„Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne! Man muss an den Menschen verzweifeln“ - dieses vernichtende Urteil schrieb bereits im September 1938 der Laubacher Justizinspektor Friedrich Kellner (1885-1970) in sein gerade begonnenes Tagebuch, das er fast sieben Jahre heimlich führte. Was der 41jährige
Sozialdemokrat vor dem Kriegsausbruch und später aufschrieb, darauf stand die Todesstrafe. Jeden Moment…mehr„Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne! Man muss an den Menschen verzweifeln“ - dieses vernichtende Urteil schrieb bereits im September 1938 der Laubacher Justizinspektor Friedrich Kellner (1885-1970) in sein gerade begonnenes Tagebuch, das er fast sieben Jahre heimlich führte. Was der 41jährige Sozialdemokrat vor dem Kriegsausbruch und später aufschrieb, darauf stand die Todesstrafe. Jeden Moment hätten seine Aufzeichnungen entdeckt werden können und Kellner hätte wahrscheinlich auf dem Schafott geendet. Immerhin wurde er bespitzelt und mehrfach bedroht, nur mit Glück entging er einer beabsichtigten KZ-Einweisung.
Von Anfang an begegnete Kellner dem NS-Regime mit Ablehnung und Abscheu. Seit 1933 war er Justizinspektor im oberhessischen Laubach, trotzdem verfolgte er aufmerksam und misstrauisch die Politik des Nazi-Regimes. Er wollte der Nachwelt ein Zeugnis ablegen von der gedankenlosen Unterwürfigkeit seiner Zeitgenossen.
Während des Zweiten Weltkrieges füllte Kellner zehn Notizbücher, fast 900 Seiten. Fast täglich äußerte er darin seine Kritik am NS-Regime und dokumentierte akribisch die vielen kleinen und großen Verbrechen der Faschisten bis hin zum Vernichtungsprogramm an der jüdischen Bevölkerung.
Im Gegensatz zur Mehrheit der „Volksgenossen“ durchschaute er die hohlen Propagandaphrasen der Naziideologie. Besonders die Euphorie im Zuge der anfänglichen militärischen Erfolge der Blitzkriege geißelte er und erkannte mit bewundernswerter Weitsicht die künftige Niederschlagung Deutschlands. Aus den ihm (und eigentlich jedem Normalbürger) zur Verfügung stehenden Informationen wie Zeitungsberichten, Nachrichtenmeldungen usw. zog er seine messerscharfen Analysen. So klebte er zahlreiche Zeitungsausschnitte in seine Aufzeichnungen ein und kommentierte sie mit wachem Geist und einfacher Sprache.
In diesen Tagebüchern trifft das Weltgeschehen während der Kriegsjahre auf das tägliche Leben in Dritten Reich, denn immer wieder hielt Kellner die Stimmungslage seiner Landsleute fest. Dabei machte er die vielen kleinen Veränderungen im Alltag sichtbar und stellte stets die Frage: Warum sehen die anderen den Weg in den Untergang nicht?
Nach Kriegsende zog sich Kellner enttäuscht zurück. Für ihn arbeitete der neue Staat die Nazi-Vergangenheit viel zu wenig auf. Die neuen Bundesbürger wollten nicht mehr daran erinnert werden. Das bewog Kellner fast zum Verbrennen seiner Tagebücher.
Durch einen glücklichen Umstand gelangten neun Notizbücher in den Besitz eines Enkels (Robert Martin Scott Kellner) aus den USA, der sich für die Aufzeichnungen seines Großvaters interessierte. Diese wurden 2005 mit Fotos und Erinnerungsstücken in den USA zum 60. Jahrestag des Kriegsende ausgestellt. Dadurch wurde man auch in Deutschland auf dieses außergewöhnliche Zeitdokument aufmerksam. Gießener Wissenschaftlern gelang dann sogar, den fehlenden zehnten Band bei einem langjährigen Bekannten Kellners ausfindig zu machen.
Die nun im Göttinger Wallstein Verlag vorliegende Edition gibt den handschriftlichen Text Kellners sowie den Text der Zeitungsausschnitte wieder. Ziel der zweibändigen Edition im Schober war eine lesbare Ausgabe. Um dem Leser jedoch auch eine Vorstellung von den Originalaufzeichnungen zu vermitteln, wurden zahlreiche Abbildungen von den Tagebuchseiten mit aufgenommen.
Ein recht ausführlicher Anhang bringt auf ca. 80 Seiten erläuternde Anmerkungen zu Kellners Aufzeichnungen. Darüber hinaus gibt sein Enkel in einem biografischen Bericht Auskunft über das Leben seines Großvaters, ergänzt mit vielen Familienfotos. Bemerkungen zur Edition und zum Sprachgebrauch Friedrich Kellners sowie ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis komplettieren dieses einmalige Zeitdokument.
Manfred Orlick