Gerichte nehmen mit ihren Urteilen großen Einfluss auf Verfassungsentwicklungen. Wie aber können diese Urteile Verfassungen erweitern, verdichten oder verändern? Und was heißt es überhaupt, rechtlich zu urteilen? Um verfassende Urteile über ihre Rechtsförmigkeit zu erklären, rekonstruiert Sabine Müller-Mall in ihrem scharfsinnigen Buch Verfahren juridischen Urteilens. Sie entwirft nicht nur eine grundlegende Perspektive auf den Zusammenhang von Recht und Konstitutionalisierung, sondern auch eine Theorie des Rechts, die das Urteilen zum Ausgangspunkt nimmt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Recht abstrakt und teilweise etwas hermetisch liest sich Christian Neumeiers Kritik über ein Buch, das sehr grundsätzliche Fragen zu stellen scheint: In einer Zeit stabiler Institutionen und geschriebener Verfassungen kommt juristischen Urteilen immer mehr prägende Kraft zu. Es sei eine "Konstitutionalisierung" der Gerichte zu beobachten, so der rezensierende Jurist, und darum sei auch die Frage nach der Legitimität zu stellen. In juristischen Urteilen blieben bei allen Gesetzen und Verfahren Spuren des Subjektiven, die nicht begrifflich aufzulösen seien. Gedankenreich beschäftige sich Müller-Mall mit all den theoretischen Abgründen, die sich hier auftun. Besonders interessant findet Neumeier die Rückgriffe auf Immanuel Kant und Friedrich Carl von Savigny. Mit Erstaunen liest man man etwa, das Müller-Mall auch aus Kants Theorie des ästhetischen Urteils eine Menge über das juristische zu lernen scheint. Und übrigens: "Die souveräne Theoretisierung mit Sinn für Details von Rubrum bis Tenorierung macht besondere Freude", versichert Neumeier.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2023In der Wiederholungsschleife, bis es passt
Vom Wechselspiel der Normen und Fälle: Sabine Müller-Mall entwirft eine Theorie des juridischen Urteilens
"Gerichte", sagt die ratlose Mittelschichtstimme der Gegenwart in Kathrin Rögglas preisgekröntem Pastiche "Bauernkriegspanorama", "sind ja seit längerem unsere letzte Hoffnung." Hoffnungen hegt man meist dort, wo man nichts Genaues weiß, in der Liebe etwa oder der Religion. Über den Supreme Court oder das Bundesverfassungsgericht glauben wir uns dagegen gut unterrichtet. Von der Soziologie bis zur Architekturgeschichte werden Gerichte laufend erforscht. Über das Urteilen, so lautet die schlagende Ausgangsbeobachtung von Sabine Müller-Malls faszinierender Studie, wissen wir dennoch erstaunlich wenig. Referendaren wird es in einem noch immer autoritären Verfahren der Nachahmung eingetrichtert. Richter beschreiben es gern als Mischung aus Gefühl, Intuition, Erfahrung und angestrengtem Nachdenken, für das ihnen die bürokratische Erledigungslogik des Alltags immer weniger Zeit lässt.
Müller-Malls Zugang zu diesem Problem ist bezwingend, weil er von Anfang an die Fallhöhe klarmacht, die in der Gegenwart mit einer Theorie des Urteils verhandelt wird. Seit Jahrzehnten sind es Urteile viel mehr als Urkunden, die ein Verfassungsrecht jenseits des Nationalstaats etablieren. Die Europäische Union hat sich keine Verfassung gegeben, ihr Gerichtshof aber beansprucht einen verfassungsgleichen Vorrang für das europäische Recht, das er selbst fortschreibt. Das Buch will über eine Theorie des Urteilens daher zugleich Aufschluss über die Legitimität dieser Konstitutionalisierung durch Gerichte gewinnen.
Schritt für Schritt werden von der Autorin der Reichtum und die Schwierigkeit eines Verfahrens entfaltet, das versucht, die Besonderheiten eines sozialen Konflikts aus der Perspektive einer allgemeinen Norm zu entscheiden. Der Witz liegt dabei in der wechselseitigen Offenheit des einen für das andere. Worin der Streit besteht, über den das Urteil entscheidet, nimmt sich sehr unterschiedlich aus, je nachdem wen man fragt und welche Norm man für maßgeblich hält. Was Normen besagen, klärt und verändert sich in fallweisen Interpretationen. Im Urteilen wird aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Konflikt und Regel eine Wiederholungsschleife. Der Fall wird provisorisch mit Blick auf eine Norm beschrieben, die Norm mit Blick auf den Fall ausgelegt, weitere Normen werden herangezogen, die den Fall wiederum anders erscheinen lassen, und immer so fort, bis das Urteil dieses Verfahren abschließt. Wann? Wenn es eben passt. In Müller-Malls Deutung beruht das Urteil zuletzt auf einer subjektiven Erfahrung der Kongruenz, die begrifflich nicht aufzulösen ist.
Das hat eine erhebliche Konsequenz, weil es bedeutet, dass es für Urteile kein Kriterium objektiver Richtigkeit mehr geben kann. Warum viele Prozessordnungen dennoch Urteilsprüfungen durch Berufung und Revision vorsehen, wird nicht ganz klar. In seiner dichten Beschreibung gerichtlicher Urteilsverfahren folgt das Buch dem deutschen Prozessrecht. Die souveräne Theoretisierung mit Sinn fürs Details von Rubrum bis Tenorierung macht besondere Freude, auch dort, wo sie phänomenologisch bleibt. Bisweilen hätte man sich einen Abgleich mit anderen Verfahrensordnungen gewünscht, insbesondere solchen, die Rechts- und Tatsachenfragen zwischen Gericht und Jury aufteilen. So hätte sich die zentrale These des Buches, dass die rekursive Verknüpfung des einen mit dem anderen für das Urteilen zentral ist, noch einmal auf die Probe stellen lassen.
Folgt man Müller-Mall, verfügt die Gesellschaft mit dem Urteilen über ein Verfahren, in dem nicht nur das Besondere nach dem Allgemeinen, sondern auch das Allgemeine nach dem Besonderen beurteilt wird. Das gedankenreiche Buch nimmt für die Vorzüge dieser Verknüpfung ein. Über ihre Nachteile und Probleme erfährt man dagegen weniger. Müller-Mall erläutert das Urteilen mit einer von Kant eingeführten Unterscheidung. Bestimmende Urteile wenden Begriffe auf Phänomene an; reflektierende suchen Gesetze zu Phänomenen. Das scheint die Doppelbewegung des juridischen Urteilens auf den ersten Blick gut zu treffen. Urteile subsumieren unter die vielen Begriffe des Rechts, die sie zugleich mit Blick auf den jeweiligen Fall fortentwickeln. Wo aber endet der reflexive Überstieg, und was bedeutet er für die andere Seite des juridischen Urteils, demokratische Gesetzgebung und Gewaltenteilung? Die reflektierende Urteilskraft jedenfalls steht nicht unter dem Zwang, sich an positiven Gesetzen und Rechtsprechungslinien zu orientieren. Neben Kant stützt sich das Buch kaum zufällig auf seinen berühmtesten juristischen Leser, den großen Kritiker politischer Gesetzgebung Friedrich Carl von Savigny.
Bei Kant hat die reflektierende Urteilskraft ihren ersten großen Auftritt in der Theorie des ästhetischen Urteils, das Müller-Mall als Analogie des juridischen heranzieht. Aus dem ästhetischen Gemeinsinn, der erklären soll, warum Menschen sich gleichermaßen an Hölderlin-Versen und Nirvana-Melodien berauschen können, wird ein juridischer Gerechtigkeitssinn. Hier liegt für Müller-Mall zugleich der Schlüssel zur Legitimation verfassender Urteile. Wie Geschmacksurteile vor dem weltbürgerlichen Publikum müssen sie vor dem staatsbürgerlichen Forum bestehen. Diese Anleihe hätte mehr Raum verdient, als ihnen der erstaunlich knappe Schluss des Buches lässt.
Wie hätte man sich eine staatsbürgerliche Urteilskritik in der europäischen Praxis vorzustellen? Den öffentlichen Reaktionen auf die Karlsruher Corona-Beschlüsse oder den Stopp des Heizungsgesetzes nach zu schließen, wäre es keine differenzierte. Als die Richter des Supreme Courts nach dem Brexit die Beteiligung des Parlaments einforderten, druckte die britische "Sun" ihre Konterfeis auf den Titel und erklärte sie zu Volksfeinden. Weil Urteile nicht in Gründen aufgehen, geht es für Müller-Mall vor allem darum, dass sie überhaupt juridisch, das heißt weder politisch noch moralisch sind - eine schmale Basis für Kritik, zumal wenn sich durch sie nichts ändert. Auch bleibt offen, warum gerade hier Legitimationsvorteile des Urteilens liegen sollen, ist die Arena der Öffentlichkeit doch aus guten Gründen die traditionelle Domäne von Parlamenten und Regierungen.
Das Bild des Urteilens, das so entsteht, nimmt die Subjektivität des Urteilens sehr ernst. Es lässt sich nicht in Gründen oder Gesetzeshermeneutik auflösen, ohne dabei seine Rationalität zu verlieren oder vom Versprechen der Gerechtigkeit zu lassen. Das ist ein schmaler Grat und ein hoher Anspruch. CHRISTIAN NEUMEIER
Sabine Müller-Mall:
"Verfassende Urteile". Eine Theorie des Rechts.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 285 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Wechselspiel der Normen und Fälle: Sabine Müller-Mall entwirft eine Theorie des juridischen Urteilens
"Gerichte", sagt die ratlose Mittelschichtstimme der Gegenwart in Kathrin Rögglas preisgekröntem Pastiche "Bauernkriegspanorama", "sind ja seit längerem unsere letzte Hoffnung." Hoffnungen hegt man meist dort, wo man nichts Genaues weiß, in der Liebe etwa oder der Religion. Über den Supreme Court oder das Bundesverfassungsgericht glauben wir uns dagegen gut unterrichtet. Von der Soziologie bis zur Architekturgeschichte werden Gerichte laufend erforscht. Über das Urteilen, so lautet die schlagende Ausgangsbeobachtung von Sabine Müller-Malls faszinierender Studie, wissen wir dennoch erstaunlich wenig. Referendaren wird es in einem noch immer autoritären Verfahren der Nachahmung eingetrichtert. Richter beschreiben es gern als Mischung aus Gefühl, Intuition, Erfahrung und angestrengtem Nachdenken, für das ihnen die bürokratische Erledigungslogik des Alltags immer weniger Zeit lässt.
Müller-Malls Zugang zu diesem Problem ist bezwingend, weil er von Anfang an die Fallhöhe klarmacht, die in der Gegenwart mit einer Theorie des Urteils verhandelt wird. Seit Jahrzehnten sind es Urteile viel mehr als Urkunden, die ein Verfassungsrecht jenseits des Nationalstaats etablieren. Die Europäische Union hat sich keine Verfassung gegeben, ihr Gerichtshof aber beansprucht einen verfassungsgleichen Vorrang für das europäische Recht, das er selbst fortschreibt. Das Buch will über eine Theorie des Urteilens daher zugleich Aufschluss über die Legitimität dieser Konstitutionalisierung durch Gerichte gewinnen.
Schritt für Schritt werden von der Autorin der Reichtum und die Schwierigkeit eines Verfahrens entfaltet, das versucht, die Besonderheiten eines sozialen Konflikts aus der Perspektive einer allgemeinen Norm zu entscheiden. Der Witz liegt dabei in der wechselseitigen Offenheit des einen für das andere. Worin der Streit besteht, über den das Urteil entscheidet, nimmt sich sehr unterschiedlich aus, je nachdem wen man fragt und welche Norm man für maßgeblich hält. Was Normen besagen, klärt und verändert sich in fallweisen Interpretationen. Im Urteilen wird aus dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Konflikt und Regel eine Wiederholungsschleife. Der Fall wird provisorisch mit Blick auf eine Norm beschrieben, die Norm mit Blick auf den Fall ausgelegt, weitere Normen werden herangezogen, die den Fall wiederum anders erscheinen lassen, und immer so fort, bis das Urteil dieses Verfahren abschließt. Wann? Wenn es eben passt. In Müller-Malls Deutung beruht das Urteil zuletzt auf einer subjektiven Erfahrung der Kongruenz, die begrifflich nicht aufzulösen ist.
Das hat eine erhebliche Konsequenz, weil es bedeutet, dass es für Urteile kein Kriterium objektiver Richtigkeit mehr geben kann. Warum viele Prozessordnungen dennoch Urteilsprüfungen durch Berufung und Revision vorsehen, wird nicht ganz klar. In seiner dichten Beschreibung gerichtlicher Urteilsverfahren folgt das Buch dem deutschen Prozessrecht. Die souveräne Theoretisierung mit Sinn fürs Details von Rubrum bis Tenorierung macht besondere Freude, auch dort, wo sie phänomenologisch bleibt. Bisweilen hätte man sich einen Abgleich mit anderen Verfahrensordnungen gewünscht, insbesondere solchen, die Rechts- und Tatsachenfragen zwischen Gericht und Jury aufteilen. So hätte sich die zentrale These des Buches, dass die rekursive Verknüpfung des einen mit dem anderen für das Urteilen zentral ist, noch einmal auf die Probe stellen lassen.
Folgt man Müller-Mall, verfügt die Gesellschaft mit dem Urteilen über ein Verfahren, in dem nicht nur das Besondere nach dem Allgemeinen, sondern auch das Allgemeine nach dem Besonderen beurteilt wird. Das gedankenreiche Buch nimmt für die Vorzüge dieser Verknüpfung ein. Über ihre Nachteile und Probleme erfährt man dagegen weniger. Müller-Mall erläutert das Urteilen mit einer von Kant eingeführten Unterscheidung. Bestimmende Urteile wenden Begriffe auf Phänomene an; reflektierende suchen Gesetze zu Phänomenen. Das scheint die Doppelbewegung des juridischen Urteilens auf den ersten Blick gut zu treffen. Urteile subsumieren unter die vielen Begriffe des Rechts, die sie zugleich mit Blick auf den jeweiligen Fall fortentwickeln. Wo aber endet der reflexive Überstieg, und was bedeutet er für die andere Seite des juridischen Urteils, demokratische Gesetzgebung und Gewaltenteilung? Die reflektierende Urteilskraft jedenfalls steht nicht unter dem Zwang, sich an positiven Gesetzen und Rechtsprechungslinien zu orientieren. Neben Kant stützt sich das Buch kaum zufällig auf seinen berühmtesten juristischen Leser, den großen Kritiker politischer Gesetzgebung Friedrich Carl von Savigny.
Bei Kant hat die reflektierende Urteilskraft ihren ersten großen Auftritt in der Theorie des ästhetischen Urteils, das Müller-Mall als Analogie des juridischen heranzieht. Aus dem ästhetischen Gemeinsinn, der erklären soll, warum Menschen sich gleichermaßen an Hölderlin-Versen und Nirvana-Melodien berauschen können, wird ein juridischer Gerechtigkeitssinn. Hier liegt für Müller-Mall zugleich der Schlüssel zur Legitimation verfassender Urteile. Wie Geschmacksurteile vor dem weltbürgerlichen Publikum müssen sie vor dem staatsbürgerlichen Forum bestehen. Diese Anleihe hätte mehr Raum verdient, als ihnen der erstaunlich knappe Schluss des Buches lässt.
Wie hätte man sich eine staatsbürgerliche Urteilskritik in der europäischen Praxis vorzustellen? Den öffentlichen Reaktionen auf die Karlsruher Corona-Beschlüsse oder den Stopp des Heizungsgesetzes nach zu schließen, wäre es keine differenzierte. Als die Richter des Supreme Courts nach dem Brexit die Beteiligung des Parlaments einforderten, druckte die britische "Sun" ihre Konterfeis auf den Titel und erklärte sie zu Volksfeinden. Weil Urteile nicht in Gründen aufgehen, geht es für Müller-Mall vor allem darum, dass sie überhaupt juridisch, das heißt weder politisch noch moralisch sind - eine schmale Basis für Kritik, zumal wenn sich durch sie nichts ändert. Auch bleibt offen, warum gerade hier Legitimationsvorteile des Urteilens liegen sollen, ist die Arena der Öffentlichkeit doch aus guten Gründen die traditionelle Domäne von Parlamenten und Regierungen.
Das Bild des Urteilens, das so entsteht, nimmt die Subjektivität des Urteilens sehr ernst. Es lässt sich nicht in Gründen oder Gesetzeshermeneutik auflösen, ohne dabei seine Rationalität zu verlieren oder vom Versprechen der Gerechtigkeit zu lassen. Das ist ein schmaler Grat und ein hoher Anspruch. CHRISTIAN NEUMEIER
Sabine Müller-Mall:
"Verfassende Urteile". Eine Theorie des Rechts.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 285 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Über den Supreme Court oder das Bundesverfassungsgericht glauben wir uns ... gut unterrichtet. ... Über das Urteilen, so lautet die schlagende Ausgangsbeobachtung von Sabine Müller-Malls faszinierender Studie, wissen wir dennoch erstaunlich wenig.« Christian Neumeier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20231004