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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Max Lobes Roman "Vertraulichkeiten" erzählt von den Etappen der Kolonialgeschichte in Kamerun
Schreiben, wie man spricht: Eine spannende Eigenheit der frankophonen Literatur Zentralafrikas ist ihr mündlicher Stil. Er greift eine Tradition des Geschichtenerzählens auf, die an die Figur des Griot, eines Sängers und Geschichtenerzählers, gebunden ist. Bei Ahmadou Kourouma spielt er eine zentrale Rolle, und es ist der mit dem Ahmadou-Kourouma-Preis ausgezeichnete Roman "Vertraulichkeiten" von Max Lobe, der eine Griotte die Geschichte Kameruns erzählen lässt. Genauer: Sie blickt zurück auf eine Phase des Unabhängigkeitskampfes Mitte der Fünfzigerjahre, die heute gern vergessen wird.
Der Rahmen ist eine Heimreise: Der Schweizer Autor Lobe kehrt nach Kamerun zurück; der 1986 in Duala Geborene hat bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr dort gelebt. Der leichter gewichtete Teil des Romans widmet sich der Begegnung mit dem Herkunftsland: In wenigen, kurzen Kapiteln, die sich in knappe Absätze untergliedern, berichtet Lobe von Busch-Taxifahrten und Biergenüssen, von geldgierigen Tanten und iPhone-süchtigen Cousinen. Sie skizzieren die gespaltene Identität des Exilanten, der sich der Heimat wieder nähert, von den Daheimgebliebenen jedoch mit einer Mischung aus Misstrauen und Neid abgewiesen wird.
Nicht von Mâ Maliga, genannt Thérèse. Der Hauptteil von "Vertraulichkeiten" ist der Begegnung mit dieser alten Frau gewidmet. "Nimm, mein Sohn. Trink ein bisschen von diesem guten Matango. Ekiééé! Nicht so schnell. Warum hast du es so eilig, als hättest du Durchfall? Langsam! Gieß zuerst einmal ein bisschen davon auf den Boden für unsere Toten und unsere Ahnen. Schau. Mach es wie ich. So. Gaaanz genaaau. Gut. Jetzt kannst du trinken." Wie diese Einlassung gibt der Großteil des Romans Maligas Reden wieder. Sie führt den Erzähler durch die ländliche Gegend, in der Ruben Um Nyobè wirkte und verfolgt wurde.
Um Nyobè (1913 bis 1958), genannt Mpodol ("Wortführer" auf Bassa), vertrat die aus einer Gewerkschaft hervorgegangene Partei Union des populations du Cameroun (Union der Völker Kameruns, UPC), eine nationale Sammlungs- und Unabhängigkeitsbewegung, die gegen die französischen Kolonialherren opponierte. Der Roman lässt mit Maliga eine Augenzeugin berichten über Mpodols Auftritte in den Dörfern, seine Reise zum UN-Sitz, sein Leben auf der Flucht, die Inhaftierung seiner Unterstützer, seine Erschießung. Der Fokus liegt auf den ereignisreichen Jahren 1955 bis 1958, aber Maliga holt viel weiter aus: Ihre durch Palmwein befeuerte Darstellung ist im wahrsten Sinne des Wortes episch breit und entwirft mittels der Dorfwelt von Song-Mpeck ein episches Fresko. Exemplarische Gestalten wie ihr frankreichtreuer Vater Bissou Ma Ndap, genannt Jean-Baptiste, ihre rebellische Mutter Mâ Tonyè, genannt Marie- Antoinette, oder der Dorfchef Mutt Manòla, genannt Louis-Paul, verleihen ihrem Bericht die Tiefe der Vergangenheit und die Fülle der Gegenwart.
Die Dorfälteste Mama Nyango, genannt Ruth, und deutsche Einsprengsel im Dorfvokabular ("Dachziegel") deuten weitere Etappen der kolonialen Geschichte an. Maligas Onkel Malep Ma Ndap, genannt Roland, der "nackt-nackt-wie-ein-Wurm" durchs Dorf rast und dabei sein Gemächt zeigt, ist beim Militärdienst in Indochina verrückt geworden; am Rande werden die Einsätze französischer Kolonialtruppen in diversen Kriegen gestreift. Maligas Eltern schließlich stehen für mögliche Haltungen zur Kolonialmacht: der Vater als unterwürfiger Verehrer der französischen Kultur ("Oh mein Gott! Sehr nur diese dreckigen kleinen Neger da an! Haben nichts in der Kokosnuss, verflucht!"), die Mutter als selbstbewusste Verfechterin der Unabhängigkeit und Wiedervereinigung Kameruns.
Darum geht es im Grunde immer: "Wir wollten unsere Freiheit. Wir wollten, dass diese Leute da, die Weißen da, dass diese Poulassi da verschwinden und uns hier in unserem Land, in unseren Wäldern in Ruhe lassen. Muss man ein Langer-Bleistift-Intellektueller gewesen sein, um das zu verstehen, hm, mein Sohn?" "Vertraulichkeiten" erzählt dennoch keine antikolonialen Heldenmärchen: Grausamkeiten beider Seiten werden benannt. Vor allem wirkt all das nicht heroisch: "Blutige Fleischteile überall. Die Einsatzkräfte der Kolonialmacht schossen auf jeden. Echte Kugeln. Echte Kugeln aus dem echten Krieg. Mit Macheten rückten einige Männer in Zivil langsam in der Rauchwolke voran, die den Platz bedeckte. Sie erledigten diejenigen, die schon am Boden lagen, aber die sich noch ein kleines bisschen bewegten, so wie ein Hahn mit durchgeschnittener Kehle, der sich aber weigert zu sterben."
Anfangs baut der Roman ganz auf dem schnoddrigen Charme seiner Erzählerin und ihren oft pittoresken Dorfgeschichten und Porträts auf. Gegen Ende freilich, als die Repression durchgreift, dominiert vollends der vorher eher angedeutete Schrecken: Die frisch verheiratete, schwangere Maliga wird im Lager Ngok-Bassong interniert. Mit dem Tod Um Nyobès auf Ebene des Berichts und dem Besuch seines Grabmals auf Ebene der Rahmenerzählung endet der Roman so abrupt, wie er angefangen hat.
Den Eindruck mündlicher Direktheit verdankt "Vertraulichkeiten" tausend gut platzierten Details, von Redewendungen über Sprachticks bis hin zu Einzelheiten im Setting, die nebenbei erwähnt werden; der Leser bekommt den Eindruck, selbst in glühender Hitze Geschichten zu hören und Palmwein zu schlürfen. Die Übersetzung von Katharina Triebner-Cabald vermittelt die scheinbar naive, in Wahrheit gekonnt erzeugte Unmittelbarkeit aufs Treffendste. Nur den deutschen Titel könnte man diskutieren: Bei "Vertraulichkeiten" schwingt der Nebensinn "aufdringlich" mit, der dem Originaltitel "Confidences" abgeht. In der Tat, aufdringlich wirkt Maliga nicht: Einer so zutiefst traditionellen und radikal modernen Griotte zuhören zu dürfen ist eine Ehre und ein Vergnügen. NIKLAS BENDER
Max Lobe: "Vertraulichkeiten". Roman.
Aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald. Akono Verlag, Leipzig 2022. 268 S., geb., 20,- Euro.
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