Die Geschichte einer unglücklichen jungen Frau, die sterben will und erst angesichts des Todes entdeckt, wie schön das Leben sein kann, wenn man darum kämpft und etwas riskiert. Ein wunderbares Buch über die Prise Verrücktheit, die es braucht, um den eigenen Lebenstraum Wirklichkeit werden zu lassen, und eine große Liebeserklärung an das Glück in jedem von uns. "
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2000Die neun Auserwählten
Sinnreich: Paulo Coelhos Roman "Veronika beschließt zu sterben"
Der Meister hat sich verspätet. Um zwei wollte er seinen Vortrag beginnen, jetzt ist es sechs. Von den zweitausend Zuhörern sind die meisten verärgert gegangen, nur hundert haben ausgeharrt. Endlich kommt er, der Sufi-Meister Nasredin. Aber was ist das? Er ist völlig betrunken! Und er ruft Obszönitäten. Fluchtartig verlassen die in ihrer Geduld Betrogenen den Saal. Neun bleiben sitzen. Da geht ein Ruck durch den Meister: "Er war nüchtern, seine Augen verströmten Licht, und ihn umgab eine Aura von Würde und Weisheit." Neun sind auserwählt, sie haben die "spirituelle Prüfung" bestanden und sollen die Botschaft hören.
Die Frage nach der "Botschaft" eines Buches mag Autoren zum Stöhnen bringen, nicht Paulo Coelho, aus dessen neuem Roman diese Episode stammt. Bei ihm, dem 1947 in Rio de Janeiro geborenen Verfasser des Bestsellers "Der Alchimist", darf die Frage gestellt werden. Der zur Zeit meistgelesene brasilianische Autor möchte ein Botschafter des richtigen Lebens sein. Hör auf dein Herz und folge deinen Träumen - so lautet der Fahrplan in ein Glück jenseits der Alltagsverstrickungen und Anpassungszwänge. Mehr als zwanzig Millionen Buchkäufer in aller Welt haben die Botschaft vernommen. Der neue Roman "Veronika beschließt zu sterben" ist mit einer Startauflage auf den deutschen Markt gekommen, die manche Autoren sich für ihr Lebenswerk wünschten.
Bevor Coelho Schriftsteller wurde, hat er lange nach dem rechten Weg gesucht. Er hat Jura studiert, war Texter von kritischen Rocksongs, für die ihn die Militärjunta in den siebziger Jahren ins Gefängnis warf, er war Journalist, Zeitschriftenherausgeber, Theaterleiter, ein Direktor von Polygram Brasilien, er hat religiöse und philosophische Anschauungen ausprobiert und Weltreisen unternommen. Dabei ist er auch durch jenes kleine europäische Land gekommen, das den für das brasilianische Erstpublikum sicher sehr exotischen Schauplatz von "Veronika beschließt zu sterben" abgibt: die junge Republik Slowenien, erste Abtrünnige des zerfallenden Jugoslawien.
Coelho erzählt die Geschichte einer Heilung. Die attraktive Veronika will ihrem vierundzwanzigjährigen Leben ein Ende setzen, nicht Verzweiflung, sondern Überdruss ist das Motiv. Nach dem Selbstmordversuch erwacht sie in der Psychiatrie von Ljubljana. Der Chefarzt teilt ihr mit, dass sie durch das eingenommene Gift ihr Herz schwer geschädigt und nur noch wenige Tage zu leben habe. In diesen letzten Tagen entdeckt Veronika das Leben neu. Sie lernt die Schicksale einiger Mitpatienten kennen, sie verliebt sich, überwindet Hemmungen. Wer vom Leben Abschied nehmen muss, sieht es mit neuen Augen. Doch die Drohung mit dem Tod ist nur der therapeutische Trick des Arztes, um das Gift der Lebensverbitterung aus der Seele der Patientin zu ziehen.
Leser des "Alchimisten" wundern sich. Ist das der weise Fabulierer Coelho, der sich das orientalische Märchenerzählergewand über die westliche Freizeitkleidung geworfen hatte? Ist nichts mehr übrig von der Traumwelt des Erfolgsbuchs, wo ein andalusischer Schafhirte auf Schatzsuche durch die Sahara zog und mit dem Wind und der Sonne sprach? Dagegen jetzt die kalte Welt der Psychiatrie, in der Stromstöße und Insulinschocks verabreicht werden. Der neue Roman kommt nicht entrückt und abgeklärt daher. Und dennoch: das Thema ist geblieben, nur die Tonlage verändert. Lieben soll der Mensch und täglich wachsen, auf die Botschaften der Weltseele achten und aufpassen, das er nicht seinen persönlichen Lebensplan versäumt.
Die Patientenbiographien, die Coelho vorführt, offenbaren die gleichen Anpassungszwänge: Der Sohn eines Politikers möchte Künstler werden, wird aber von den Eltern in die falsche Spur einer "brillanten Diplomatenlaufbahn" gedrängt; eine erfolgreiche Anwältin, die lieber dem sozialen Engagement gelebt hätte, wird durch Panikattacken aus ihrer Normalität geholt und auf den rechten Weg gebracht; Veronika selbst hat ihren Traum, Pianistin zu werden, aufgegeben und lustlos einen sicheren Arbeitsplatz als Bibliothekarin angenommen, bis sie ihr verödetes Leben nur noch loswerden will. Mit diesen Krankengeschichten verarbeitet Coelho eigene Erfahrungen. Er selbst wurde als junger Mann von den Eltern in die Psychiatrie eingewiesen, weil er Künstler werden wollte - so deutet es ein autobiographisches Kapitel an, das ein Fremdkörper bleibt, dem Publikum jedoch die persönliche Betroffenheit des Autors verbürgt.
Der Roman ist wie ein Lehrstück gebaut und arbeitet mit den entsprechenden Vereinfachungen. Die Normalen sind die Verrückten, wir alle sollten verrückter sein, mehr Mut zum Anderssein haben, auch mal "den Hass zulassen", denn das Unterdrücken negativer Gefühle führt zu nichts Gutem. Die Erzählweise ist holzschnittartig, der Einfachheitston der Fabeln und Märchen dem Einfachheitston der Lebenshilfebücher gewichen. "Lasst zu, dass euer wahres Ich sich manifestiert", empfiehlt Meister Nasredin. "Was ist das wahre Ich?", möchten Veronika und der Leser wissen. Der Meister hat die Antwort parat: "Das ist das, was du bist, und nicht das, was die anderen aus dir gemacht haben."
"Danke, dass du meinem Leben einen Sinn gegeben hast": So redet man zum guten Ende bei Coelho. Über Ljubljana dagegen hat der Autor nicht mehr zu sagen als jemand, der die Stadt an einem Nachmittag durchwandert hat und nun die drei bekanntesten touristischen Attraktionen aufzählen kann. Passend ist die Wahl des Schauplatzes trotzdem. Die "Normalität" ist in Ex-Jugoslawien brüchiger als andernorts. Slowenien ist ein Land, wo den Meistern gelauscht wird, in dem die Esoterik boomt und postkommunistische Leerstellen gefüllt sein wollen. Die Bücher des Seelentrösters Coelho sind Welterfolge, besonders gut passen sie in diese verunsicherte Provinz.
WOLFGANG SCHNEIDER.
Paulo Coelho: "Veronika beschließt zu sterben". Roman. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 224 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sinnreich: Paulo Coelhos Roman "Veronika beschließt zu sterben"
Der Meister hat sich verspätet. Um zwei wollte er seinen Vortrag beginnen, jetzt ist es sechs. Von den zweitausend Zuhörern sind die meisten verärgert gegangen, nur hundert haben ausgeharrt. Endlich kommt er, der Sufi-Meister Nasredin. Aber was ist das? Er ist völlig betrunken! Und er ruft Obszönitäten. Fluchtartig verlassen die in ihrer Geduld Betrogenen den Saal. Neun bleiben sitzen. Da geht ein Ruck durch den Meister: "Er war nüchtern, seine Augen verströmten Licht, und ihn umgab eine Aura von Würde und Weisheit." Neun sind auserwählt, sie haben die "spirituelle Prüfung" bestanden und sollen die Botschaft hören.
Die Frage nach der "Botschaft" eines Buches mag Autoren zum Stöhnen bringen, nicht Paulo Coelho, aus dessen neuem Roman diese Episode stammt. Bei ihm, dem 1947 in Rio de Janeiro geborenen Verfasser des Bestsellers "Der Alchimist", darf die Frage gestellt werden. Der zur Zeit meistgelesene brasilianische Autor möchte ein Botschafter des richtigen Lebens sein. Hör auf dein Herz und folge deinen Träumen - so lautet der Fahrplan in ein Glück jenseits der Alltagsverstrickungen und Anpassungszwänge. Mehr als zwanzig Millionen Buchkäufer in aller Welt haben die Botschaft vernommen. Der neue Roman "Veronika beschließt zu sterben" ist mit einer Startauflage auf den deutschen Markt gekommen, die manche Autoren sich für ihr Lebenswerk wünschten.
Bevor Coelho Schriftsteller wurde, hat er lange nach dem rechten Weg gesucht. Er hat Jura studiert, war Texter von kritischen Rocksongs, für die ihn die Militärjunta in den siebziger Jahren ins Gefängnis warf, er war Journalist, Zeitschriftenherausgeber, Theaterleiter, ein Direktor von Polygram Brasilien, er hat religiöse und philosophische Anschauungen ausprobiert und Weltreisen unternommen. Dabei ist er auch durch jenes kleine europäische Land gekommen, das den für das brasilianische Erstpublikum sicher sehr exotischen Schauplatz von "Veronika beschließt zu sterben" abgibt: die junge Republik Slowenien, erste Abtrünnige des zerfallenden Jugoslawien.
Coelho erzählt die Geschichte einer Heilung. Die attraktive Veronika will ihrem vierundzwanzigjährigen Leben ein Ende setzen, nicht Verzweiflung, sondern Überdruss ist das Motiv. Nach dem Selbstmordversuch erwacht sie in der Psychiatrie von Ljubljana. Der Chefarzt teilt ihr mit, dass sie durch das eingenommene Gift ihr Herz schwer geschädigt und nur noch wenige Tage zu leben habe. In diesen letzten Tagen entdeckt Veronika das Leben neu. Sie lernt die Schicksale einiger Mitpatienten kennen, sie verliebt sich, überwindet Hemmungen. Wer vom Leben Abschied nehmen muss, sieht es mit neuen Augen. Doch die Drohung mit dem Tod ist nur der therapeutische Trick des Arztes, um das Gift der Lebensverbitterung aus der Seele der Patientin zu ziehen.
Leser des "Alchimisten" wundern sich. Ist das der weise Fabulierer Coelho, der sich das orientalische Märchenerzählergewand über die westliche Freizeitkleidung geworfen hatte? Ist nichts mehr übrig von der Traumwelt des Erfolgsbuchs, wo ein andalusischer Schafhirte auf Schatzsuche durch die Sahara zog und mit dem Wind und der Sonne sprach? Dagegen jetzt die kalte Welt der Psychiatrie, in der Stromstöße und Insulinschocks verabreicht werden. Der neue Roman kommt nicht entrückt und abgeklärt daher. Und dennoch: das Thema ist geblieben, nur die Tonlage verändert. Lieben soll der Mensch und täglich wachsen, auf die Botschaften der Weltseele achten und aufpassen, das er nicht seinen persönlichen Lebensplan versäumt.
Die Patientenbiographien, die Coelho vorführt, offenbaren die gleichen Anpassungszwänge: Der Sohn eines Politikers möchte Künstler werden, wird aber von den Eltern in die falsche Spur einer "brillanten Diplomatenlaufbahn" gedrängt; eine erfolgreiche Anwältin, die lieber dem sozialen Engagement gelebt hätte, wird durch Panikattacken aus ihrer Normalität geholt und auf den rechten Weg gebracht; Veronika selbst hat ihren Traum, Pianistin zu werden, aufgegeben und lustlos einen sicheren Arbeitsplatz als Bibliothekarin angenommen, bis sie ihr verödetes Leben nur noch loswerden will. Mit diesen Krankengeschichten verarbeitet Coelho eigene Erfahrungen. Er selbst wurde als junger Mann von den Eltern in die Psychiatrie eingewiesen, weil er Künstler werden wollte - so deutet es ein autobiographisches Kapitel an, das ein Fremdkörper bleibt, dem Publikum jedoch die persönliche Betroffenheit des Autors verbürgt.
Der Roman ist wie ein Lehrstück gebaut und arbeitet mit den entsprechenden Vereinfachungen. Die Normalen sind die Verrückten, wir alle sollten verrückter sein, mehr Mut zum Anderssein haben, auch mal "den Hass zulassen", denn das Unterdrücken negativer Gefühle führt zu nichts Gutem. Die Erzählweise ist holzschnittartig, der Einfachheitston der Fabeln und Märchen dem Einfachheitston der Lebenshilfebücher gewichen. "Lasst zu, dass euer wahres Ich sich manifestiert", empfiehlt Meister Nasredin. "Was ist das wahre Ich?", möchten Veronika und der Leser wissen. Der Meister hat die Antwort parat: "Das ist das, was du bist, und nicht das, was die anderen aus dir gemacht haben."
"Danke, dass du meinem Leben einen Sinn gegeben hast": So redet man zum guten Ende bei Coelho. Über Ljubljana dagegen hat der Autor nicht mehr zu sagen als jemand, der die Stadt an einem Nachmittag durchwandert hat und nun die drei bekanntesten touristischen Attraktionen aufzählen kann. Passend ist die Wahl des Schauplatzes trotzdem. Die "Normalität" ist in Ex-Jugoslawien brüchiger als andernorts. Slowenien ist ein Land, wo den Meistern gelauscht wird, in dem die Esoterik boomt und postkommunistische Leerstellen gefüllt sein wollen. Die Bücher des Seelentrösters Coelho sind Welterfolge, besonders gut passen sie in diese verunsicherte Provinz.
WOLFGANG SCHNEIDER.
Paulo Coelho: "Veronika beschließt zu sterben". Roman. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 224 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Coelho berührt mit seiner einfachen, schnörkellosen Sprache, die ungeheuer fesseln und begeistern kann, Menschen in ihrem Innersten.«