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Exemplarisch entfaltet ein spektakulärer Fotofund das düstere Panorama der Machtetablierung der NSDAP und den anschließenden Zerfall einer kleinstädtischen "Volksgemeinschaft" in den Jahre 1933 bis 1949. Die völkische Radikalisierung Deutschlands vollzog sich in den 1920er und 1930er Jahren fern der großstädtischen Zentren. Die Machtbasis der NSDAP war die Provinz. Ein solch provinzieller Ort ist Gunzenhausen in Mittelfranken, seinerzeit ein völkisches Herz der Finsternis. Bereits 1934 kam es hier zu einem Pogrom, an dem sich große Teile der Bevölkerung beteiligten und bei dem zwei jüdische…mehr

Produktbeschreibung
Exemplarisch entfaltet ein spektakulärer Fotofund das düstere Panorama der Machtetablierung der NSDAP und den anschließenden Zerfall einer kleinstädtischen "Volksgemeinschaft" in den Jahre 1933 bis 1949. Die völkische Radikalisierung Deutschlands vollzog sich in den 1920er und 1930er Jahren fern der großstädtischen Zentren. Die Machtbasis der NSDAP war die Provinz. Ein solch provinzieller Ort ist Gunzenhausen in Mittelfranken, seinerzeit ein völkisches Herz der Finsternis. Bereits 1934 kam es hier zu einem Pogrom, an dem sich große Teile der Bevölkerung beteiligten und bei dem zwei jüdische Männer ums Leben kamen. Im Jahr 2003 gab es in Gunzenhausen einen spektakulären Fund: Bei einer Wohnungsauflösung fanden sich zahlreiche Fotografien des ortsansässigen Fotostudios Biella. Die insgesamt etwa 2500 Fotografien bieten das erschreckende Fotorama der gewaltsamen Machtetablierung der NSDAP auf lokaler Ebene. Ebenso ungewöhnlich wie exemplarisch festgehalten sind Formierung und Zerfall der lokalen "Volksgemeinschaft" in den Jahren 1933 bis 1949. Zahllose in Parteiuniformen steckende "Volksgenossen" machen die Selbstmobilisierung derjenigen sichtbar, die nach 1945 nichts gewusst haben wollten. Dass "Volksgemeinschaft" Gewalt gegen Andere bedeutete, dokumentieren knapp hundert Porträts einer "Judenkartei" wie auch die erschütternden Porträtaufnahmen deportierter Zwangsarbeiter. Nach Kriegsende blickten die zum Zweck der Entnazifizierung polizeilich erfassten lokalen Nazis in die Kamera des Ateliers Curt Biella, das einer Fotografenfamilie, die immer auf der "richtigen" Seite stand. Die Autor_innen des Bandes beschäftigen sich mit dem Aufstieg der NSDAP in der Provinz, der Rolle der Fotografie als lokalem Akteur, dem Terror gegen die lokalen Juden, dem "Judenarchiv", den Zwangsarbeiterporträts wie auch der "Volksgemeinschaft" in Gestalt von Männer- und Frauenporträts. Dieser mit rund 250 Fotos illustrierte Band ist ein bewegendes Zeugnis.
Autorenporträt
Thomas Medicus, Dr. phil., geboren in Gunzenhausen, studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte in Marburg/Lahn; Promotion 1982. Er war Feuilletonredakteur beim Tagesspiegel in Berlin, stellvertretender Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau sowie Kulturkorrespondent der FR in Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor und Publizist in Berlin. 2014 verlieh die Wilhelm und Christine Hirschmann Stiftung mit Sitz in Treuchtlingen ihren Literaturpreis an Thomas Medicus für sein Gesamtwerk.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2016

Die totgeschwiegene Vergangenheit
Der Autor Thomas Medicus arbeitet in einem Buch den Blutpalmsonntag in Gunzenhausen auf.
Schon früh wurde aus dem Ort eine Nazi-Hochburg – auch unter Mitwirkung protestantischer Institutionen
VON OLAF PRZYBILLA
Gunzenhausen – Der ehemalige Bürgermeister von Neustadt an der Aisch, Wolfgang Mück, hat kürzlich erzählt, wie das war mit dem nationalsozialistischen Erbe im ländlich-protestantischen Westmittelfranken. Wie zwar alle wussten, dass der Landstrich deutlich früher den Nazis anheimgefallen ist als die meisten anderen in der Weimarer Republik. Dass dies aber noch Jahrzehnte danach kaum einer hören, geschweige denn aufgeschrieben sehen wollte. Mück hat trotzdem eine Monografie über die sehr frühe Nazi-Hochburg Neustadt, seine Heimatstadt, geschrieben, auch wenn es an Warnungen nicht mangelte. Es scheint so zu sein, als breche da gerade etwas auf im westlichen Mittelfranken, 70 Jahre nach dem Nürnberger Urteil gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher.
  Die Geschichte des Autors Thomas Medicus, 63, ähnelt in nicht unwesentlichen Teilen der von Mück. Auch Medicus ist in Westmittelfranken geboren, in Gunzenhausen, auch er hat das eisige Schweigen über die Vergangenheit erlebt, auch er ist später nach Berlin umgezogen und legt jetzt ein Buch vor, das dokumentiert, wie früh der braune Mob in der Kleinstadt wütete, unter Mithilfe protestantischer Würdenträger. Bei der letzten freien Reichstagswahl 1933 kamen die Nazis in Gunzenhausen auf 67,1 Prozent, 23 Prozentpunkte mehr als im Reichsdurchschnitt. Schon im April 1933 wurde unter reger Anteilnahme der Stadtbevölkerung das sogenannte Hitlerdenkmal eingeweiht, das erste seiner Art in Deutschland. Und bereits im März 1934 – viereinhalb Jahre also vor der Reichspogromnacht – kam es in Gunzenhausen zu einem Exzess offenbar angestauter antisemitischer Ressentiments.
  Der sogenannte Blutpalmsonntag gilt in dieser Phase des NS-Regimes als einzigartig drastische Hetzjagd. Nach unterschiedlichen Schätzungen nahmen zwischen 700 und 1500 Personen daran teil, bis in die Abendstunden zog der Mob marodierend durch Gassen, drang in Häuser ein, zerstörte Möbel, misshandelte Bewohner. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben: Der 30-jährige Sozialdemokrat Jakob Rosenfelder wurde erhängt in einem Schuppen gefunden, der 65-jährige Max Rosenau erstach sich aus Angst vor eindringenden Hetzjägern. Der Prozess gegen den Mob geriet zur Farce: Die Mehrheit der SA-Männer wurde wegen Landfriedensbruchs zu niedrigen Gefängnisstrafen verurteilt.
  Medicus lebte bis zum Abitur in seiner Heimatstadt, 1972 verließ er sie. Vom Blutpalmsonntag hatte er bis zu der Zeit kein Wort gehört. Darauf gestoßen ist Medicus erst 20 Jahre später, beim Lesen eines Buches von W. G. Sebald. Medicus war zu der Zeit Redakteur beim Tagesspiegel in Berlin. „Als ich die Passage las, in der es um die NS-Umtriebe in Gunzenhausen geht, dachte ich, mich trifft der Schlag“, erzählt er. Das war immerhin seine Stadt, in der er aufgewachsen ist. Und trotzdem hatte er nie davon gehört. „So was springt einen an wie ein bissiger Hund“, sagt Medicus.
  Als ihm ein Archivar vor drei Jahren die Sammlung eines Foto-Studios aus Gunzenhausen auf den Tisch legte, folgte der zweite Schock. Und der Beschluss, mehr wissen zu wollen. Das Atelier Biella hatte die NS-Machtetablierung in Gunzenhausen akribisch dokumentiert, auf 2500 Fotos sind „Volksgenossen“ in Parteiuniform ebenso abgebildet wie Zwangsarbeiter und Menschen, die Biella in einer „Judenkartei“ archivierte. Medicus kennt alle Schauplätze auf den Fotos, einschließlich des Gebäudes, in dem er zur Schule gegangen ist. Dieses NS-Panorama hätte ihn fast in einen Zustand des Taumelns versetzt, sagt er.
  Vor allem die Bilder von der „Hensoltshöhe“. Das oberhalb der Stadt an einem bewaldeten Höhenzug liegende Erholungshaus hatte sich diakonischen Tätigkeiten verschrieben, im Zeichen des Pietismus. Unter der Leitung des Hausvaters, des Pfarrers Ernst Keupp, ging das Heim aber auch früh schon ein Bündnis mit den lokalen NSDAP-Führern ein. Das Gruppenbild aus dem Atelier Biella mit dem „Frankenführer“ Julius Streicher stehe geradezu exemplarisch für den Abschluss der lokalen NS-Machtübernahme, sagt Medicus: „Als Zeugnis einer protestantisch-pietistischen-völkischen Allianz“, die das geistige Klima in der Kleinstadt fortan prägte und dominierte. Entstanden ist es bereits im Oktober 1934, Streicher wurde von Spalier stehenden Diakonissinnen triumphal begrüßt. Nach dem Krieg musste sich Keupp, der Hauspfarrer des Heims, vor einem Spruchkammergericht verantworten, er starb während des Verfahrens. In Gunzenhausen begann die Zeit des Schweigens.  
Thomas Medicus (Hg.), Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933-1949. Mit Beiträgen von acht weiteren Autoren. Hamburg 2016.
Der Blutpalmsonntag von 1934
gilt als einzigartig drastische
Hetzjagd in dieser Zeit
Unter Diakonissen: Im Oktober 1934 wurde der sogenannte „Frankenführer“ Julius Streicher (Bildmitte unten) im Diakonissenmutterhaus Hensoltshöhe empfangen. Das Bild zeigt, wie eng der Kontakt von Nazi-Größen und kirchlichen Einrichtungen schon zu Beginn der NS-Zeit in Gunzenhausen war. FotoS: Stadtarchiv Gunzenhausen
Das Foto-Atelier Biella dokumentierte die ganze Breite des Lebens in der Kleinstadt. Auch im Zentralschulhaus von Gunzenhausen hingen Hitler- und Streicherporträts.
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