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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Thriller kann er auch: Marc-Uwe Klings "Views"
Yasira Saad ist dreiundvierzig, Hauptkommissarin im Bundeskriminalamt, Abteilung schwere und organisierte Kriminalität. Sie ist geschieden, alleinziehende Mutter einer sechzehnjährigen Tochter, der zuliebe sie nur noch Veggieburger bestellt. Sie ist ebenso overworked wie underfucked, weshalb sie via Datingportal immer mal wieder Männer aufzugabeln versucht. Meist mit mäßigem Erfolg. Der Roman setzt ein, als Yasira gerade im Hard Rock Café am Ku'damm einen hinlänglich attraktiven Typen namens Stefan trifft, Journalist bei der Onlineausgabe einer Berliner Zeitung und wenigstens "kein Totalausfall wie die letzten beiden".
Da Stefan nicht die Griffel von seinem Handy lassen kann, landet das Anbahnungsgespräch in einer Sackgasse: Er klickt auf ein Video, das ein monströses Verbrechen dokumentiert. Es zeigt, wie die unlängst als vermisst gemeldete sechzehnjährige Lena aus Sachsen-Anhalt von drei Schwarzafrikanern vergewaltigt wird. Ein Riesenerfolg im Netz und ein Vorgeschmack darauf, was alsbald politisch ins Rutschen kommen wird. Tatsächlich fordert umgehend ein Paramilitär namens "Bär", die Afrikaner zu töten. Er ist Mitglied der Bewegung Aktiver Heimatschutz, posiert mit einer Maschinenpistole und wünscht allseits "gute Jagd".
Im BKA wird Yasira als Ermittlungsleiterin erkoren - als "Nicht-Deutsche" scheint sie dem Innenministerium die Idealbesetzung zu sein. Dass Yasiras aus dem Libanon stammenden Eltern einer Sekte angehören, die sich Kommunisten nennt, scheint nicht zu stören. Fackelmärsche, ein Sturm auf den Reichstag, die Stimmung eskaliert erst im Netz, dann auf den Straßen. Aus allen Löchern kriechen Ausländerfeinde. Derweil ermittelt Yasira in Lenas Heimat nahe Halberstadt, aber viel mehr als einen elf Jahre älteren Freund, der neben Cannabis auch mit dem Opiat Fentanyl experimentiert, kommt dabei nicht ans Licht. Dann taucht ein Video auf, in dem ein Rechtsradikaler einen der drei Vergewaltiger hinrichtet.
Marc-Uwe Kling, mit den "Känguru-Chroniken" berühmt geworden, ist seit Längerem auch als Romanautor unterwegs. Nach den Dystopien "Qualityland" (2017) und "Qualityland 2.0" (2020) hat er zuletzt mit seinen Töchtern einen Ausflug ins Fantasy-Genre unternommen ("Der Spurenfinder"). Nun also sein erster Thriller. "Views" steht angesichts der Popularität des Autors ein Bestsellerschicksal bevor.
Eng mit Yasira arbeitet Michael Becker, Mittfünfziger mit Junkfood-Gen, der noch in der DDR aufwuchs und "latent rassistisch" ist, "aber auf eine irgendwie nette Art". Was die Gnade des Wortspiels angeht, kommt Becker seinem Erfinder Kling am nächsten. Mit an Bord sind zwei Katjas, ein Timo und eine Jenny und über allem der cholerische Chef Stefan Gebhardt (noch ein Stefan!), der unter wachsenden Druck aus der Politik gerät und Angst hat, seinen Job zu verlieren.
Ein weiteres Video, in dem ein sich "Rotfuchs" nennender Neonazi einen angeblichen Mitvergewaltiger ermordet, offenbart den Abgrund, in den der Fall führt: Diesmal gibt es tatsächlich eine Leiche, nur dass es sich bei dieser um einen Asylbewerber handelt, der mit der Vergewaltigung nichts zu tun hatte. Staatsbegräbnis, Bundesverdienstkreuz ausnahmsweise postum - Kling lässt kein Ritual des Politikbetriebs aus, um die demokratischen Reaktionsmechanismen vorzuführen. Aber nicht um sie zu diffamieren, sondern um zu zeigen, dass der Rechtsstaat keine anderen hat, solange er Rechtsstaat bleiben will.
Immerhin hat Yasira noch eine instinktive Eingebung, die den Plot ins Zentrum der aktuellen Debatte um KI und die Zukunft der Menschheit führt: Was, wenn das Vergewaltigungsvideo nicht echt, sondern eine Fälschung wäre? Wer kann so etwas herstellen, ohne auf den Bildern verräterische Spuren, sogenannte Glitches, zu hinterlassen?
Man merkt dem konsequent linear konstruierten Roman an, dass sein Autor mit den Konventionen des Genres bestens vertraut ist, diese aber als das begreift, was sie sind - fiktionale Spielformen. Wenn Kling etwas beherrscht, sind es Dialoge, man hat sogar das Gefühl, er musste hie und da sein Erzählrennpferd bremsen, damit es ihm nicht mit zu vielen Pointen durchgeht. Der mit Cliffhangern gespickte Text dreht gegen Ende immer hochtouriger auf ein Finale zu, in dem Yasira ihre Superwillenskraft - doch nein: Lesen Sie selbst! HANNES HINTERMEIER
Marc-Uwe Kling: "Views". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2024. 272 S., geb., 19,99 Euro.
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