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Romantriologie: Die beiden Dichter Ein großer Mann aus der Provinz in Paris Die Leiden des Erfinders

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Produktbeschreibung
Romantriologie: Die beiden Dichter Ein großer Mann aus der Provinz in Paris Die Leiden des Erfinders

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Autorenporträt
Honoré de Balzac, geboren am 20. Mai 1799 in Tours, gestorben am 18. August 1850 in Paris, ist neben Stendhal und Flaubert einer der großen Realisten der französischen Literatur. Er war ein glänzender Stilist, notorischer Schuldenmacher, Hedonist, Vielarbeiter und unvergleichlicher Menschenkenner. In seiner 88 Titel umfassenden Comédie humaine schuf er ein einzigartiges Bild seiner Epoche. Bei Hanser erschienen in Neuübersetzung zuletzt Verlorene Illusionen (Roman, 2014) und Glanz und Elend der Kurtisanen (Roman, 2022).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014

Die Wiederkehr des großen Modernen

"Verlorene Illusionen" ist der berühmteste Roman von Honoré de Balzac - und auch der dickste. Wer das Werk in einer Übersetzung lesen will, die ihm gerecht wird, dem kann nun geholfen werden.

Von Felicitas von Lovenberg

Am Nachruhm war ihm nicht gelegen, das sei eine "Sonne für Tote", also Geld, das man nicht mehr ausgeben kann - für einen Verschwender wie ihn keine reizvolle Vorstellung. Er zog es vor, im Jetzt zu leben, seine Schulden in die Vergangenheit zu schieben und sich eine Zukunft als Auflagenkönig an der Seite einer schönen, klugen und vor allem vermögenden Frau auszumalen. Honoré de Balzac, der sich mit dreißig Jahren selbst adelte, mit Anfang vierzig seine Werke zu dem megalomanen Projekt der "Menschlichen Komödie" bündelte und mit nur 51 Jahren starb, war ein Meister der Verdrängung: von Rechnungen, Abgabeterminen und dem Namen der Dame von letzter Nacht ebenso wie von Neidern, Misserfolgen und schlechten Kritiken. Die einzige Währung, die er gelten ließ, war die harte.

Nachdem seine Absicht, es zum Erfolgsschriftsteller zu bringen, sich zunächst nicht ins Werk hatte setzen lassen, probierte er vieles, um der Fron zu entkommen, "Tinte in Gold" zu verwandeln. Doch als Verleger scheiterte er mit einer Klassiker-Edition, die Druckerei, für die er sich bis über beide Ohren verschuldete, schrieb nur rote Zahlen, und auf Sardinien fand er so wenig einen Silberschatz wie in seinem Garten eine einzige blaue Rose.

Aber er schrieb mehr als neunzig Romane, Erzählungen und Novellen, dazu Theaterstücke und Artikel. Ein sorgloses Auskommen konnte er auch damit nicht finanzieren. Umso mehr saß ein perfider Ausruf wie der des stilistisch überlegenen Flaubert, was dieser Mann für ein grandioser Autor hätte sein können, "wenn er doch nur hätte schreiben können". Dass der vorgebliche Berserker es aber höchst genau nahm, zeigt sein vielfaches Umschreiben von Texten und die akribische Nachbearbeitung von Korrekturbögen.

Nun ist seine Zeit abermals gekommen. Nach den großen Dostojewski-, Tschechow- und Tolstoi-Übersetzungen, nach Stendhal, Melville und Stevenson ist endlich Balzac an der Reihe, wieder gelesen zu werden. Anlässe dazu geben Politik und Wirtschaft ständig (jüngst mit dem Bekanntwerden der erweiterten Maschmeyer-Schröder-Connection), doch einen besseren Grund bietet eine neue Übersetzung von "Verlorene Illusionen", jenem Hauptwerk, in dem der Autor mit den Betrachtungen seiner Epoche unserer Gegenwart am nächsten kommt.

In "Ein großer Mann vom Land in Paris", dem mittleren der drei Bücher, aus denen dieser umfangreichste Roman Balzacs besteht, schildert er den rasanten Aufstieg und dramatischen Absturz des ehrgeizigen Lucien Chardon. Die rauschende Erbarmungslosigkeit, mit der Balzac den Kulturbetrieb als verkommen darstellt, hat den Titel zum geflügelten Wort werden lassen und den Roman zu einem Klassiker, den jeder zu kennen glaubt, auch ohne ihn gelesen zu haben.

Die Wahrheit auf dem Papier ist ungleich komplexer und spannender. Lucien, ein gutaussehender und talentierter junger Mann aus der südfranzösischen Provinz, kommt mit dem Herz voller Poesie, dem Kopf voller Prosa und den Ersparnissen von Schwester und Schwager in der Tasche nach Paris. Doch der ersehnte soziale und literarische Aufstieg bleibt zunächst aus. Binnen weniger Tage verliert er Bewunderung und Protektion seiner Madame de Bargeton, in deren Windschatten er Stadt und Gesellschaft erobern wollte, das baldige Erscheinen seiner mitgebrachten Werke rückt in weite Ferne, und der Großteil des Geldes ist für einen Anzug draufgegangen, den er nun nicht braucht. Doch sein Ego ist größer als die Enttäuschung, und so macht Lucien de Rubempré, wie er sich fortan nennt, Karriere nicht als Schriftsteller, sondern im Metier der schnellen Befriedigung von Publikum wie Autor: als Journalist. Bald ist er in die Spielregeln eingeweiht: Meinungen sind zum Wechseln da, und Rezensionen werden nicht um des Gegenstandes willen verfasst, sondern einzig, um eine (am besten die eigene) Karriere zu fördern und Konkurrenten zu schaden.

Doch auch, wenn Karl Kraus allein aus Zitaten dieses Teils der "Verlorenen Illusionen" einen geharnischten Leitartikel für seine "Fackel" vom 26. Juni 1909 schöpfte - Balzac malt die Welt keineswegs in Schwarz und Weiß, sondern in allen Schattierungen, die seine Palette hergibt. Und was die technischen Möglichkeiten und moralischen Gefahren der beschleunigten Zirkulation von Texten, Nachrichten und Geld anging, wohnten mindestens zwei Herzen in seiner Brust. Zwar gibt es den aufrechten Schriftsteller Daniel d'Arthez, jenen Freund, der Lucien vor dem Warencharakter von Zeitungstexten warnt und dessen Manuskripte in wahre Literatur verwandelt, doch lässt Balzac den Leser ebenso teilhaben an Luciens fulminantem Debüt als Theaterkritiker, das man widerwillig bewundern muss. Luciens Fluch ist nicht sein Beruf, sondern sein Charakter.

Aber in diesem großen, hellsichtigen Roman steckt noch viel mehr. Mindestens so sehr wie vom Journalismus und vom literarischen Leben handelt "Verlorene Illusionen" von den Intrigen und den Strategien anderer Geschäftszweige. Er erklärt die Herausforderungen des Druckereigewerbes, denunziert die Übermacht der Banken und die gerissenen Methoden der Anwälte. Er schildert das erbarmungslose soziale Gefälle zwischen Hauptstadt und Provinz. In wie vielen Tonarten Balzac das Titelmotiv der Desillusion im Roman variiert, führt die Übersetzerin Melanie Walz in ihrem Nachwort lebhaft vor Augen, das die Lektüre gerade nach 850 Dünndruck-Seiten Balzac ebenso lohnt wie ihre diskreten Anmerkungen.

Dass sich der Roman trotz seines Umfangs so federleicht und frisch liest, verdankt sich der schönen, klaren Sprache, in die Melanie Walz ihn gebracht hat. Ganz gleich, ob es sich um einen Exkurs zur Papierherstellung oder um das Wochenmenü bei Flicoteaux handelt, alles wird von Balzac mit Verve inszeniert. Melanie Walz ist mit diesem Tonfall und der Zeit, der er entstammt, insofern vertraut, als dass sie mit Dickens und Jane Austen zwei Autoren übersetzt hat, die viel mit Balzac verbindet. Nun hat sie sich in französischer Sprache nach Alexandre Dumas, Jules Michelet und ein wenig Proust jenes Werk Balzacs vorgenommen, das zwar in zig verschiedenen Ausgaben von Rowohlt bis Diogenes vorliegt, aber meist nur in der Übersetzung von Otto Flake aus dem Jahr 1920. In den siebziger Jahren folgte im Aufbau Verlag noch jene von Udo Wolf.

Fast hundert Jahre nach der ersten und gut vierzig nach der zweiten hat Melanie Walz den großen Modernen Balzac nun auch sprachlich in unsere Zeit geholt. Wird etwa bei Flake lapidar über Lucien gesagt: "Das ist kein Dichter, das ist schon ein laufender Roman", heißt es bei Udo Wolf immerhin: "Dieser Junge ist kein Dichter, sondern ein fortlaufender Roman." Melanie Walz macht daraus endlich einen Satz, den jeder versteht: "Dieser Bursche ist kein Dichter, er ist ein veritabler Fortsetzungsroman." Solche Beispiele gibt es zuhauf. So spricht Flake bei den Freunden um d'Arthez abwechselnd von einem Kreis und einem Bund; Melanie Walz erklärt den Zirkel von Schriftstellern und Philosophen resolut zur "Tafelrunde", was seine Geschlossenheit unterstreicht und Lucien als Gegenbild seiner eigenen Entscheidungen immer wieder sinnfällig vor Augen tritt.

Die Tafelrunde verstößt ihn schließlich, nachdem er ihren Artus verraten hat. Balzac aber hatte Lucien Chardon mit diesem wuchtigen Roman noch nicht abgeschrieben, sondern ihn in "Glanz und Elend der Kurtisanen" einen weiteren faustischen Pakt eingehen lassen.

Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen". Roman.

Aus dem Französischen von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2014. 959 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2014

Der Teufelspakt
Zwei Seelen wohnten in der Brust des Honoré de Balzac:
die eines Journalisten und die des Romanciers. Vom Widerstreit
der beiden handelt sein Roman „Verlorene Illusionen“
VON LOTHAR MÜLLER
Irgendwann fuhr der Dämon in Honoré de Balzac und setzte ihm zwei Seelen in die Brust. Wann und wo genau das geschah, wird immer ein Geheimnis bleiben. Vielleicht, als er im Revolutionsjahr 1830 dem Namen seines Vaters das angemaßte Adelsprädikat „de“ hinzufügte und begann, für die Zeitschriften Le Voleur , La Silhouette , La Mode und Le Feuilletondes Journaux Politiques zu schreiben. Oder, als er die erste französische Gesamtübersetzung von Goethes „Faust I“ las und die Teufel und Hexen auf den Lithografien von Eugène Délacroix betrachtete, die den Text seit 1828 begleiteten.
  Eines ist klar: Wie Faust hatte Balzac den Dämon, der ihn heimsuchte, selbst herbeigerufen. Doch war dieser Dämon kein Erdgeist, der aus alten magischen Zeichen aufstieg, sondern ein moderner Papiergeist, der in Balzacs unablässigem Schreiben Gestalt angenommen hatte, wenn er Briefe, Artikel verfasste oder ein Romanmanuskript überarbeitete, wenn er Wechsel ausstellte oder den Kaufvertrag für eine Druckerei und Letterngießerei unterzeichnete, wenn er für sein Projekt, im großen Stil Romane auf Abonnementbasis zu vertreiben, nach Angoulême reiste und dort zielsicher die einzige Papiermühle aufsuchte, die schon eine Maschine zur Herstellung von Endlospapier besaß.
  Die beiden Seelen in Balzac waren die des Journalisten, der vom intermittierenden Staccato der Zeitschriften und Zeitungen, vom Klima der Aktualität imprägniert war, und der Romanschriftsteller, der in der großen Tradition von Rabelais und Cervantes stehen und ein dauerhaftes Werk schaffen wollte, ein episches Gegenstück zur Komödie Molières. Es war ein großes Glück für die Weltliteratur, dass die beiden Seelen zwar einander durchdrangen und voneinander profitierten, der Dämon es aber immer wieder schaffte, dass sie einander misstrauten, in Streit gerieten, sich forderten und sich duellierten.
  Denn so entstand in Balzacs „Comédie humaine“ die grandiose Antwort des Romans auf die neue innergesellschaftliche Großmacht des 19. Jahrhunderts, die periodische Presse. Zeitungen gab es schon seit dem frühen 17. Jahrhundert, aber nun erst, im Zeitalter der Papiermaschinen und eisernen Druckerpressen, begann die moderne Öffentlichkeit, die ohne sie nicht entstanden wäre, das Gesamtspektrum ihrer Möglichkeiten und Tonlagen zu entfalten, nun erst entstand das Feuilleton als Gegenüber der Nachrichten und des politischen Räsonnements.
  Als Balzac nach eineinhalb Jahren ausschließlich journalistischer Tätigkeit im Sommer 1831 den Roman „La Peau de Chagrin“ („Das Chagrinleder“) veröffentlichte, fand das Buch nicht nur in Frankreich ein großes Publikum. Goethe las den Roman im Oktober 1831, lobte ihn trotz eines gewissen Befremdens angesichts mancher Kühnheiten als „vortreffliches Werk neuester Art“ und wird kaum überlesen haben, wie viel hier auf seinen „Faust“ verwies. Das Chagrinleder, das der lebensmüde Held am Beginn des Romans in einem Antiquitätenkabinett erwirbt, trägt auf der Rückseite den Abdruck des Siegels Salomons und auf seiner Vorderseite in arabischen Schriftzeichen den Pakt, den sein Besitzer eingeht: Es erfüllt ihm alle Wünsche, doch zieht es sich dabei zusammen, und im selben Maß schrumpft die Lebenszeit des Wünschenden. Sein Teufelspakt ist ein schleichender Selbstmord.
  Kaum hat der Held das Leder in der Hand, trifft er Freunde aus dem Journalistenmilieu, die mit dem Geld eines Millionärs, der sein Vermögen einem Verbrechen verdankt, eine Zeitung gründen wollen. Sie soll im verdeckten Dienst der Regierung als Organ der Scheinopposition aller Unzufriedenheit zu einem gefahrlosen Ventil verhelfen. So trägt die alte Magie, verkörpert in den unveränderlichen, im Chagrinleder inkrustierten Schriftzeichen, zur Entfesselung der diabolischen Energien der modernen Presse bei. Spöttisch sagen die Journalisten über sich selbst: „Wir, die wahren Anhänger des Gottes Mephistopheles, haben es unternommen, die öffentliche Meinung zu schminken.“
  Im Herzstück seiner „Comédie humaine“, der Trilogie „Illusions perdues“, hat Balzac diese Überführung des „Faust“-Modells aus dem Drama in den Roman im großen Maßstab vollendet. Die einzelnen Bände erschienen 1837, 1839 und 1844, in dem Zeitraum, in dem Balzac den Entschluss fasste, alle seine Romane unter dem Obertitel „La comédie humaine“ zu einem Gesamtporträt der französischen Gesellschaft von der napoleonischen Ära bis in die Julimonarchie zu verzahnen.
  In tiefstem Schwarz und im Licht der modernsten Lampen wird hier der Teufelspakt eines jungen Literaten mit der neuen Großmacht der Presse besiegelt, und wenn es eine Zeit gibt, in der die „Illusions perdues“ zur erregend aktuellen Lektüre werden  können, dann ist es unsere Gegenwart. Denn hier blicken wir in eine Welt, in der das Papier und die Druckerpresse im Verein mit den Agenturen des Marktes und des Kapitals, mal behindert, mal gefördert von der Politik, das Bewusstsein einer neuen Zeit, eines Epochenbruchs hervorbringen – so wie nun die digitalen Technologien die Zeitungen und die Öffentlichkeit durchdringen und ihre Bindung an Druck und Papier lockern.
  Es ist ein Glück, dass kürzlich eine stilsichere, elegante Neuübersetzung erschienen ist, die alle Voraussetzungen für eine solche Lektüre bietet. Die Herausgeberin und Übersetzerin Melanie Walz druckt alle Vorworte Balzacs zu den Erstausgaben der Einzelbände ab und macht die Umarbeitungen durchsichtig, durch die Balzac sie in die der „Comédie humaine“ einschmolz, sie nutzt die philologischen Erträge der jüngsten französischen Editionen und erschließt durch Sach- und Worterläuterungen den zeithistorischen Horizont.
  „Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, hatten sich die Stanhope-Druckerpressen und die Walzen zum Auftragen der Druckerschwärze in den kleinen Provinzdruckereien noch nicht durchgesetzt. Trotz des besonderen Erzeugnisses, das Angoulême mit dem Pariser Druckereigewerbe verbindet, benutzt man dort noch immer Holzpressen, denen die Sprache die nunmehr gegenstandslose Wendung verdankt, man bringe die Presse zum Ächzen.“ So nüchtern, in der Sprache eines Inspektionsberichts beginnt der erste Band der „Verlorenen Illusionen“. Aus der Perspektive der Metropole Paris fällt der Blick in die Provinz, nach Angoulême, in eines der alten Zentren der Papierherstellung. Und aus dieser Perspektive herrscht in der Druckerei des alten Jérôme-Nicolas Sêchard akuter Innovationsstau.
  „Die beiden Dichter“ heißt dieser erste Teil, in dem Balzac seinem Roman den genialen Grundriss gibt. Der eine, David Séchard, Sohn des alten Druckers, der in Balzacs Galerie der hartherzigen Geizhälse einen herausgehobenen Platz innehat, ist von Kindheit an eine poetisch-philosophische Natur, bleibt aber seiner Herkunftswelt treu und verschreibt sich mit Leidenschaft den exakten Wissenschaften. Sein Freund Lucien Chardon, Sohn eines Chirurgen der republikanischen Armee und späteren Apothekers, ist mathematisch-naturwissenschaftlich begabt. Aber er stellt seine von der Mutter ererbte Schönheit und ihren Namen in den Dienst seines literarischen Ehrgeizes und ersetzt seinen kargen Namen („Distel“) durch den Autorennamen Lucien de Rubempré.
  Stets ist in der „Comédie humaine“ die Erinnerung an die Revolution, das Empire und die napoleonische Ära gegenwärtig. Zugleich ist die Julimonarchie, in der Balzac an der Trilogie schrieb, schon in der Restaurationsära spürbar, in der das Geschehen in den 1820er-Jahren spielt. Der Ehrgeiz ist aus den Schlachtfeldern in die Zivilgesellschaft eingewandert, in die Projekte der Erfinder, denen die Saint-Simonisten anstelle des Klerus und der alten Aristokratien eine Stellung an der Spitze der Gesellschaft verschaffen wollten.
  Wie Balzac das Teufelspakt-Modell in diesen historischen Ort einzeichnet, ist schlechthin großartig. David Séchard, der Erfinder in der Provinz, will die Rohstoffbasis der französischen Papierindustrie revolutionieren. Das Projekt ist aus der Ahnung des Papierbedarfs der Presse in Paris erwachsen. Lucien erwirbt seine Eintrittskarte in die Metropole als Verfasser von Sonetten, die er in Angoulême auf kostbares Velinpapier schreibt. Im zweiten Band in Paris angekommen, wird er aber auf den Marktteilnehmer reduziert, der in jedem Autor steckt. Der Markt aber verlangt gerade nicht nach Sonetten und auch nicht nach dem historischen Roman, den er verfasst hat, sondern nach den schnellen Federn des Journalismus. So verlagert sich der Ehrgeiz Luciens auf das Zeitungspapier, zu dessen Vormarsch die Erfindung seines Freundes beiträgt.
  Im Triptychon der „Illusions perdues“ ist der Mittelteil „Ein großer Mann vom Land in Paris“ der weitaus umfangreichste. Enthält der erste Band eine Fülle von Karikaturen der Salons und des Personals der Provinz (wie immer: nicht zuletzt der Advokaten), so lässt Balzac hier die Mythologie der Metropole mit ihren Boulevards und Restaurants, Theatern und Vergnügungsetablissements verlockend hell mit der Attitüde des Kenners aufleuchten, um im nächsten Augenblick aus dem Glanz das Gruppenporträt der Journaille und ihrer Intrigen hervorgehen und Paris als Dantesche Hölle erscheinen zu lassen.
  Und natürlich hat er die Mode im Blick und erspart es Madame de Bargeton, in deren Provinzsalon Lucien seinen Dichterruhm erwarb, in Paris gründlich entzaubert zu werden. Mode und mondänes Leben sind teuer. Mit bösem Blick heizt Balzac die Zirkulationsgeschwindigkeit des Geldes an. Wovon Lucien in der Provinz einen Monat hätte leben können, reicht in Paris für ein Abendessen. Balzac ist stets an der Kreditfunktion des Geldes, an den Fiktionen interessiert, die es mit der Sphäre der Poesie verbinden. Sie macht das fließende Geld zum idealen Symbol der allgegenwärtigen Erosion alles Festen. Im Journalismus zieht das Geld die Poesie in die Prosa der Verhältnisse hinab. Sachlich zeigt Balzac das an den Usancen der Verleger, wenn er im Gang durch Verlegerbüros und Redaktionsstuben Lucien (und dem Leser) Lektionen über die Gesetze des literarischen Marktes, der Konkurrenz, des Kreditwesens erteilt. In den Passagen, in denen Lucien in die Schule der Korruption und geistigen Prostitution geht, malt er den tiefsten Kreis der Hölle Paris aus.
  Im dritten Teil, „Die Leiden des Erfinders“, kehrt der Roman nach Angoulême zurück. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als seien David Séchard und seine Frau Eva, die Schwester Luciens, diese treuen, in der Provinz gebliebenen Seelen, die seine Karriere lange selbstlos unterstützen, leuchtende Gegenbilder Luciens. Der Titel „Verlorene Illusionen“ gilt aber am Ende auch für sie. Allzu wenig setzten sie der juristisch-ökonomischen Teufelei und Intrige entgegen, mit der die Brüder Cointet – ein hinreißend gemeines Duo der Branche Druck&Papier – sich David Séchards Erfindung einverleiben.
  Und die politisch und moralisch in sich gefestigte Tafelrunde der ernsthaften Dichter, die Lucien in Paris zunächst unter ihre Fittiche nimmt, ist sie nicht ein Rettungsanker, den er mit einer Bedenkenlosigkeit ausschlägt, die sich nur rächen kann? Nicht ganz. Zu hell strahlt die Theaterkritik, mit der Lucien das Herz der Schauspielerin Coralie erobert und seine journalistische Karriere beginnt. Balzac hat sie selbst geschrieben.
  Denn er hat sorgsam darauf geachtet, Lucien bei aller Haltlosigkeit echtes Talent mitzugeben: „Man tritt auf, man tritt ab, man redet, man paradiert, man sucht etwas und findet nichts, Verwirrung allenthalben. Der Alkalde hat seine Tochter verloren und findet seine Nachtmütze wieder . . .“ Balzac scheint dem Journalismus den Prozess zu machen wie Rousseau dem Roman. Aber wie Rousseau den Briefroman, nutzte Balzac die Errungenschaften des Feuilletons wie der journalistischen „Physiologien“ des modernen Lebens. Und würdigte die stilbildende Kraft der Deadline.    Bis zum Schluss bewährt sich Balzacs doppeltes Register. Das dämonisch-mythologische Register hat das letzte Wort, wenn der falsche Abbé Carlos Herrera den gescheiterten Lucien in einen neuen Teufelspakt lockt. Die Wucht aber, mit der dieser Roman seinen Titel einlöst, wurzelt ebenso sehr im zweiten Register, das er hier wie in der „Comédie humaine“ insgesamt ausspielt: in der technisch-sachlichen Enzyklopädie aller Dinge, Berufe, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft, die ihm vor Augen stand.
  Weil er von den Dichtern und der Poesie, den Zeitungen und ihren Machern nicht schreibt, ohne zugleich vom Papier und der Stanhope-Presse, vom Verlagswesen und vom Kredit zusprechen, hat Balzac Maßstäbe für die Selbstreflexion der Literatur gesetzt. Und weil er dabei zwei leidenschaftliche Seelen in seiner Brust hatte, gehören die „Illusions perdues“, zu den größten Romanen der Weltliteratur.   
Balzac hat Fausts Pakt mit dem
Teufel aus dem Drama in den
modernen Roman geholt
Wovon Lucien in der Provinz
einen Monat hätte leben können,
reicht in Paris für ein Abendessen
Die Brüder Cointet, Unternehmer
in der Provinz, sind ein hinreißend
gemeines Duo „Druck & Papier“
        
Honoré de Balzac:
Verlorene Illusionen. Roman aus der Provinz. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2014. 960 Seiten. 39,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Thomas Laux beglückwünscht die Übersetzerin Melanie Walz für diese neue Ausgabe von Honoré de Balzacs "Verlorene Illusionen", dem achten Band seiner "Comédie humaine", denn einfach kann es nicht gewesen sein, die Satzmonster und die (vermutlich absichtlich) allgegenwärtigen Plattitüden zu bewältigen, ohne den Lesefluss zu beeinträchtigen, ist sich der Rezensent sicher. Absichtlich abgedroschen ist wahrscheinlich so vieles, vermutet Laux, weil es Balzac auch um eine Kritik eines journalistischen und literarischen Possenspiels ging, in das er seinen Protagonisten, den jungen Dichter Lucien Chardon, hineinwirft, und an dem er ihn scheitern lässt. Es ist im Grunde die Geschichte des Scheiterns überhaupt, so der Rezensent: der hoffnungsvolle Provinzler kommt in die Stadt, um sein Glück zu machen, und wird von ihr zugrunde gerichtet, erklärt Laux.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Übersetzerin hat das alles großartig gemeistert, der Roman liest sich sehr flüssig, biedert sich dabei keiner modernistischen Diktion an. ... immer wieder sind da Sätze, so kompakt und stringent, man liest sie staunend, sie enthalten für sich eine ganze Welt." Thomas Laux, Neue Zürcher Zeitung, 03.01.15.

"Das Beste an dem Buch: Nichts von dem, was Balzac beschreibt, hat sich geändert. Der Roman ist wie ein Live-Bericht aus dem Kulturzirkus von heute. ... glänzend neu übersetzt von Melanie Walz." Uwe Wittstock, Focus, 03.01.15

"Einer der großen Romane der Weltliteratur liegt jetzt in einer leicht dahinfließenden Neuübersetzung von Melanie Walz vor. ... Wer die Gegenwart verstehen will, muss Balzac lesen!" Maike Albath, Deutschlandradio Kultur, 15.12.14

"Nie wurde lustiger, böser, klüger über uns Kulturjournaille geschrieben." Alexander Cammann, Die Zeit, 11.12.14

"Es ist ein Glück, dass kürzlich eine stilsichere, elegante Neuübersetzung erschienenist, die alle Voraussetzungen für eine solche Lektüre bietet ... 'Illusions perdues' gehören zu den größten Romanen der Weltliteratur." Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 02.12.14

"Wer das Werk in einer Übersetzung lesen will, die ihm gerecht wird, dem kann nun geholfen werden." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.14

"Und staunend wird man gewahr, dass das gnadenlose Bild einer verlogenen Gesellschaft, das er malt, so fremd und gestrig, wie man denken könnte, gar nicht ist." Klaus Bellin, Neues Deutschland, 22.11.14…mehr