Patricia Hempel hat mich mit ihrem neuen Buch Verlassene Nester mit einer starken atmosphärischen Gestaltung und interessanten, teilweise sogar originellen, Charakteren berührt.
Der Roman setzt sich im Wesentlichen mit den Herausforderungen einer jungen Protagonistin auseinander, die nach der Wende
1992 mit Erwachsenen aufwächst, die die Veränderungen noch nicht bewältigt haben.
In gewisser…mehrPatricia Hempel hat mich mit ihrem neuen Buch Verlassene Nester mit einer starken atmosphärischen Gestaltung und interessanten, teilweise sogar originellen, Charakteren berührt.
Der Roman setzt sich im Wesentlichen mit den Herausforderungen einer jungen Protagonistin auseinander, die nach der Wende 1992 mit Erwachsenen aufwächst, die die Veränderungen noch nicht bewältigt haben.
In gewisser Weise, könnte man vlt auch sagen, geht es sowohl um die Coming-of-Age-Geschichte der gerade 13 Jahre alt gewordenen Pilly, als auch des wiedervereinten Ostdeutschlands und seiner Bewohner, über die gerade die Westkultur auf verschiedenen Ebenen hereinbricht.
Meines Erachtens präsentiert die Geschichte dabei prägnante Charaktere, typische Menschenbilder, die mit wenigen Pinselstrichen gezeichnet sind, und einen detaillierten Einblick in die damalige Zeit, was dem Buch eine hohe Authenzität und Nachvollziehbarkeit verleiht.
Die Atmosphäre der (Nach-) DDR-Zeit wie der verunsicherten Jugendlichen in diesem Alter, aber auch in dieser Wendezeit, wird eindrucksvoll eingefangen, ohne zu viel Emotionalität, und die Autorin schafft es, die damaligen Gegebenheiten so darzustellen, dass, Westdeutsche zumindest, Gewinn herausziehen können - ich habe das Buch rundum wirklich gerne gelesen. Ein bisschen Kenntnis der Geschichte, oder auch von DDR-typischen Begrifflichkeiten, wird allerdings vorausgesetzt. Es wird nicht so viel erklärt und nacherzählt, sondern die Geschehnisse sprechen für sich, für meine Begriffe gutes show-not-tell.
Vielleicht bleibt der Ton deshalb für einige eher sachlich, und literarisch gibt es vielleicht auch ein paar Dinge zu beanstanden. So gelingt es einerseits, in eher kurzen Sätzen oder griffigen Wortschöpfungen viel zu sagen und durchaus Tiefe zu zeigen. Es gibt zum Beispiel ein „Mahngesicht“, elterliche „Schreitage“ oder einen „Kummerfuß“ oder ein Temperament ist etwas „windig“ u.v.m. Dem Volk wird gut aufs Maul geschaut, und die Autorin bietet auch eine Menge interessanter Details an.
Der Ton ist insgesamt leicht, und trotzdem schafft sie es, dass die Schwere der Aufgabe wie die belastete Atmosphäre immer wieder zu spüren ist. Denn Pillys Mutter ist z.B. verschwunden und niemand weiß, ob in den Westen oder was sonst passiert ist, und das Mädchen hat mit ihrer erwachenden Sexualität und in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen ohnehin schon viele Herausforderungen zu bewältigen.
Die Art, wie die Autorin hier nach und nach alle Geheimnisse erzählt und die Hintergründe erschließt, hat mir sehr gut gefallen.
Sie bemüht viele Bilder und Metaphern, aus der Natur, aus der Vogelwelt u.a., s. auch Titel, und das wurde mir manchmal ein bisschen zu viel. Der Ton gegenüber Tieren ist im ländlichen Raum, wie oft, nämlich rauh, und mitunter geht es auch nicht ganz ohne Tierquälerei. Das sollte man vorher wissen. Ich sehe den Umgang mit den Tieren symbolisch, hätte mir aber auch ein bisschen weniger davon gewünscht.
Etwas kritisch sehe ich auch Konstruktion und Ausbau der Geschichte. Nicht wirklich alle Erzählstränge werden konsequent zu Ende erzählt, Motiven wie die Hakenkreuz-Schmierereien oder Erwähnungen wie Hoyerswerda werden leider nicht vertiefend in die Geschichte eingearbeitet, sondern eher oberflächlich erwähnt - das wirkt ein wenig künstlich und vorbeugend. Im Falle der Schmierereien auch unausbalanciert, denn obwohl davon viel und detailliert die Rede ist, wird am Ende wenig aufgeklärt.
So kann es geschehen, dass die Geschichte am Ende sehr spannend, sogar ein bisschen überdramatisch wirkt, aber leider am Schluss auch ein bisschen schnell zusammengezimmert. Das offene Ende stört mich nicht, eher im Gegenteil.
Fazit: Verlassene Nester ist kein gänzlich unanspruchsvoller Roman, der mit authentischer Atmosphäre, vielen kleinen Details und authentischer Typisierung von Land und Leuten durchaus in der Lage ist, eine interessante, unterhaltsame, und gegen Ende sogar spannende, Geschichte zu erzählen, die mir nicht nur Spaß beim Lesen - vor allem durch die interessanten Satz- und Wortfindungen - gemacht hat, sondern durchaus auch als erkenntnisreich empfunden wurde. Obwohl literarisch nicht perfekt, empfehle ich das Buch sehr gerne weiter.