Alle wollen es - Banken, Politik, Wissenschaft, das Internet und die Liebe: unser Vertrauen! Doch das Vertrauen steckt in der Krise, viele fühlen sich betrogen, von Medien, Parteien, Unternehmen. Der Philosoph Martin Hartmann analysiert in einer inspirierenden Gegenwartsdiagnose, was dran ist an der Krise. Und entdeckt ein grundlegendes Dilemma: Wir preisen das Vertrauen, wir vermissen es und beklagen seinen Verlust. Doch viele haben Angst vor der Verletzlichkeit, die mit Vertrauen einhergeht. Neue Formen der Überwachung werden hingenommen, an scheinbar bestätigten Meinungen festgehalten. Das führt zu Konflikten, Unsicherheit und Stillstand. Grund genug für vertrauensbildende Maßnahmen! Eine erhellende Lektüre, die verstehen hilft, was Vertrauen eigentlich ist und für unser Leben bedeutet. Martin Hartmann ermutigt uns, wieder mehr Vertrauen zu wagen - für ein besseres Miteinander. Philosophie für alle!
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2020Worauf wir uns verlassen
Transparenz hilft nicht immer: Zwei Bücher über die politisch-gesellschaftliche Rolle des Vertrauens
Vertrauen ist ein komplexes, in sich widersprüchliches Phänomen, eine auf die Zukunft bezogene Mischung aus Wissen und Nichtwissen. In einer Definition von Georg Simmel, die auch in den beiden vorliegenden Werken zitiert wird, ist es eine Hypothese über künftiges Verhalten, "die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen", aber zugleich riskant bleibt, weil Vertrauen auch enttäuscht werden kann. Niklas Luhmann hat einen Aufsatz über Vertrauen als "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität" veröffentlicht, der gleich am Anfang mit dem berühmten Satz aufwartet, ohne jegliches Vertrauen könne der Mensch morgens sein Bett nicht verlassen. Einigkeit besteht darin, dass Vertrauen zunächst auf der Einschätzung beruht, ein anderer Mensch sei "vertrauenswürdig". Das lässt sich vergleichsweise gut auf Kleingruppen wie die Familie oder den Bekanntenkreis ausdehnen. Aber wie lässt sich Vertrauen gesellschaftlich generalisieren oder sogar gegenüber Organisationen und Institutionen fassen, zu denen es, wenn überhaupt, nur vermittelte persönliche Beziehungen gibt, nicht zuletzt zum politischen System?
Das ist die "Vertrauensfrage", die Jutta Allmendinger, seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), und ihr Mitarbeiter Jan Wetzel stellen. Ihre Ausgangsthese ist, dass Vertrauen eine Beziehung sei, die gemeinsames Handeln erst möglich mache. Genauer gesagt: Menschen schenken anderen Menschen Vertrauen, "weil sie davon ausgehen, dass diese wie sie denken und sich wie sie verhalten". Das ist eine für komplex strukturierte Gesellschaften voraussetzungsvolle Annahme. Die empirische Grundlage, auf der Allmendinger und Wetzel ihre Studie aufsetzen - zwei breit angelegte Umfragen -, führt dies vor Augen.
Zwar diagnostizieren die Autoren, es gebe keine generelle "Vertrauenskrise". Aber die Bereitschaft, anderen zu vertrauen, also auch mit ihnen zu kooperieren, werde behindert durch die Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Milieus oder Schichten. Unter ihnen ist die Vertrauensbereitschaft unterschiedlich ausgeprägt. Es gebe sie bei den Ärmeren weniger als bei den Bessergestellten, sie sei bei den "Bildungsarmen" geringer als bei den "Bildungsreichen". Bildung ist für die Autoren der wichtigste Schlüssel: "Bildung zu stärken heißt, Vertrauen zu schaffen." Dass Vertrauen am ehesten innerhalb ethnisch oder sozial homogener Milieus herrscht, verwundert wenig - das sagt schon das leicht anrüchige alte Sprichwort "Gleich und Gleich gesellt sich gern."
Vieles, was die Autoren herausgefunden haben, bestätigt die bekannte Unterscheidung zwischen den "liberalen kosmopolitischen Eliten" und den berühmten "Abgehängten". Umso erstaunlicher ist es angesichts dieser Spaltung, dass achtzig Prozent der Befragten, quer durch alle Schichten, der Meinung sind, dass diejenigen, die sich mehr anstrengen, auch mehr verdienen sollten. Das passt nicht so recht in das Schema der Autoren und wird in seiner Bedeutung auch nicht wirklich entfaltet, sondern als eine Art kontrafaktische Wahrnehmung der Wirklichkeit eingeordnet.
Damit ist ein dezidiert politischer Ton angeschlagen, der im Verlauf des Buches zu einem großen Akkord anschwillt. Schon in der Einleitung nennen die Autoren den "sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat" skandinavischer Prägung als ihr präferiertes Modell. Die "Vertrauensfrage" sehen sie vor allem als eine "Verteilungsfrage". Sie definieren Vertrauen als soziale Beziehung, die ihrerseits von den vorherrschenden sozialen Bedingungen bestimmt sei. Wo es an Vertrauen mangelt, kommt es demnach darauf an, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen annehmen können, dass die anderen wie sie selbst denken und sich auch so verhalten. Das nennen sie eine "Politik des Vertrauens".
Von diesem Punkt aus entfalten sie ein politisches Programm, das weitgehend mit sozialdemokratischen Reformideen identisch ist: von einer Bildungspolitik der Chancengleichheit bis zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, von der sozialen Durchmischung von Städten als Aufgabe des Wohnungsbaus bis zum bedingungslosen Grundeinkommen, von der einheitlichen Krankenversicherung bis zur Ausweitung der Erbschafts- und Vermögensteuer.
Man fragt sich, warum die SPD, die viele der Forderungen vertritt, die in diesem Buch aufgestellt werden, seit Jahren an Zustimmung, also doch offensichtlich auch an Vertrauen, verliert. Nur wegen "einer desolaten Politik minimaler Interventionen, die weder ein klares Ziel haben noch den Weg dahin ausleuchten", wie die Autoren meinen? Da liegt eine drastische Überschätzung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vor. Nicht nur muss demokratische Politik parlamentarische Mehrheiten für ihre Eingriffe organisieren, ihr sind auch verfassungsrechtliche und finanzielle Grenzen gezogen.
Unter methodischen Gesichtspunkten lässt sich monieren, dass die Autoren den Vertrauensbegriff überdehnen. Nicht aller soziale Zusammenhalt beruht auf Vertrauen, es gibt auch andere Stabilisatoren, wie die "Legitimation durch Verfahren", die Luhmann vor Jahrzehnten ins Feld geführt hat. Sie bleibt, trotz mancher Protestbewegung, immer noch ein Anker rechtsstaatlicher Politik. Ebenso zählen die Effizienz und Verlässlichkeit staatlicher Dienstleistungen dazu. Sind das wirklich alles nur Unterkapitel der "Vertrauensfrage"?
Wer daran zweifelt, kann sich von dem Buch des in Luzern lehrenden Philosophen Martin Hartmann bestätigt fühlen. Er wehrt sich gegen die "inflationäre Verwendung des Vertrauensbegriffs" und die Redeweise von einer großen, die Gesellschaft gefährdenden "Vertrauenskrise": "Diese kann es schon deshalb nicht geben, weil es nicht eine einzige Kraft gibt, die Gesellschaften zusammenhält." Sein als eine Art sokratisches Selbstgespräch aufgezogenes Buch versucht zunächst einmal zu klären, was Vertrauen ist und wie es entsteht, vor allem aber auch, was mit diesem Begriff nicht zu fassen ist. Hartmann schlägt einen Vertrauensbegriff vor, der bewusster verwendet wird, um besser zu verstehen, was er eigentlich bedeutet.
Der Autor setzt an der Wurzel an, am personalen Vertrauen. Umfragedaten misstraut er im Gegensatz zu Allmendinger und Wetzel grundsätzlich, weil sie Einstellungen abfragten und damit den eigentlichen Ort verfehlten, an dem vertrauensvolles Handeln entstehe: das sind nämlich lebenspraktische Kontexte, wie sie Hartmann beispielhaft unter dem Rubrum "Liebe, Freundschaft, Nähe" thematisiert. In diesen Zusammenhang gehört auch die schwierige Frage nach Wahrhaftigkeit, oder umgekehrt: welche Auswirkungen Lügen auf die Vertrauensbereitschaft haben. Hartmann zeigt auch, dass die Forderung nach "mehr Transparenz" ambivalent, jedenfalls kein Allheilmittel zur Schaffung von Vertrauen ist.
Das Buch besteht zu großen Teilen aus der Analyse praktischer Situationen, aus Beispielen und Lebenserfahrungen. Immer wieder fragt Hartmann, wo es berechtigt sei, von Vertrauen zu sprechen, und wann es eigentlich um etwas anderes geht, für das man besser ein anderes Wort benutzen sollte. Dazu gehört etwa "Verlässlichkeit", die er in einer längeren Kasuistik vom Vertrauen abgrenzt. Vertrauen wir im eigentlichen Sinn dem Beamten, der uns als Bürokrat entgegentritt, oder dem Lebensmittelhändler, bei dem wir einkaufen? Oder "verlassen" wir uns in Wirklichkeit nur auf deren Korrektheit, die durchaus von Eigeninteressen bestimmt sein kann? Zu den Differenzierungen, die bei Allmendinger und Wetzel keine Rolle spielen, gehört bei Hartmann, dass es "falsches Vertrauen" gibt, wenn nämlich "Vertrauen in Vertrauen" in die Irre führe, weshalb Misstrauen angebracht und notwendig sein kann. Das wird auch an Beispielen aus dem "Nahbereich" der Menschen durchexerziert, also dort, wo persönliches Vertrauen vorherrscht und damit ein grundlegendes Weltvertrauen stiftet.
Politische Fragen, die sich aus seinen Beispielen ergeben, erörtert Hartmann vor- und umsichtig in einem Schlusskapitel. Er erinnert daran, dass Demokratie nicht nur auf Vertrauen, sondern auch auf institutionalisiertem Misstrauen beruht. In anderen Schlussfolgerungen stimmt er dagegen durchaus mit Allmendinger und Wetzel überein: Er befürwortet mehr Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen und ist, zumindest prinzipiell, für die Einführung von Elementen direkter Demokratie.
Sein abschließendes Resümee könnte allerdings ernüchternder nicht sein, denn es führt von den "sozialen Bedingungen" wieder zurück auf die personale Wurzel allen Vertrauens: "Vertrauen ist nicht machbar oder beliebig herstellbar, nur schlechte Management-Ratgeber suggerieren das. Deswegen bleibt der Politik vorerst nichts weiter übrig, als mit glaubwürdigem und kompetentem Personal um Vertrauen zu werben."
Beide Bücher reizen, gerade weil sie sich ergänzen und unterscheiden, zum Widerspruch. Allmendinger und Wetzel machen den Vertrauensbegriff zur sozialpolitischen Universalschablone, bei Hartmann wird er manchmal ein wenig sophistisch durch Worte ersetzt, mit denen im Grunde nichts anderes intendiert ist. Ob der im Hintergrund beider Bücher präsenten Herausforderung des Rechtspopulismus mit einer "Politik des Vertrauens" oder mit einer begrifflichen Schärfung des Vertrauensbegriffs beizukommen ist, bleibt eine andere Frage.
GÜNTHER NONNENMACHER.
Jutta Allmendinger und Jan Wetzel: "Die Vertrauensfrage". Für eine Politik des Zusammenhalts.
Dudenverlag, Berlin 2020. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Martin Hartmann: "Vertrauen".
Die unsichtbare Macht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 302 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Transparenz hilft nicht immer: Zwei Bücher über die politisch-gesellschaftliche Rolle des Vertrauens
Vertrauen ist ein komplexes, in sich widersprüchliches Phänomen, eine auf die Zukunft bezogene Mischung aus Wissen und Nichtwissen. In einer Definition von Georg Simmel, die auch in den beiden vorliegenden Werken zitiert wird, ist es eine Hypothese über künftiges Verhalten, "die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen", aber zugleich riskant bleibt, weil Vertrauen auch enttäuscht werden kann. Niklas Luhmann hat einen Aufsatz über Vertrauen als "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität" veröffentlicht, der gleich am Anfang mit dem berühmten Satz aufwartet, ohne jegliches Vertrauen könne der Mensch morgens sein Bett nicht verlassen. Einigkeit besteht darin, dass Vertrauen zunächst auf der Einschätzung beruht, ein anderer Mensch sei "vertrauenswürdig". Das lässt sich vergleichsweise gut auf Kleingruppen wie die Familie oder den Bekanntenkreis ausdehnen. Aber wie lässt sich Vertrauen gesellschaftlich generalisieren oder sogar gegenüber Organisationen und Institutionen fassen, zu denen es, wenn überhaupt, nur vermittelte persönliche Beziehungen gibt, nicht zuletzt zum politischen System?
Das ist die "Vertrauensfrage", die Jutta Allmendinger, seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), und ihr Mitarbeiter Jan Wetzel stellen. Ihre Ausgangsthese ist, dass Vertrauen eine Beziehung sei, die gemeinsames Handeln erst möglich mache. Genauer gesagt: Menschen schenken anderen Menschen Vertrauen, "weil sie davon ausgehen, dass diese wie sie denken und sich wie sie verhalten". Das ist eine für komplex strukturierte Gesellschaften voraussetzungsvolle Annahme. Die empirische Grundlage, auf der Allmendinger und Wetzel ihre Studie aufsetzen - zwei breit angelegte Umfragen -, führt dies vor Augen.
Zwar diagnostizieren die Autoren, es gebe keine generelle "Vertrauenskrise". Aber die Bereitschaft, anderen zu vertrauen, also auch mit ihnen zu kooperieren, werde behindert durch die Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Milieus oder Schichten. Unter ihnen ist die Vertrauensbereitschaft unterschiedlich ausgeprägt. Es gebe sie bei den Ärmeren weniger als bei den Bessergestellten, sie sei bei den "Bildungsarmen" geringer als bei den "Bildungsreichen". Bildung ist für die Autoren der wichtigste Schlüssel: "Bildung zu stärken heißt, Vertrauen zu schaffen." Dass Vertrauen am ehesten innerhalb ethnisch oder sozial homogener Milieus herrscht, verwundert wenig - das sagt schon das leicht anrüchige alte Sprichwort "Gleich und Gleich gesellt sich gern."
Vieles, was die Autoren herausgefunden haben, bestätigt die bekannte Unterscheidung zwischen den "liberalen kosmopolitischen Eliten" und den berühmten "Abgehängten". Umso erstaunlicher ist es angesichts dieser Spaltung, dass achtzig Prozent der Befragten, quer durch alle Schichten, der Meinung sind, dass diejenigen, die sich mehr anstrengen, auch mehr verdienen sollten. Das passt nicht so recht in das Schema der Autoren und wird in seiner Bedeutung auch nicht wirklich entfaltet, sondern als eine Art kontrafaktische Wahrnehmung der Wirklichkeit eingeordnet.
Damit ist ein dezidiert politischer Ton angeschlagen, der im Verlauf des Buches zu einem großen Akkord anschwillt. Schon in der Einleitung nennen die Autoren den "sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat" skandinavischer Prägung als ihr präferiertes Modell. Die "Vertrauensfrage" sehen sie vor allem als eine "Verteilungsfrage". Sie definieren Vertrauen als soziale Beziehung, die ihrerseits von den vorherrschenden sozialen Bedingungen bestimmt sei. Wo es an Vertrauen mangelt, kommt es demnach darauf an, Verhältnisse zu schaffen, in denen die Menschen annehmen können, dass die anderen wie sie selbst denken und sich auch so verhalten. Das nennen sie eine "Politik des Vertrauens".
Von diesem Punkt aus entfalten sie ein politisches Programm, das weitgehend mit sozialdemokratischen Reformideen identisch ist: von einer Bildungspolitik der Chancengleichheit bis zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, von der sozialen Durchmischung von Städten als Aufgabe des Wohnungsbaus bis zum bedingungslosen Grundeinkommen, von der einheitlichen Krankenversicherung bis zur Ausweitung der Erbschafts- und Vermögensteuer.
Man fragt sich, warum die SPD, die viele der Forderungen vertritt, die in diesem Buch aufgestellt werden, seit Jahren an Zustimmung, also doch offensichtlich auch an Vertrauen, verliert. Nur wegen "einer desolaten Politik minimaler Interventionen, die weder ein klares Ziel haben noch den Weg dahin ausleuchten", wie die Autoren meinen? Da liegt eine drastische Überschätzung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten vor. Nicht nur muss demokratische Politik parlamentarische Mehrheiten für ihre Eingriffe organisieren, ihr sind auch verfassungsrechtliche und finanzielle Grenzen gezogen.
Unter methodischen Gesichtspunkten lässt sich monieren, dass die Autoren den Vertrauensbegriff überdehnen. Nicht aller soziale Zusammenhalt beruht auf Vertrauen, es gibt auch andere Stabilisatoren, wie die "Legitimation durch Verfahren", die Luhmann vor Jahrzehnten ins Feld geführt hat. Sie bleibt, trotz mancher Protestbewegung, immer noch ein Anker rechtsstaatlicher Politik. Ebenso zählen die Effizienz und Verlässlichkeit staatlicher Dienstleistungen dazu. Sind das wirklich alles nur Unterkapitel der "Vertrauensfrage"?
Wer daran zweifelt, kann sich von dem Buch des in Luzern lehrenden Philosophen Martin Hartmann bestätigt fühlen. Er wehrt sich gegen die "inflationäre Verwendung des Vertrauensbegriffs" und die Redeweise von einer großen, die Gesellschaft gefährdenden "Vertrauenskrise": "Diese kann es schon deshalb nicht geben, weil es nicht eine einzige Kraft gibt, die Gesellschaften zusammenhält." Sein als eine Art sokratisches Selbstgespräch aufgezogenes Buch versucht zunächst einmal zu klären, was Vertrauen ist und wie es entsteht, vor allem aber auch, was mit diesem Begriff nicht zu fassen ist. Hartmann schlägt einen Vertrauensbegriff vor, der bewusster verwendet wird, um besser zu verstehen, was er eigentlich bedeutet.
Der Autor setzt an der Wurzel an, am personalen Vertrauen. Umfragedaten misstraut er im Gegensatz zu Allmendinger und Wetzel grundsätzlich, weil sie Einstellungen abfragten und damit den eigentlichen Ort verfehlten, an dem vertrauensvolles Handeln entstehe: das sind nämlich lebenspraktische Kontexte, wie sie Hartmann beispielhaft unter dem Rubrum "Liebe, Freundschaft, Nähe" thematisiert. In diesen Zusammenhang gehört auch die schwierige Frage nach Wahrhaftigkeit, oder umgekehrt: welche Auswirkungen Lügen auf die Vertrauensbereitschaft haben. Hartmann zeigt auch, dass die Forderung nach "mehr Transparenz" ambivalent, jedenfalls kein Allheilmittel zur Schaffung von Vertrauen ist.
Das Buch besteht zu großen Teilen aus der Analyse praktischer Situationen, aus Beispielen und Lebenserfahrungen. Immer wieder fragt Hartmann, wo es berechtigt sei, von Vertrauen zu sprechen, und wann es eigentlich um etwas anderes geht, für das man besser ein anderes Wort benutzen sollte. Dazu gehört etwa "Verlässlichkeit", die er in einer längeren Kasuistik vom Vertrauen abgrenzt. Vertrauen wir im eigentlichen Sinn dem Beamten, der uns als Bürokrat entgegentritt, oder dem Lebensmittelhändler, bei dem wir einkaufen? Oder "verlassen" wir uns in Wirklichkeit nur auf deren Korrektheit, die durchaus von Eigeninteressen bestimmt sein kann? Zu den Differenzierungen, die bei Allmendinger und Wetzel keine Rolle spielen, gehört bei Hartmann, dass es "falsches Vertrauen" gibt, wenn nämlich "Vertrauen in Vertrauen" in die Irre führe, weshalb Misstrauen angebracht und notwendig sein kann. Das wird auch an Beispielen aus dem "Nahbereich" der Menschen durchexerziert, also dort, wo persönliches Vertrauen vorherrscht und damit ein grundlegendes Weltvertrauen stiftet.
Politische Fragen, die sich aus seinen Beispielen ergeben, erörtert Hartmann vor- und umsichtig in einem Schlusskapitel. Er erinnert daran, dass Demokratie nicht nur auf Vertrauen, sondern auch auf institutionalisiertem Misstrauen beruht. In anderen Schlussfolgerungen stimmt er dagegen durchaus mit Allmendinger und Wetzel überein: Er befürwortet mehr Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen und ist, zumindest prinzipiell, für die Einführung von Elementen direkter Demokratie.
Sein abschließendes Resümee könnte allerdings ernüchternder nicht sein, denn es führt von den "sozialen Bedingungen" wieder zurück auf die personale Wurzel allen Vertrauens: "Vertrauen ist nicht machbar oder beliebig herstellbar, nur schlechte Management-Ratgeber suggerieren das. Deswegen bleibt der Politik vorerst nichts weiter übrig, als mit glaubwürdigem und kompetentem Personal um Vertrauen zu werben."
Beide Bücher reizen, gerade weil sie sich ergänzen und unterscheiden, zum Widerspruch. Allmendinger und Wetzel machen den Vertrauensbegriff zur sozialpolitischen Universalschablone, bei Hartmann wird er manchmal ein wenig sophistisch durch Worte ersetzt, mit denen im Grunde nichts anderes intendiert ist. Ob der im Hintergrund beider Bücher präsenten Herausforderung des Rechtspopulismus mit einer "Politik des Vertrauens" oder mit einer begrifflichen Schärfung des Vertrauensbegriffs beizukommen ist, bleibt eine andere Frage.
GÜNTHER NONNENMACHER.
Jutta Allmendinger und Jan Wetzel: "Die Vertrauensfrage". Für eine Politik des Zusammenhalts.
Dudenverlag, Berlin 2020. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Martin Hartmann: "Vertrauen".
Die unsichtbare Macht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 302 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Obwohl Hartmann sein Buch vor der Pandemie verfasst hat, wirkt es wie eine Flaschenpost an die Zukunft. Florian Oegerli NZZ am Sonntag 20200426