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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Im Dreieck: Katharina Geiser erzählt in "Vierfleck oder Das Glück" merkwürdige Beziehungsgeschichten
An diesem Roman kann der Leser sein Kombinationsvermögen beleben; ein munteres Spiel der Zeitsprünge treibt die Autorin mit ihm. Jahreszahlen gliedern den Roman, aber indem sie sich vielfach wiederholen, legen sie das Gewicht auf wechselnde Perspektiven. Sie widersetzen sich der Erwartung von Chronologie. Eine Fülle von Ereignissen und Personen sorgt für historisches und kulturelles Kolorit: die Pariser Weltausstellung von 1900, die Fahrt mit der neuen Metro, Künstler wie Manet, Franz Marc und Emil Nolde, der Dichter Hugo von Hofmannsthal, die Musik von Richard Strauss, der Kreis um Stefan George, Thomas und Golo Mann. Aber seine ironische Leichtigkeit bezieht der Roman aus dem merkwürdigen Beziehungsgeflecht der Hauptpersonen und der Ungewöhnlichkeit der erotischen Konstellationen.
Eugen Esslinger, der Sohn eines Miederwarenfabrikanten, bezwingt mit fünfunddreißig Jahren über den Hörnligrat das Matterhorn, versucht aber eine künstlerische Existenz aufzubauen. Dem Bruder wurde als Juden das Richteramt verwehrt, Eugen nimmt in München Malkurse. Dort lernt er Mila kennen, ein knabenhaft aussehendes Mädchen, das ihn fasziniert und das er kurzweg heiratet, ohne freilich die Heirat im Hochzeitsbett zu vollziehen. Mila liebt ihn auf unfleischliche Weise, ist aber eine Frau von Fleisch und Blut und kommt so dem Indologen Heinrich Zimmer wie gerufen. Drei Kinder von ihm wird sie gebären, und für alle lässt sich Eugen Esslinger im Geburtsregister als Vater eintragen. Dies ist seine Art von Liebesbeweis, und noch der Sterbende erinnert sich 1944 daran, dass er die Ehe durch einen katholischen Priester segnen ließ, weil es Milas Wunsch war.
Kritisch werden die Liebesabenteuer erst, als der habilitierte Indologe dem großen Wiener Dichter Hugo von Hofmannsthal als Schwiegersohn willkommen ist. Die als Studentin nach Heidelberg gekommene Christiane von Hofmannsthal gilt als vernünftig und herzlich und als dauernde Lebensgefährtin ideal. Das weiß Zimmer zu nutzen, indem er auch weiterhin Mila beglückt. So wachsen Sprösslinge aus zwei Beziehungen heran. Entspannt wird das kritische Verhältnis erst, als Zimmer mit seiner Familie nach Amerika auswandert und als Universitätsangehöriger unter dem zünftigen Namen Henry R. Zimmer eingebürgert wird. Trotzdem bleibt Mila in Amerika unvergessen.
Christiane hat, wie der Kommentar Katharina Geisers bestätigt, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Mila mit Carepaketen und Geldüberweisungen unterstützt. Gewiss, gelegentlich scheint der Gliederung des Romans mit der häufigen Wiederkehr desselben Jahres etwas Mechanisches anzuhaften. Aber immer räumt sie mit der Vorstellung auf, dass die Darstellung einer Epoche je erschöpfend sein könne. Und wie viel Lebensfreude ruft die Aufzeichnung aus dem Jahr 1909 zurück. Eugen und Mila sind in Paris, Ostende und Berlin gewesen. "Sie reisen auch in den Süden. Ein ganzes halbes Jahr verbringen sie in einem abgeschiedenen Ort oberhalb des Luganer Sees. Dank Mila haben sie schnell Kontakt mit jedermann. Öfters lesen sie mit den Leuten Kastanien auf oder suchen Pilze, die sie dem Koch des Hotels bringen. Sie lesen viel. Mila malt. Landschaft im Wind. Schnee auf Palmen. Sie verstehen einander. Sie freuen sich. Auch über die Blütenpracht der Kamelien."
Uns begegnet in diesem Roman eine Schriftstellerin wieder, die ihre Wohnsitze am Zürichsee und in Schleswig-Holstein wechselt und die schon in ihrem Roman "Diese Gezeiten" (2011) zeigte, wie sich geistvolle und poetische Schreibweise verknüpfen lassen. Alle näheren Verwandten Eugen Esslingers wurden Opfer des Holocaust: Dennoch meidet die Autorin den rigiden Stil der Anklageprosa. Aus "dem bunten, geradezu tumultuösen Kosmos kam mir Eugen Esslinger näher und näher", berichtet sie. "Schließlich war die Idee zum Roman da, also: Selbstbetrachtung der Dinge, Verdichten, Erfinden." Und gerade das Erfinden, die Freiheit der Phantasie, gibt dem Roman seine poetische Farbigkeit. Wie ein Leitthema durchzieht den Roman das Motiv der Libelle. Ein Biologe führt Eugen in die Libellen-Kunde ein: "Schillebolde, französisch demoiselles, finden sich versteinert schon im Jura, im Miozän und im Bernstein." Im Fortgang des Romans finden wir viele Details zu den Flug- und den Fortpflanzungsweisen, aber auch zu der Unberechenbarkeit dieser zauber- und rätselhaften Tiere, die mühelos auch rückwärts fliegen. "Vierfleck" heißt eine der Arten, die man auf einem der Massenzüge im Jahre 1897 auf der Insel Föhr beobachten konnte. Den Namen "Vierfleck" hat die Autorin auch für den Titel des Romans gewählt: "Vierfleck oder Das Glück".
Stehen die davonziehenden Libellenschwärme als Bild und Zeichen für ein Glück jenseits des Unheils, das 1933 über Deutschland hereinbrach? - Die Frage bleibe offen. Der Roman zeigt eine sich verdunkelnde Welt des zwanzigsten Jahrhunderts in literarisch funkelnden Skizzen. Was abhandenkommt, ist die in den Beziehungen der Personen aufscheinende Ironie. In seinem Todesjahr, 1944, lebt Eugen Esslinger, den einmal die "Schönheit der Welt getroffen" hat, verarmt und vereinsamt und schreibt in sein Lektüreheft: "Ein Same müsste man sein. Ein Same von einer Birke zum Beispiel. Zu Boden segeln und sich irgendwann wieder erheben. Um noch mal da zu sein. Auf eine andere Weise."
WALTER HINCK
Katharina Geiser: "Vierfleck oder Das Glück". Roman.
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2015, 263 S., geb., 18,90 [Euro].
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