Vivaldis unerhörte Geschichte. Zu Lebzeiten war er eine Berühmtheit, heute zählen seine Kompositionen zu den meistgespielten weltweit. In der Zwischenzeit aber war Antonio Vivaldis Werk bis zu seiner Wiederentdeckung vor 100 Jahren komplett vergessen. In diesem virtuosen Roman erzählt Peter Schneider die Geschichte des musikalischen Visionärs und begnadeten Lehrers. Peter Schneider begibt sich auf die Spur des geweihten Priesters und Musikers im barocken Venedig. Und was er dabei entdeckt, ist ein nahezu unbekanntes Werk des Maestros: Sein ganzes Leben lang hat der »prete rosso« an einem Waisenhaus gearbeitet und mit den musikalisch begabten Mädchen das erste Frauenorchester Europas gegründet. Für sie schrieb er einen großen Teil seiner Konzerte, mit ihnen brachte er sie zur Aufführung.Peter Schneider zeigt sich als umsichtiger Erzähler, der der Versuchung der Fiktion nie ganz erliegt, sondern immer wieder fragend bleibt und seine Recherche miterzählt. »Vivaldi und seine Töchter« porträtiert den Komponisten als Mann seiner Zeit, der sich gegen die Verdächtigungen der Kirche, aber auch gegen seine eigenen Versuchungen zu behaupten hat. Seine »amicizia« mit der jungen Sängerin Anna Girò wird zum Stein des Anstoßes und zur Quelle seiner Inspiration.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2019Seine Schwäche für Maria della Tromba
Lombardische Rhythmen: Peter Schneider erzählt aus dem Leben Antonio Vivaldis und vom ersten Mädchenorchester Europas
Peter Schneider ist plötzlich wieder da. Mit den Kultbüchern "Lenz" (1973) und "Der Mauerspringer" (1982) brachte dieser Berliner Anführer der Studentenbewegung große Teile seiner Generation hinter sich. Unermüdlich bearbeitete er verwandte politische Themen, so etwa 1968 ("Rebellion und Wahn"), die deutsche Teilung ("Paarungen"), Mauerfall und Hausbesetzer ("Eduards Heimkehr"). Erst in den letzten Jahren wandte sich Schneider mehr der eigenen Geschichte zu, dem Älterwerden ("Club der Unentwegten", 2017) ebenso wie dem Leben seiner Mutter zwischen ihrem Mann, einem Kapellmeister, und ihrem Geliebten, einem Opernregisseur ("Die Lieben meiner Mutter", 2013).
An die eigene Herkunft aus einer Musikerfamilie knüpft jetzt auch sein neues Buch über Antonio Vivaldi an. Die Genrebezeichnung "Roman eines Lebens" ist recht vage. Folgt man Karl Philipp Moritz' einleitenden Worten zu seinem "psychologischen Roman" "Anton Reiser", der aufgrund vieler "Beobachtungen, größtenteils aus dem wirklichen Leben", auch eine (Auto-)Biographie genannt werden könnte, mag das Etikett passen. Allerdings erzählt Schneider nicht einfach aus der Vita des Barockkomponisten, sondern er legt die überwiegend italienischen und amerikanischen Quellen für seine historische Forschung offen, besucht Archive, zieht Autobiographien von Casanova, De Brosse, Goldoni, Da Ponte oder Rousseau für das Zeitkolorit mit heran und bringt sich schließlich als ein seit Jugendtagen selbst musizierender und die italienischen Originalschauplätze inspizierender Schriftsteller mit zur Geltung.
Entstanden ist auf diese Weise eine Mischgattung zwischen einem sorgfältig recherchierten und erzählerisch plausibel ausgeschmückten Leben, einem Sachbuch mit Literaturhinweisen und Begriffsglossar und schließlich einer Reflexion über das eigene Erkenntnisinteresse und Schreibverfahren. Meist ist durch die Kapitelgrenzen klar, welche der drei Perspektiven gerade eingenommen wird, es gibt aber auch Abschnitte, in denen sich die Stimmen vermischen. In den fiktionalen Passagen, meist Dialogen, fallen anachronistische Begriffe wie Coach, Combo, Party oder VIP störend auf.
Schneider setzt sich von dem zunehmend beliebten Genre historisch erfundener Lebensgeschichten positiv ab, indem er der Verlockung allzu empfindsamer Seeleneinblicke und kühner Spekulationen widersteht. Im Leben Vivaldis, das vor allem die Bücher der Engländer Michael Talbot (1978, deutsch 1985) und Micky White (2013) sowie des Italieners Gianfranco Formichetti (2017) erschließen, konzentriert er sich auf Vivaldis fast lebenslange Tätigkeit als Violinlehrer und Konzertmeister am Ospedale della Pietà, dem zentralen Waisenhaus für Mädchen in Venedig. Mit den begabtesten figlie della Pietà begründete er nicht nur ein Musikensemble von Rang, sondern komponierte auch in atemraubender Geschwindigkeit (vertraglich geforderte) Konzerte für dieses Orchester sowie Instrumentalstücke für einzelne Solistinnen. Vivaldi war seit 1703 geweihter Priester, gab den Kirchendienst aber zugunsten der Musik nach und nach auf, was in Rom nicht gerne gesehen wurde. Ob dafür tatsächlich ein Asthmaleiden ausschlaggebend war, bleibt historisch wie in der Erzählung offen.
Peter Schneider bietet ein sehr lebendiges Bild vom alltäglichen Leben in der Pietà, der Arbeit mit den figlie privilegiate, den Meisterschülerinnen, dem allmählichen Aufstieg dieser sozialen Einrichtung zur begehrten Musikakademie. Natürlich kursierten schon zu Vivaldis Zeit Gerüchte über ein mehr als professionelles Verhältnis des Maestros zu seinen Schülerinnen. Schneider geht damit sehr besonnen um, in seiner literarischen Imagination entwickelt er beispielsweise eine Neigung zu Maria della Tromba - alle Waisenkinder führen statt des Nachnamens die Bezeichnung des gespielten Instruments - und später zu der Sängerin Anna Giró, seiner Primadonna, Reisebegleiterin und Geschäftspartnerin. Mangels Quellen stellt er Vivaldis Einhaltung des Keuschheitsgelübdes aber nicht leichtfertig in Frage. In den Regiekapiteln diskutiert er diesbezügliche Publikumserwartungen für einen mit dem Kameramann Michael Ballhaus geplanten Vivaldi-Film. Ihm ist das Buch auch gewidmet.
Besonders schön ausgemalt ist die Vertreibung aus Venedig mittels einer satirischen Schmähschrift, vermutlich aus der Feder eines Konkurrenten. Vivaldi entkommt nach Rom und hat ein grandioses Vorspiel beim Papst, bei dem er sich in eine Reihe mit Corelli stellt. Das Stück "La follia", Variation eines auch von Bach, Händel, Mozart oder Scarlatti bearbeiteten Wahnsinnstanzes aus dem sechzehnten Jahrhundert, tragen zu Vivaldis Erfolg ebenso bei wie sein zur neuen Mode gewordener lombardischer Rhythmus, der durch eine kurz anschlagende betonte und eine nachfolgend punktierte Note eine vorauseilende Dynamik entfaltet. Statt biographischer Vollständigkeit folgt Schneider seinen Interessen, etwa mit Vivaldis Oper "Motezuma" über die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés, die er selbst schon in seinem Historiendrama "Totoloque" (1985) bearbeitet hat. Weitere Barockopern und deren Aufführungen hebt er hervor und erzählt schließlich von Vivaldis wenig dokumentiertem Abschied von Venedig in Richtung Wien im Zeichen eines sich wandelnden Musikgeschmacks.
Der einst so beliebte lombardische Rhythmus beflügelt auch dieses Buch. Es eilt in 52 prägnanten Kapiteln voran und entfaltet dabei ein vielfältiges Panorama der Musik und Festkultur in Venedig und darüber hinaus. Vivaldi, der erst nach zweihundert Jahren wiederentdeckt wurde und dessen "Vier Jahreszeiten" einem selbst in Aufzügen oder Telefonwarteschleifen entgegenschallen, hat einen geschickten und inspirierten Erzähler für seine Lebensgeschichte gefunden. Wie Antonio Vivaldis Musik ist sie populär, aber das muss kein Makel sein.
ALEXANDER KOSENINA
Peter Schneider: "Vivaldi und seine Töchter". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lombardische Rhythmen: Peter Schneider erzählt aus dem Leben Antonio Vivaldis und vom ersten Mädchenorchester Europas
Peter Schneider ist plötzlich wieder da. Mit den Kultbüchern "Lenz" (1973) und "Der Mauerspringer" (1982) brachte dieser Berliner Anführer der Studentenbewegung große Teile seiner Generation hinter sich. Unermüdlich bearbeitete er verwandte politische Themen, so etwa 1968 ("Rebellion und Wahn"), die deutsche Teilung ("Paarungen"), Mauerfall und Hausbesetzer ("Eduards Heimkehr"). Erst in den letzten Jahren wandte sich Schneider mehr der eigenen Geschichte zu, dem Älterwerden ("Club der Unentwegten", 2017) ebenso wie dem Leben seiner Mutter zwischen ihrem Mann, einem Kapellmeister, und ihrem Geliebten, einem Opernregisseur ("Die Lieben meiner Mutter", 2013).
An die eigene Herkunft aus einer Musikerfamilie knüpft jetzt auch sein neues Buch über Antonio Vivaldi an. Die Genrebezeichnung "Roman eines Lebens" ist recht vage. Folgt man Karl Philipp Moritz' einleitenden Worten zu seinem "psychologischen Roman" "Anton Reiser", der aufgrund vieler "Beobachtungen, größtenteils aus dem wirklichen Leben", auch eine (Auto-)Biographie genannt werden könnte, mag das Etikett passen. Allerdings erzählt Schneider nicht einfach aus der Vita des Barockkomponisten, sondern er legt die überwiegend italienischen und amerikanischen Quellen für seine historische Forschung offen, besucht Archive, zieht Autobiographien von Casanova, De Brosse, Goldoni, Da Ponte oder Rousseau für das Zeitkolorit mit heran und bringt sich schließlich als ein seit Jugendtagen selbst musizierender und die italienischen Originalschauplätze inspizierender Schriftsteller mit zur Geltung.
Entstanden ist auf diese Weise eine Mischgattung zwischen einem sorgfältig recherchierten und erzählerisch plausibel ausgeschmückten Leben, einem Sachbuch mit Literaturhinweisen und Begriffsglossar und schließlich einer Reflexion über das eigene Erkenntnisinteresse und Schreibverfahren. Meist ist durch die Kapitelgrenzen klar, welche der drei Perspektiven gerade eingenommen wird, es gibt aber auch Abschnitte, in denen sich die Stimmen vermischen. In den fiktionalen Passagen, meist Dialogen, fallen anachronistische Begriffe wie Coach, Combo, Party oder VIP störend auf.
Schneider setzt sich von dem zunehmend beliebten Genre historisch erfundener Lebensgeschichten positiv ab, indem er der Verlockung allzu empfindsamer Seeleneinblicke und kühner Spekulationen widersteht. Im Leben Vivaldis, das vor allem die Bücher der Engländer Michael Talbot (1978, deutsch 1985) und Micky White (2013) sowie des Italieners Gianfranco Formichetti (2017) erschließen, konzentriert er sich auf Vivaldis fast lebenslange Tätigkeit als Violinlehrer und Konzertmeister am Ospedale della Pietà, dem zentralen Waisenhaus für Mädchen in Venedig. Mit den begabtesten figlie della Pietà begründete er nicht nur ein Musikensemble von Rang, sondern komponierte auch in atemraubender Geschwindigkeit (vertraglich geforderte) Konzerte für dieses Orchester sowie Instrumentalstücke für einzelne Solistinnen. Vivaldi war seit 1703 geweihter Priester, gab den Kirchendienst aber zugunsten der Musik nach und nach auf, was in Rom nicht gerne gesehen wurde. Ob dafür tatsächlich ein Asthmaleiden ausschlaggebend war, bleibt historisch wie in der Erzählung offen.
Peter Schneider bietet ein sehr lebendiges Bild vom alltäglichen Leben in der Pietà, der Arbeit mit den figlie privilegiate, den Meisterschülerinnen, dem allmählichen Aufstieg dieser sozialen Einrichtung zur begehrten Musikakademie. Natürlich kursierten schon zu Vivaldis Zeit Gerüchte über ein mehr als professionelles Verhältnis des Maestros zu seinen Schülerinnen. Schneider geht damit sehr besonnen um, in seiner literarischen Imagination entwickelt er beispielsweise eine Neigung zu Maria della Tromba - alle Waisenkinder führen statt des Nachnamens die Bezeichnung des gespielten Instruments - und später zu der Sängerin Anna Giró, seiner Primadonna, Reisebegleiterin und Geschäftspartnerin. Mangels Quellen stellt er Vivaldis Einhaltung des Keuschheitsgelübdes aber nicht leichtfertig in Frage. In den Regiekapiteln diskutiert er diesbezügliche Publikumserwartungen für einen mit dem Kameramann Michael Ballhaus geplanten Vivaldi-Film. Ihm ist das Buch auch gewidmet.
Besonders schön ausgemalt ist die Vertreibung aus Venedig mittels einer satirischen Schmähschrift, vermutlich aus der Feder eines Konkurrenten. Vivaldi entkommt nach Rom und hat ein grandioses Vorspiel beim Papst, bei dem er sich in eine Reihe mit Corelli stellt. Das Stück "La follia", Variation eines auch von Bach, Händel, Mozart oder Scarlatti bearbeiteten Wahnsinnstanzes aus dem sechzehnten Jahrhundert, tragen zu Vivaldis Erfolg ebenso bei wie sein zur neuen Mode gewordener lombardischer Rhythmus, der durch eine kurz anschlagende betonte und eine nachfolgend punktierte Note eine vorauseilende Dynamik entfaltet. Statt biographischer Vollständigkeit folgt Schneider seinen Interessen, etwa mit Vivaldis Oper "Motezuma" über die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés, die er selbst schon in seinem Historiendrama "Totoloque" (1985) bearbeitet hat. Weitere Barockopern und deren Aufführungen hebt er hervor und erzählt schließlich von Vivaldis wenig dokumentiertem Abschied von Venedig in Richtung Wien im Zeichen eines sich wandelnden Musikgeschmacks.
Der einst so beliebte lombardische Rhythmus beflügelt auch dieses Buch. Es eilt in 52 prägnanten Kapiteln voran und entfaltet dabei ein vielfältiges Panorama der Musik und Festkultur in Venedig und darüber hinaus. Vivaldi, der erst nach zweihundert Jahren wiederentdeckt wurde und dessen "Vier Jahreszeiten" einem selbst in Aufzügen oder Telefonwarteschleifen entgegenschallen, hat einen geschickten und inspirierten Erzähler für seine Lebensgeschichte gefunden. Wie Antonio Vivaldis Musik ist sie populär, aber das muss kein Makel sein.
ALEXANDER KOSENINA
Peter Schneider: "Vivaldi und seine Töchter". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2020Heldenmythos,
Stimmenzauber
Antonio Vivaldi und Ernest Hemingway in Venedig in
Romanen von Peter Schneider und Hanns-Josef Ortheil
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Bis zu dem Tag, an dem bei Hochwasser nur noch die Spitze des Campanile von San Marco aus der Lagune ragt, wird Venedig als literarischer Schauplatz taugen. Romantiker mögen das der Einzigartigkeit dieses Stadtgebildes zuschreiben, Zyniker sprechen inzwischen von einer erfolgreich etablierten Marke. Venedig-Fiktionen, die in der Gegenwart spielen (zur Zeit ohnehin nur Kriminalromane) kommen allerdings an den prekären Seiten der globalisierten Serenissima nicht mehr vorbei. Entspannter stellt sich die Lage für Schriftsteller dar, die eine vergangene Version der Stadt auferstehen lassen und sie um historische Figuren herumbauen. Sie können den Topos „Venedig“ benutzen wie eine Theaterbühne, die nicht einmal aufwendig rekonstruiert werden muss, da das Zielpublikum die entsprechenden Bilder aus einem längst abgespeicherten Vorrat selbst erzeugt. Kurz vor der jüngsten Beinahe-Sintflut sind zwei deutsche Autoren der älteren Generation mit Büchern hervorgetreten, die diesem Prinzip folgen – unter ganz verschiedenen Voraussetzungen, doch nicht ohne Parallelen. Hanns-Josef Ortheil, unermüdlich produktiv, Italienkenner und Venedigliebhaber, ließ schon vor zwanzig Jahren einen fiktiven venezianischen Künstler des 18. Jahrhunderts „Im Licht der Lagune“ malen, lieben und leiden. Diesmal versetzt er sich nur um ein paar Jahrzehnte zurück, sein Held, „Der von den Löwen träumte“, ist der berühmte Kollege Ernest Hemingway. Er kam im September 1948 mit seiner vierten Frau Mary aus Kuba nach Europa und hielt sich, nachdem aus der geplanten Südfrankreichtour wegen eines Schiffsdefekts eine Italienreise geworden war, unter anderem in Venedig auf, wo er an einer Schreib- und Lebenskrise laborierte und seiner letzten Muse begegnete – oder, wie es der alternde Womanizer selbst sah, seiner „letzten und wahren Liebe“.
Interessanterweise folgt Ortheils Roman dicht auf ein italienisches Buch, das sich dieser Episode widmet. Der Journalist Andrea di Robilant veröffentlichte 2018 unter dem Titel „Autunno a Venezia“ (Herbst in Venedig) das Resultat seiner Recherchen zur Romanze zwischen dem damals fünfzigjährigen, von diversen Ausschweifungen schon gezeichneten „Papa“ und der 32 Jahre jüngeren, bildschönen, etwas naiven Venezianerin Adriana Ivancich, die er gern „Tochter“ nannte. Die Beziehung dauerte insgesamt zwölf Jahre und fand ihren direkten Niederschlag in einem der schwächsten Romane Hemingways, „Über den Fluss und in die Wälder“.
Sie erzeugte jedoch auch den kreativen Schub, den er benötigte, um nach zehnjähriger Publikationspause seinen abgewirtschafteten Ruf zu restaurieren: Bei der Arbeit am Weltbestseller „Der alte Mann und das Meer“ war seine obsessive Zuneigung zu Adriana, die er inzwischen nach Kuba eingeladen hatte, die treibende Kraft. Di Robilant, Großneffe eines Trinkkumpans von Hemingway, verdankt dieser familiären Quelle sowie dem Zugriff auf Mary Hemingways Notizen eine Fülle verbürgter Details, die er zu einem erzählenden Sachbuch verarbeitet hat.
Der Romancier Hanns-Josef Ortheil hingegen wollte zugleich weniger und mehr. Weniger, was Fakten und Hintergründe betrifft, und mehr, was Hemingways gemutmaßtes Innenleben und seine Venedig-Erfahrung angeht. Denn die Wege des späteren Nobelpreisträgers zwischen dem Grandhotel Gritti, Harry’s Bar und der Locanda Cipriani auf Torcello, wo er sich ein Schreib-Idyll einrichtete, die Jagdausflüge, Trink- und Essgelage mit seiner feiersüchtigen Entourage geben für einen Romanplot wenig her. Bei Ortheil gerät allerdings auch das Liebes- und Eifersuchtsdrama viel blasser, als es in Wirklichkeit war, angefangen bei den Umständen der ersten Begegnung. Dafür taucht er tief und spekulativ in die Midlife-Crisis des Helden ein und macht aus dem notorisch zwischen Größenwahn und Depression schwankenden, unheilbar egomanischen und stets zu Eskapaden aufgelegten Ernest einen ernsthaften, nach Stille und Rückzug sich sehnenden, über Liebe und Tod grübelnden Altmeister Hemingway.
Ihn lässt Ortheil – so kühn wie kurios ausgedacht – Anschluss bei der Familie eines Lokalreporters aus Burano finden, dessen Sohn das Fischerhandwerk betreibt. Dieser sechzehnjährige Paolo wird Hemingways Bootschauffeur und Cicerone in Venedig und in der Lagune, mit ihm redet er über Gott und die Welt, und ihm verdankt er, so wird suggeriert, die Inspiration zur Geschichte vom alten Mann und dem Meer. Das liest sich zwar rührend, wird aber hoffentlich von den Lesern nicht für bare Münze genommen, Roman ist eben Roman. Oder auch nicht, denn Peter Schneiders Buch über „Vivaldi und seine Töchter“, laut Untertitel der „Roman eines Lebens“, verfährt ganz anders. Dass der Autor, der in den letzten Jahren Schritt für Schritt aus der Rolle des politischen Schriftstellers und Achtundsechziger-Chronisten herausgetreten ist und sein Themenspektrum erweitert hat, nun einen venezianischen Barockkomponisten in den Blick nimmt, mag viele überraschen, ebenso wie seine intensive musikalische Sozialisation, von der hier auch berichtet wird.
Die Anregung, sich mit Antonio Vivaldis Vita schreibend zu befassen, verdankt Schneider dem 2017 verstorbenen Kameramann Michael Ballhaus, der darüber, wie wir erfahren, gern noch einen Film in Venedig gedreht hätte, nach einem Skript von Schneider. Diese Konstellation ergab ein Buch, das zugleich Forschungsbericht, Essay und szenische Erzählung ist, für ein Laienpublikum leicht und anschaulich geschrieben und doch von bemerkenswertem Gehalt.
Der Titel bezieht sich auf die Zeit, in der Vivaldi, zum Priester geweiht, aber das Amt nicht mehr ausübend, Chor und Orchester des Mädchenwaisenhauses Ospedale della Pietà betreute, erst als Violinlehrer, dann als Konzertmeister, und dem Ensemble, das er aus den begabtesten seiner Schülerinnen formte, zu legendärem Ruf verhalf. Gleichzeitig arbeitete er an seinem eigenen Ruhm, indem er nicht nur Concerti in enormer Anzahl und Vielfalt für das Orchester komponierte, sondern auch sein kaum minder reiches Opernschaffen einleitete und als Impresario wirkte.
Peter Schneider folgt Vivaldi auf seinen Karrierewegen innerhalb Venedigs, nach Mantua, Rom und Triest, bei seiner musikalische Arbeit mit den „figlie“, seinen Begegnungen mit adligen Auftraggebern und Librettisten, seinen Verstrickungen in Rivalitäten und Intrigen, bis zur Flucht nach Wien. Er rekonstruiert Fragmente einer Musiker-Biografie. Die verwendeten Quellen hat er genau dokumentiert, eigene Erfindungen (wie ein Treffen mit Rousseau) als solche enthüllt, Seelen-Gründeleien vermieden und auch sonst seine Imagination weitgehend gezügelt. So entsteht ein lebendiges, doch immer wieder reflektierend zurückgenommenes Bild vom venezianischen Musikleben des 18. Jahrhunderts und seinem populärsten Protagonisten, ergänzt um erhellende Auskünfte zu den „Vier Jahreszeiten“, zum lombardischen Rhythmus oder zur Wiederentdeckung der lange verschollenen Vivaldi-Partituren im zwanzigsten Jahrhundert.
Angenehm ist Schneiders Zurückhaltung im Hinblick auf Vivaldis privates Verhältnis zu seinen „Töchtern“, insbesondere zu der Sängerin Anna Girò, mit der ihn – vielleicht, vielleicht auch nicht– mehr als eine enge künstlerische und geschäftliche Beziehung verband. In einem Regiekapitel werden, sehr kurzweilig, entsprechende Erotik-Erwartungen von Filmproduktionsfirmen diskutiert. Und damit wieder zu Hemingway: Auch bei ihm rätselt man bis heute, wie platonisch seine venezianische Affäre war. Sogar der Altersunterschied stimmt exakt überein, nur hatte „Papa“, anders als der „rote Priester“, wie man Vivaldi wegen seiner Haarfarbe nannte, kein Keuschheitsgelübde abgelegt. Anna, Adriana und ihre Pseudo-Väter, dazu die Kulisse Venedigs: Hollywood sollte auf beide Geschichten zugreifen, solange der Schauplatz noch über dem Meeresspiegel liegt.
Hanns Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019. 350 Seiten, 22 Euro.
Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 20 Euro.
Ortheils Hemingway ist ein
Altmeister, der über den Tod
grübelt und sich nach Stille sehnt
Vivaldis „Töchter“ singen im Chor
des Mädchenwaisenhauses
Ospedale della Pietà
Ein Großwildjäger nimmt Enten ins Visier: Ernest Hemingway auf der Insel Torcello in der nördlichen Lagune während seines Venedig-Aufenthaltes im Herbst 1948.
Foto: Archivio Cameraphoto Epoche / Hulton Archive
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stimmenzauber
Antonio Vivaldi und Ernest Hemingway in Venedig in
Romanen von Peter Schneider und Hanns-Josef Ortheil
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Bis zu dem Tag, an dem bei Hochwasser nur noch die Spitze des Campanile von San Marco aus der Lagune ragt, wird Venedig als literarischer Schauplatz taugen. Romantiker mögen das der Einzigartigkeit dieses Stadtgebildes zuschreiben, Zyniker sprechen inzwischen von einer erfolgreich etablierten Marke. Venedig-Fiktionen, die in der Gegenwart spielen (zur Zeit ohnehin nur Kriminalromane) kommen allerdings an den prekären Seiten der globalisierten Serenissima nicht mehr vorbei. Entspannter stellt sich die Lage für Schriftsteller dar, die eine vergangene Version der Stadt auferstehen lassen und sie um historische Figuren herumbauen. Sie können den Topos „Venedig“ benutzen wie eine Theaterbühne, die nicht einmal aufwendig rekonstruiert werden muss, da das Zielpublikum die entsprechenden Bilder aus einem längst abgespeicherten Vorrat selbst erzeugt. Kurz vor der jüngsten Beinahe-Sintflut sind zwei deutsche Autoren der älteren Generation mit Büchern hervorgetreten, die diesem Prinzip folgen – unter ganz verschiedenen Voraussetzungen, doch nicht ohne Parallelen. Hanns-Josef Ortheil, unermüdlich produktiv, Italienkenner und Venedigliebhaber, ließ schon vor zwanzig Jahren einen fiktiven venezianischen Künstler des 18. Jahrhunderts „Im Licht der Lagune“ malen, lieben und leiden. Diesmal versetzt er sich nur um ein paar Jahrzehnte zurück, sein Held, „Der von den Löwen träumte“, ist der berühmte Kollege Ernest Hemingway. Er kam im September 1948 mit seiner vierten Frau Mary aus Kuba nach Europa und hielt sich, nachdem aus der geplanten Südfrankreichtour wegen eines Schiffsdefekts eine Italienreise geworden war, unter anderem in Venedig auf, wo er an einer Schreib- und Lebenskrise laborierte und seiner letzten Muse begegnete – oder, wie es der alternde Womanizer selbst sah, seiner „letzten und wahren Liebe“.
Interessanterweise folgt Ortheils Roman dicht auf ein italienisches Buch, das sich dieser Episode widmet. Der Journalist Andrea di Robilant veröffentlichte 2018 unter dem Titel „Autunno a Venezia“ (Herbst in Venedig) das Resultat seiner Recherchen zur Romanze zwischen dem damals fünfzigjährigen, von diversen Ausschweifungen schon gezeichneten „Papa“ und der 32 Jahre jüngeren, bildschönen, etwas naiven Venezianerin Adriana Ivancich, die er gern „Tochter“ nannte. Die Beziehung dauerte insgesamt zwölf Jahre und fand ihren direkten Niederschlag in einem der schwächsten Romane Hemingways, „Über den Fluss und in die Wälder“.
Sie erzeugte jedoch auch den kreativen Schub, den er benötigte, um nach zehnjähriger Publikationspause seinen abgewirtschafteten Ruf zu restaurieren: Bei der Arbeit am Weltbestseller „Der alte Mann und das Meer“ war seine obsessive Zuneigung zu Adriana, die er inzwischen nach Kuba eingeladen hatte, die treibende Kraft. Di Robilant, Großneffe eines Trinkkumpans von Hemingway, verdankt dieser familiären Quelle sowie dem Zugriff auf Mary Hemingways Notizen eine Fülle verbürgter Details, die er zu einem erzählenden Sachbuch verarbeitet hat.
Der Romancier Hanns-Josef Ortheil hingegen wollte zugleich weniger und mehr. Weniger, was Fakten und Hintergründe betrifft, und mehr, was Hemingways gemutmaßtes Innenleben und seine Venedig-Erfahrung angeht. Denn die Wege des späteren Nobelpreisträgers zwischen dem Grandhotel Gritti, Harry’s Bar und der Locanda Cipriani auf Torcello, wo er sich ein Schreib-Idyll einrichtete, die Jagdausflüge, Trink- und Essgelage mit seiner feiersüchtigen Entourage geben für einen Romanplot wenig her. Bei Ortheil gerät allerdings auch das Liebes- und Eifersuchtsdrama viel blasser, als es in Wirklichkeit war, angefangen bei den Umständen der ersten Begegnung. Dafür taucht er tief und spekulativ in die Midlife-Crisis des Helden ein und macht aus dem notorisch zwischen Größenwahn und Depression schwankenden, unheilbar egomanischen und stets zu Eskapaden aufgelegten Ernest einen ernsthaften, nach Stille und Rückzug sich sehnenden, über Liebe und Tod grübelnden Altmeister Hemingway.
Ihn lässt Ortheil – so kühn wie kurios ausgedacht – Anschluss bei der Familie eines Lokalreporters aus Burano finden, dessen Sohn das Fischerhandwerk betreibt. Dieser sechzehnjährige Paolo wird Hemingways Bootschauffeur und Cicerone in Venedig und in der Lagune, mit ihm redet er über Gott und die Welt, und ihm verdankt er, so wird suggeriert, die Inspiration zur Geschichte vom alten Mann und dem Meer. Das liest sich zwar rührend, wird aber hoffentlich von den Lesern nicht für bare Münze genommen, Roman ist eben Roman. Oder auch nicht, denn Peter Schneiders Buch über „Vivaldi und seine Töchter“, laut Untertitel der „Roman eines Lebens“, verfährt ganz anders. Dass der Autor, der in den letzten Jahren Schritt für Schritt aus der Rolle des politischen Schriftstellers und Achtundsechziger-Chronisten herausgetreten ist und sein Themenspektrum erweitert hat, nun einen venezianischen Barockkomponisten in den Blick nimmt, mag viele überraschen, ebenso wie seine intensive musikalische Sozialisation, von der hier auch berichtet wird.
Die Anregung, sich mit Antonio Vivaldis Vita schreibend zu befassen, verdankt Schneider dem 2017 verstorbenen Kameramann Michael Ballhaus, der darüber, wie wir erfahren, gern noch einen Film in Venedig gedreht hätte, nach einem Skript von Schneider. Diese Konstellation ergab ein Buch, das zugleich Forschungsbericht, Essay und szenische Erzählung ist, für ein Laienpublikum leicht und anschaulich geschrieben und doch von bemerkenswertem Gehalt.
Der Titel bezieht sich auf die Zeit, in der Vivaldi, zum Priester geweiht, aber das Amt nicht mehr ausübend, Chor und Orchester des Mädchenwaisenhauses Ospedale della Pietà betreute, erst als Violinlehrer, dann als Konzertmeister, und dem Ensemble, das er aus den begabtesten seiner Schülerinnen formte, zu legendärem Ruf verhalf. Gleichzeitig arbeitete er an seinem eigenen Ruhm, indem er nicht nur Concerti in enormer Anzahl und Vielfalt für das Orchester komponierte, sondern auch sein kaum minder reiches Opernschaffen einleitete und als Impresario wirkte.
Peter Schneider folgt Vivaldi auf seinen Karrierewegen innerhalb Venedigs, nach Mantua, Rom und Triest, bei seiner musikalische Arbeit mit den „figlie“, seinen Begegnungen mit adligen Auftraggebern und Librettisten, seinen Verstrickungen in Rivalitäten und Intrigen, bis zur Flucht nach Wien. Er rekonstruiert Fragmente einer Musiker-Biografie. Die verwendeten Quellen hat er genau dokumentiert, eigene Erfindungen (wie ein Treffen mit Rousseau) als solche enthüllt, Seelen-Gründeleien vermieden und auch sonst seine Imagination weitgehend gezügelt. So entsteht ein lebendiges, doch immer wieder reflektierend zurückgenommenes Bild vom venezianischen Musikleben des 18. Jahrhunderts und seinem populärsten Protagonisten, ergänzt um erhellende Auskünfte zu den „Vier Jahreszeiten“, zum lombardischen Rhythmus oder zur Wiederentdeckung der lange verschollenen Vivaldi-Partituren im zwanzigsten Jahrhundert.
Angenehm ist Schneiders Zurückhaltung im Hinblick auf Vivaldis privates Verhältnis zu seinen „Töchtern“, insbesondere zu der Sängerin Anna Girò, mit der ihn – vielleicht, vielleicht auch nicht– mehr als eine enge künstlerische und geschäftliche Beziehung verband. In einem Regiekapitel werden, sehr kurzweilig, entsprechende Erotik-Erwartungen von Filmproduktionsfirmen diskutiert. Und damit wieder zu Hemingway: Auch bei ihm rätselt man bis heute, wie platonisch seine venezianische Affäre war. Sogar der Altersunterschied stimmt exakt überein, nur hatte „Papa“, anders als der „rote Priester“, wie man Vivaldi wegen seiner Haarfarbe nannte, kein Keuschheitsgelübde abgelegt. Anna, Adriana und ihre Pseudo-Väter, dazu die Kulisse Venedigs: Hollywood sollte auf beide Geschichten zugreifen, solange der Schauplatz noch über dem Meeresspiegel liegt.
Hanns Josef Ortheil: Der von den Löwen träumte. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019. 350 Seiten, 22 Euro.
Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter. Roman eines Lebens. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 288 Seiten, 20 Euro.
Ortheils Hemingway ist ein
Altmeister, der über den Tod
grübelt und sich nach Stille sehnt
Vivaldis „Töchter“ singen im Chor
des Mädchenwaisenhauses
Ospedale della Pietà
Ein Großwildjäger nimmt Enten ins Visier: Ernest Hemingway auf der Insel Torcello in der nördlichen Lagune während seines Venedig-Aufenthaltes im Herbst 1948.
Foto: Archivio Cameraphoto Epoche / Hulton Archive
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Nach diesem Roman ist der venezianische Komponist ein guter, 300 Jahre alter Bekannter.« Peter Pisa Kurier 20201214