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Auf der Suche nach dem verlorenen Reisbrei: David Wagner kauft im Supermarkt "Vier Äpfel" ein und kommt darüber ins Grübeln.
Von Martin Halter
Die Kaufhäuser, seit Zolas "Paradies der Damen" Orte dichterischer Inspiration, sind insolvent, und bei Aldi ist das Einkaufen nur prosaische Verrichtung. Warum also sollte ein Autor nicht mal in den Supermarkt gehen? Man kann sich hier wie Bolle amüsieren und wie Frau Schickedanz leiden, und selbst Kassiererinnen schreiben heute Bestseller. Zwischen Wursttheke und Leergutrückgabe warten die letzten Abenteuer und Märchen des Alltags. In den Abgründen der Kühlvitrinen, in den Schluchten der Marmeladen- und Teigwarengänge warten die Dinge nur auf das Zauberwort, das sie zum Singen oder doch an der Kasse zum Piepsen bringt. Was ist die Pizza-Theke anderes als ein Schneewittchensarg, aufgefüllt von einer Kittelfee? Supermärkte sind die Museen der Moderne, Beuys-Installationen, Schulen der Empfindsamkeit und Erinnerungspaläste.
David Wagner ist so etwas wie ihr Proust. Sein erster Satz heißt jedenfalls vielversprechend: "Lange bin ich nicht gern in Supermärkte gegangen." Er begreift sich als "Supermarktpointillist" und Stilllebenmaler: "Ich schalte Nahaufnahme hinter Nahaufnahme, um nur ja nie ein Panorama zu sehen." In einhundertvierundvierzig durchnumerierten Beobachtungen, Glossen und Gedanken, zweiundfünfzig Fußnoten und zwei faksimilierten Einkaufs- und Kassenzetteln sammelt er alles, was einem hellwachen, nachdenklichen Kunden im Supermarkt zu- und aufstoßen kann: Bleib-gesund-Fruchtschnitten und barocke venezianische Klobürsten, Retro-Verpackungsdesign und futuristische Digitalwaagen, das Marktgeschrei der Reklame und Teenagergespräche am Zeitschriftenstand.
Er meditiert über tiefgefrorene und ultrahocherhitzte Aggregatzustände von Natur und Kindsheitserinnerungen, stolpert über kostbare Wörter wie Umlandgurke, Überbackkäse oder Feinstrumpfhose und wagt sogar einige Handke-Versuche über die Münzschale oder den Warentrennstab. Kein Verfallsdatum ist ihm zu klein gedruckt, keine "Grobstrumpfhose" zu blickdicht gesponnen, um nicht Gegenstand feinsinniger Impressionen und kluger warenästhetischer Reflexionen werden zu können.
Wagner ist Vorkoster und Ökotester, Spezialist für Warenbewirtschaftung und Marketing, Otto Normalverbraucher, Kultur- und Technikhistoriker, romantischer Märchenerzähler und teilnehmender ethnologischer Beobachter. Was er in den vergangenen sechs Jahren in den Supermärkten der Republik zusammentrug, hat er mit seinen Erfahrungen in Drogerien und französischen Metzgereien abgeglichen und mit "Frühergerüchen" und "Pubertätsaromen" angereichert.
Früher, als die Zukunft noch kein Mindesthaltbarkeitsdatum hatte, kochte seine Großmutter noch wunderbare Kartoffelpuffer und frischen Milchreis. Die Kuhmilch vom Bauern war zwar mit ihren Häutchen, Fliegen und Gülle-Aromen nicht sehr appetitlich, aber sie schmeckte wenigstens nicht wie sterilisierte Tütenmilch. Früher waren die Äpfel wurmstichig, verschrumpelt und sauer, naturbelassen und menschlich-lebendig. Heute kann es vorkommen, dass vier normierte, wächsern glänzende Designeräpfel in der Plastikhülle exakt tausend Gramm wiegen. Wunder oder betrügerisches Eichmaß, Paradies oder Hölle?
So kommt Wagner ins Grübeln. Warum eigentlich sind immer dreizehn Fischstäbchen in einer Packung? Was will uns das Bild einer Almhütte auf dem mexikanischen Biohonig sagen? Ist der Einkaufswagen nicht die letzte Stütze des Prothesengotts Mensch, ein Zwischending zwischen Kinderwagen und Rollator? Brauche ich wirklich elektrische Eiscrusher, Mangogabeln und Buttermesser? Und warum heißt das Klo- immer so vornehm Hygienepapier? Interessante Fragen, zweifellos, vor allem, wenn sie mit so viel sanfter Beiläufigkeit und melancholischer Trauer ausgesprochen werden. Wagner äußert mehrfach sein Mitleid für aussterbende Produkte und überforderte Konsumenten.
Aber warum heißen die Prosaskizzen eigentlich "Roman"? Von einer Handlung oder Charakteren kann keine Rede sein; selbst die Kindheit des Käufers bleibt weitgehend im Dunkeln ("Mama war ja nicht da"). Er streift unruhig wie Benjamins Flaneur durch die "geilen Straßen des Handels"; betrachtet schaudernd und beglückt die "ungeheure Warensammlung", von der Marx im "Kapital" spricht, aber bis auf ein paar Identitätszweifel und einen ziemlich aktiven Möglichkeitssinn zeigt er kaum konsumkritische Absichten. Einsam, skeptisch und manchmal auch heiter schnürt er durch den Warenkosmos, nicht unempfänglich für verführerische Verpackungen, Rabatte und die Sparversprechen des Familienpacks.
Manchmal überfallen ihn allerdings Albträume und surreale Visionen, und dann halluziniert er ansatzlos eingedoste Erinnerungen, tanzende Verkäuferinnen und Wölfe an der Kasse. Harmlose Konsumidioten erscheinen ihm plötzlich wie ferngesteuerte Androiden und Zombies, Ravioli wie abgeschnittene Ohren; an der Fleischtheke wird gut abgehangenes Menschenfleisch feilgeboten, in anderen Abteilungen auch Kinder, Erlebnisse oder Partner für den Single.
Die David-Lnych-Schocks sind natürlich nur eine Fata Morgana, aber sie kommen nicht aus heiterem Himmel: Wagners Supermarktbesucher ist gerade die Freundin abhandengekommen. Jede Ware, jede Kundin, die vor ihm in der Schlange ihr Innerstes im Einkaufswagen preisgibt, erinnert ihn an L., selbst im routinierten Lächeln der Kassiererin wittert er ein erotisches Sonderangebot.
So schlafwandelt er durch den Supermarkt des Daseins, nimmt mit Schrecken wahr, wie der Tod, der ein Leben nach dem anderen in seinen Warenkorb legt, an der Kasse nicht bezahlen muss, und findet mit seinem allerletzten Wort doch noch "hinaus ins Freie". In seinem Einkaufswagen liegen H-Milch, Wurst, zwei Zitronen und vier Äpfel, aber natürlich keine Frau und kein Wunder. Liebe lässt sich nicht kaufen, ein Kuss nicht einfrieren. Für einen ganzen Nachmittag im Supermarkt ist das dann doch eine magere Ausbeute.
David Wagner: "Vier Äpfel". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 160 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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