. 35 der SMAD vom 26. Februar 1948 die Entnazifizierung in der SBZ für abgeschlossen erklärt worden war, wurden die drei größten Speziallager - Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen - weiterbetrieben. Sie wurden erst zwei Jahre später "liquidiert", ohne dass alle Häftlinge entlassen wurden. Zur Entlassung kamen 9634 Internierte und 5404 SMT-Verurteilte. 3432 Internierte wurden der DDR-Strafjustiz überantwortet und in den "Waldheimer Prozessen" rechtsstaatswidrig verurteilt, 32 zum Tode. 10 513 SMT-Verurteilte wurden der DDR zum Strafvollzug übergeben, weitere 649 in die Sowjetunion verbracht.
Die Autorin hat das alles akkurat aufgearbeitet. Sie gliedert ihre Monographie in drei Teile. Nach einer einleitenden Darstellung des Lagersystems untersucht sie konkret Haftmaßnahmen, Hafterfahrungen und Hafterinnerungen. Den Schwerpunkt macht Sachsenhausen aus. Das frühere NS-KZ war mit 60 000 Häftlingsdurchgängen bis 1950 das größte Speziallager. Es war ein "doppeltes Lager". Außer Internierten, die nie vor Gericht gestellt waren, wurden hier seit 1947 zunehmend Verurteilte Sowjetischer Militärtribunale (SMT) inhaftiert. Sie stellten nach Internierten-Entlassungen 1948 das größere Häftlingskontingent in Sachsenhausen. Zu über 70 Prozent waren sie wegen "konterrevolutionärer Delikte" verurteilt worden, nicht wegen NS-Verbrechen, politisch willkürlich.
Die Funktion der Speziallager erschöpfte sich in der Isolierung potentieller Feinde. Zur Erinnerung: Am 5. September 1918, also kaum ein Jahr nach der Oktoberrevolution in Russland, erließ die Sowjetregierung das Dekret "Über den roten Terror", das die TscheKa - Lenins Geheimpolizei - ausdrücklich ermächtigte, "die Sowjetrepublik vor ihren Klassenfeinden zu schützen, indem diese in Konzentrationslagern isoliert werden". Es war die Geburtsurkunde des Archipel GULag. Die 1945 in der SBZ errichteten Speziallager entsprachen insoweit der Tradition des "roten Terrors". Die Entnazifizierung war Nebensache. Durchsetzung und Sicherung der zweiten Diktatur war entscheidend. Das Fazit, das Bettina Greiner zieht, überrascht daher nicht. Es steht auf der letzten Seite ihres geschichtspolitisch relevanten Buches: "Bei aller gebotenen Abgrenzung zum Nationalsozialismus gibt es keinen Grund, die Speziallager nicht bei dem Namen zu nennen, der ihnen zusteht: Konzentrationslager."
KARL WILHELM FRICKE
Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2010. 510 S., 35,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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