Ausgehend von zentralen Primärtexten der beiden begriffsprägenden Protagonisten Dolf Sternberger und Jürgen Habermas werden unterschiedliche Perspektiven eröffnet, um die Frage zu beantworten, ob und inwieweit sich Verfassungen im Allgemeinen und das Grundgesetz im Besonderen eignen, in zunehmend pluralen und fragmentierten Gesellschaften einen übergreifend sinnstiftenden Zusammenhalt zu gewähren. Am 23. Mai 2024 wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Damit hat sich dieses bewusst als Provisorium konzipierte Verfassungsdokument als erstaunlich langlebig und erfolgreich erwiesen. Dass es sich in der Praxis bewährt hat, dürfte außer Frage stehen. Natürlich gab und gibt es (berechtigte) Kritik; sie ist Bestandteil dessen, was das Grundgesetz selbst als demokratisch-diskursiven Austausch voraussetzt und einfordert. Dessen ungeachtet hat das im Grundgesetztext positivrechtlich verfestigte normative Fundament unserer Gesellschaft dazu beigetragen, das Nachkriegs(west)deutschland in den Westen zu integrieren sowie dem europäischen Integrationsprozess und der deutschen Wiedervereinigung einen akzeptanzfördernden rechtlichen Rahmen zu geben. Als weitgehend konsentierte normative Mitte trug und trägt es uns durch vergangene wie aktuelle Krisen. Gleichwohl ist zu fragen, inwieweit die soziale und politische Orientierungskraft des Verfassungsgefüges dessen praktische Wirksamkeit übersteigt. Eine solche identitätstiftende Funktion lässt sich mit dem Schlagwort des "Verfassungspatriotismus" umschreiben. Dessen Ursprüngen, ambivalenten Bedeutungszuschreibungen und Weiterentwicklungen spüren die in diesem Band versammelten Texte nach.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Michael Kuhlmann steht dem Begriff des Verfassungspatriotismus, der im Zentrum dieses Bandes steht, offensichtlich wohlwollend gegenüber. Die hier versammelten Texte gliedern sich, lernen wir, in grundlegende Schriften von Dolf Sternberger, dem Erfinder des Begriffs und Jürgen Habermas, dessen Auslegung das Konzept noch einmal radikalisierte, in erläuternde Kommentare zu diesen Grundlagentexten und in Passagen zur Kritik und Gegenwart des Verfassungspatriotismus. Kuhlmann greift einige im Band vorgebrachte Einwände gegen den Begriff auf, unter anderem eine Kritik Eva Ricarda Lautschs, die Wertorientierung und eine offene Gesellschaft für unvereinbar hält. Vorbehalte dieser Art wehrt Kuhlmann mit Verweis auf das Schicksal der Weimarer Republik ab, die daran scheiterte, dass Verfassungsfeinde mit Werttraditionen der Aufklärung aufräumten. Dagegen ist doch ein rationales Bekenntnis zu Freiheit und Menschenwürde, gebunden an die Verfassung, wie es Sternberger und Habermas verfechten, eine gute Sache, findet der Rezensent nach Lektüre dieses interessanten Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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