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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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Der französische Wahlkampf als Stellungskrieg / Von Jürg Altwegg, Genf
Über die Wahl des französischen Präsidenten 2022 gibt es bereits einen Roman: In "Unterwerfung" prophezeite Michel Houellebecq vor sieben Jahren den Einzug der Muslime in den Elysée-Palast. Ausgeliefert wurde das Buch am Tag des Attentats auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo", an diesem Tag war Houellebecq auf dem Cover zu sehen. Die Karikaturisten starben, der Schriftsteller musste untertauchen. Im selben Jahr erfüllte der Terror Paris. Bei den Regionalwahlen im Dezember erreichte der rechtspopulistische Front National vierzig Prozent. Es war der Beginn des Niedergangs des damaligen Präsidenten François Hollande und zugleich des Aufstiegs seines Finanzministers. Die Rolle von Emmanuel Macron hat Houellebecq in "Unterwerfung" nicht vorausgeahnt.
Macron verkörperte damals ein Heilsversprechen, die Erlösung von Links und Rechts. Er wurde als "président-philosophe" gefeiert. Seine Strategie für die Wiederwahl in diesem Jahr sollte auf eine Neuauflage des Duells gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen angelegt sein. Aber seit ein paar Wochen ist alles ganz anders. Marine Le Pen wird von Eric Zemmour rechts überholt, die Meinungsumfragen bescheinigen den Rechtsextremen 35 Prozent. Ihren Zusammenschluss mit den linken Souveränisten betreibt der Philosoph Michel Onfray, Herausgeber der Zeitschrift "Le Front populaire". Die Souveränisten, die sich in der Vergangenheit der Anerkennung der Verbrechen von Vichy verweigerten, wollen die Nation vor ihrer Auflösung in der EU und der Globalisierung retten.
Seit Jahren verspricht Zemmour ein Gegengift zur Ideologie des Büßens und Bewältigens, ein Verbot aller Gender-Quoten und inklusiven Schreibweisen. Auf seinem Programm steht die Abschaffung der Rassismus-Strafnormen und der sogenannten Erinnerungsgesetze, die die Leugnung von Genoziden unter Strafe stellen. Der Historiker Marcel Gauchet vergleicht Zemmours Äußerungen mit Trumps Fake News: "Man weiß, dass sie falsch sind. Aber sie sorgen für Aufmerksamkeit bei den linken Journalisten. Es funktioniert jedes Mal."
Längst hat die Neue Rechte die Intellektuellen erreicht. Aber mit Marine Le Pen, die bei den Wahlen im vergangenen Sommer keine einzige Region gewann, schien die politische Machtübernahme unmöglich. Diese Einsicht muss den Journalisten Zemmour von seiner eigenen Kandidatur überzeugt haben: ein Jude, der in die Rolle des Weißwäschers von Vichy schlüpft. In seiner Version der Geschichte will Zemmour Charles de Gaulle mit dem Hitler-Kollaborateur Philippe Pétain versöhnen, von dem er behauptet, er habe die französischen Juden nicht deportiert, sondern beschützt. Zemmour, der dafür schon vor Gericht stand, macht den Wahlkampf so zum Stellungskrieg um die französische Vergangenheit.
Als er anfing, seine verbotenen Äußerungen immerzu zu wiederholen, besuchte Macron als erster Präsident seit de Gaulle Vichy und geißelte die "Manipulation der Geschichte". Ins "Vichy der Gegenwart" begab sich die Sozialistin Anne Hidalgo: In Perpignan, der größten von Le Pens Rassemblement National regierten Stadt, verglich sie die Lage der Muslime mit dem Schicksal der Juden in den Dreißigerjahren. Im weiteren Verlauf der Debatte musste sich Zemmour konsequenterweise von der Anerkennung der Kriegsschuld Frankreichs distanzieren. Als Kronzeugen bemühte er de Gaulle, für den Frankreich mit Vichy nichts zu tun hatte, und die Lügen, mit denen seit 1944 die Vergangenheit verdrängt werden sollte.
Der Philosoph Robert Redeker kann Zemmours Thesen einiges abgewinnen: "Er ist ein Ideologe mit klaren Ideen." Viele seien "interessant": "Zemmour steht für das Bewusstsein, dass die Geschichte tragisch ist - was unsere Gegenwart nicht wahrhaben will. Die Medien bekämpfen ihn, weil er sie mit der Rückkehr der Realität konfrontiert. Wir aber leben wie die osteuropäischen Staaten zur Zeit des Kommunismus in der Lüge. Zemmour deckt sie auf."
Wählen will Robert Redeker ihn trotzdem "eher nicht": "Mit Nostalgie macht man keine Politik." Die Leser Houellebecqs kennen Redeker schon aus "Unterwerfung". Dort ist er zu einem Mann namens Robert Rediger verfremdet, dem Anführer der Anpassung an den Islam nach der Machtergreifung 2022. In Wahrheit war Redeker der erste französische Intellektuelle, der wegen Todesdrohungen der Islamisten monatelang untertauchen musste. "Ein Schock", so Redeker, sei es gewesen, als er von den Polizisten, die einst sein Leben beschützt hatten, im Lockdown kontrolliert wurde. In der Pandemie werde in Frankreich Polizeistaat gespielt. "Wir leben in einer Parodie der Diktatur."
Auch der Historiker Marcel Gauchet kritisiert Macrons Pandemie-Politik. Er wirft dem Präsidenten einen "Missbrauch der Angst" vor. Seine Bilanz der Ära Macron fällt ernüchternd aus: "Fünf verlorene Jahre."
In der Wahlkampagne wiederum haben die Dichter die Philosophen abgelöst. Zemmour sieht sich als Chateaubriand und schwärmt von Balzac. Er rehabilitiert nicht nur Pétain, sondern die reaktionären Dichter und Historiker der Kollaboration. Immer wieder zitiert wird der Antisemit und Pétain-Beeinflusser Charles Maurras - auch von Macron. "Man muss die neuen Propheten anhören, aber man darf sie nicht wählen", rät der algerische Schriftsteller Kamel Daoud den Franzosen.
Noch beherrscht Eric Zemmour das Narrativ, die Themen und die Dramaturgie. Aber dem Weißwäscher von Vichy schlägt in den Umfragen die größte moralische Abscheu entgegen. Der belesene Intellektuelle, der sich in die Wahlkampfarena verirrte, spaltet die extreme Rechte und rüstete sie geistig auf. Der misogyne Mann, der das Patriarchat retten will, könnte zum Steigbügelhalter einer Frau werden: der Republikanerin Valérie Pécresse.
In Houellebecqs neuem Roman "Vernichten" geht es derweil bereits um den Wahlkampf des Jahres 2027. Auch Zemmour kommt vor: als "Leitartikler des 'Figaro'". Von Macron, dem von Intellektuellen meistgehassten Präsidenten der Fünften Republik, zeichnet er ein vernichtendes Porträt. Aber Macron hat sein Volk in der Pandemie vor noch Schlimmeren bewahrt. In "Vernichten" hat er die Wahl im Frühjahr 2022 bereits gewonnen.
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