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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Entschädigung für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Bayern
Tobias Winstels Beitrag zur "Erfahrungs-, Organisations- und Wirkungsgeschichte" von Rückerstattung und Entschädigung kann sich sehen lassen. Es geht dabei ausschließlich um die jüdischen Berechtigten, die ja bei weitem die Mehrheit ausmachen, und um die Erfahrungen in Bayern, wenn diese auch mit denen in der sonstigen Bundesrepublik in Beziehung gesetzt werden. Sie erwiesen sich in manchem als prägend, was nicht zuletzt am ersten Präsidenten des Landesentschädigungsamtes, Philipp Auerbach, lag, einem Auschwitz- und Buchenwald-Häftling.
Die ausgewogene Untersuchung von der Besatzungszeit bis zur ersten Bundesgesetzgebung Anfang der fünfziger Jahre stützt sich auf Einzelfallakten der zuständigen Ämter sowie der Generalakten zur Wiedergutmachung in Bayern. Im Kapitel "Begegnungen: Akteure und ihr Verhalten in der Praxis" beleuchtet die Studie die eigens geschaffenen staatlichen Instanzen und die öffentliche Meinung, vor allem aber die Opfer sowie die Rückerstattungspflichtigen. Bei diesen reichte das Spektrum vom skrupellosen Profitmacher bis hin zum gutgläubigen Zweitoder Dritterwerber, der für die ursprüngliche "Arisierung" nicht verantwortlich war, nach dem Gesetz freilich genauso behandelt wurde. Der Freistaat kaufte 1952 zwecks Milderung solcher persönlicher Härten der Jewish Restitution Successor Organization die noch offenen Rückerstattungsansprüche vorzeitig ab, die er dann selbst - ausgleichend - eintreiben konnte. Derartige Probleme trugen dazu bei, daß die Wiedergutmachung "bei uns nicht volkstümlich" war, wie es Franz Böhm von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag 1955 feststellte, der indes mit einem darauf gerichteten Programm in Frankfurt am Main direkt gewählt worden war.
Gelegentlich gab es Mißbräuche. Wie in anderen massenhaften Versorgungsbereichen kam es vereinzelt zu Betrugsfällen. An ihnen wirkten nicht nur Antragsteller, sondern auch Sachbearbeiter, Rechtsbeistände und andere am Verfahren Beteiligte mit. Dabei gilt es jedoch zwischen verschiedenen Graustufen zu unterscheiden. Beim Großteil dessen, was in der Verwaltung unter "Mißbrauch" verbucht wurde, handelte es sich aber um das, was man aus heutiger Sicht als eine Form von moralisch gerechtfertigter Selbsthilfe bezeichnen würde. Zumeist ging es darum, die peniblen und teilweise unerfüllbaren Beweisanforderungen zu umgehen. An gewissen Stammtischen wurden entsprechende Skandalmeldungen genüßlich erörtert. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Antisemitismus nach wie vor Relevanz besaß. Er hat beim ungebührlich aufgebauschten Verfahren gegen Auerbach und dessen tragischen Freitod 1952 zweifellos eine Rolle gespielt.
Die Behauptung, die Behörden hätten die Anträge der Opfer grundsätzlich zu deren Nachteil entschieden, ist falsch. Mitunter engagierten sich die Bearbeiter zudem fürsorglich zu ihren Gunsten, etwa mittels zinsloser Kredite, die später auf die Leistungen angerechnet wurden, womit finanzielle Schwierigkeiten überbrückt werden konnten. In den Akten finden sich nicht nur bittere Beschwerden, sondern eben auch herzliche Dankschreiben. Die Entschädigungen brachten den Verfolgten in allen Lebensbereichen materielle Vorteile. Sie hatten zudem psychologische Auswirkungen - ernüchternde, belastende und sogar traumatische sowohl wie durchaus auch günstige, etwa dadurch, daß ihnen das Gefühl vermittelt wurde, von Entrechteten wieder zu Berechtigten zu werden.
Das ermöglichte es manchen Überlebenden der Schoah, sich in Deutschland niederzulassen. Zu ihnen gehörte der Berliner Anwalt Walter Schwarz, einer der besten Kenner des Entschädigungsrechts, der häufig zitiert wird. Er schrieb 1984, was ergänzend angeführt sei, in einem Leserbrief an die Wochenzeitung "Die Zeit", wenn er eine Bilanz seines Lebens zöge, würde er meinen, "daß ein Deutscher das Recht hätte, auf das Werk der Wiedergutmachung stolz zu sein". Die Befunde des Buches sind für eine solche pauschale Folgerung zwar viel zu differenziert, doch bestätigen sie, daß die Wiedergutmachung, wenn damit auch das Unfaßliche der schlimmen zwölf Jahre nicht wieder "gut" zu machen war, einen wichtigen, positiven Beitrag zur Auseinandersetzung mit der "Vergangenheit" zu leisten vermochte.
NIELS HANSEN.
Tobias Winstel: Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. R. Oldenbourg Verlag, München 2006. 426 S., 59,80 [Euro].
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"Winstels Studie öffnet Blickwinkel auf Facetten der bundesdeutschen Vergangengheit, die viel zu lange ignoriert worden sind." (Die Welt, 2006)