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Gibt ein Autor einem Jahrhundert den Namen, muss man ihn zweifellos vor Vereinfachungen retten: Volker Reinhardt versucht, Voltaire in seiner Zeit gerecht zu werden.
Wenn der Name Voltaire bis heute gleichbedeutend ist mit dem Kampf für Vernunft und Meinungsfreiheit, für religiöse Toleranz und gegen Fanatismus, dann, weil er zu Lebzeiten mit seinen europaweiten Kontakten in der Lage war, wirkungsvolle Kampagnen loszutreten. Kaum eine Geschichte des modernen Intellektuellen, die nicht mit der Affäre um Jean Calas einsetzen würde, den auf grausame Weise hingerichteten Protestanten, dessen Witwe und Kinder Voltaire nach einem jahrelangen Tauziehen schließlich aus den Klauen der Justiz befreien konnte.
Doch auch Voltaires Nachleben hatte seine Konjunkturen. Während ihn die Französische Revolution als einen ihrer großen Ideengeber ins Pantheon aufnahm, hasste man ihn im neunzehnten Jahrhundert aus genau diesem Grund. Die Kirche beschwor sein Gespenst, indem sie Gegenschriften, die es schon zu Lebzeiten hagelte, jahrzehntelang in hoher Auflage nachdrucken ließ. Noch Flauberts Madame Bovary bekommt im Auftrag ihres Beichtvaters "Die Irrtümer Voltaires" des Ex-Jesuiten Claude-Adrien Nonnotte zugeschickt. Ihren Frieden mit dem Autor macht erst wieder die Dritte Republik, der seine Angriffe gegen die Macht der Amtskirche in ihr laizistisches Programm passten.
Was könnte es also heißen, wenn der Historiker Volker Reinhardt in seiner nun vorliegenden umfangreichen Lebensdarstellung Voltaire "für die Gegenwart zurückgewinnen" will? Reinhardt ist zum Glück nicht an einer Neudeutung des Genres "Was hat Voltaire uns heute noch zu sagen" interessiert. Er will vielmehr den "historischen Voltaire, das heißt Voltaire in seiner Zeit und in den Auseinandersetzungen mit seiner Zeit hinter allen plakativen Vereinnahmungen und Entstellungen vor Augen führen".
Zunächst bedeutet dies, auf eine Lebensspanne auszugreifen, die man in Frankreich nicht ganz zu Unrecht als "Siècle de Voltaire" kennt: Geboren 1694, erreichte Voltaire bis zu seinem Tod 1778 ein für seine Zeit ungewöhnliches Alter. Seine Karriere begann er als gefeierter Theaterautor während der Régence, des Jahrzehnts nach dem Tod Ludwigs XIV. Mit den 1734 veröffentlichten "Philosophischen Briefen" lenkte er die Blicke Europas auf ein modernes England, das er als Vorbild an Freiheit und Toleranz feiert. Als in den 1750er-Jahren die um eine Generation jüngeren Diderot oder Rousseau das Encyclopédie-Projekt in Angriff nahmen und ihre ersten schriftstellerischen Erfolge verbuchten, war er bereits eine Art intellektueller Elder Statesman. Gleichzeitig setzt in dieser Zeit erst jene Lebensphase ein, mit der er schließlich seinen Nachruhm sicherte. 1759 erschien der Kurzroman "Candide", sein bis heute meistgelesenes Werk. Es markiert den Beginn seines Kampfes gegen die "Infame", ein Wort, das er nicht nur auf die Kirche gemünzt hat, sondern auf alle Arten von Aberglauben und Machtmissbrauch.
Auch wenn er nach zwei Aufenthalten in der Bastille zeitlebens von weiteren Verhaftungen bedroht war, konnte Voltaire sich diesen Kampf zumindest auf materieller Ebene leisten. Schon längst musste er nicht mehr von den Tantiemen seiner Theateraufführungen leben oder um adlige Patronage werben. Raffiniert hatte er die Lose einer schlecht konstruierten staatlichen Lotterie aufgekauft, deren Ausschüttungen den Grundstock seines Vermögens bildeten, und es mit noch mehr Geschick durch Investition in den Überseehandel und durch Kredite an klamme Fürstenhäuser vermehrt. Wie er neben der peniblen Überwachung seiner wirtschaftlichen Aktivitäten ein schier unüberschaubares Werk verfasst hat, bleibt ein Rätsel. Die Datenbank der Voltaire Foundation in Oxford zählt insgesamt fünfzehn Millionen Wörter, mehr als 21 000 Briefe sind bekannt, und in diesem Frühjahr soll die seit 1968 erarbeitete, auf 205 Bände angelegte Ausgabe seiner gesammelten Schriften abgeschlossen werden.
Volker Reinhardt nähert sich Voltaires Leben strikt chronologisch. Das ergibt für die frühen Jahre eine flüssige Darstellung, führt jedoch mit der zunehmenden Vervielfältigung von Voltaires Aktivitäten dazu, dass für einzelne Jahre oder Abschnitte die unterschiedlichsten Themen aufgezählt werden müssen, zwischen denen sich nur noch schwer Verbindungen herstellen lassen. Der große Spötter und Pamphletist schrieb eben auch Geschichtswerke und gehört mit dem "Zeitalter Ludwigs XIV.", wie Reinhardt hervorhebt, zu den epochemachenden Autoren seiner Zunft. Vor allem aber ruft Reinhardt ins Gedächtnis, dass sich Voltaire bis kurz vor seinem Tod als Theaterautor verstand, der über fünfzig Stücke verfasste, von denen einige Bühnenerfolge ,andere allenfalls in privaten Zirkeln vorgelesen wurden. Gut zwei Dutzend davon werden von Reinhardt mit mehr oder minder ausführlichen Inhaltsangaben gewürdigt. Auf diese Weise werden nicht nur die großen Bühnenerfolge "Oedipe" und "Zaïre" vorgestellt, sondern nach und nach betritt ein ganzes Völkchen der Artémire und Mariamne, Brutus und César, Mérope, Semiramis, Ériphyle, Alzire, Zulime und Mahomet, Tancrède oder Don Pèdre die Szene.
In der Darstellung hat dies den gravierenden Nachteil, dass Reinhardt sich nicht punktuell auf einzelne Aspekte konzentriert, sondern gröbere Schneisen schlägt. Gerade bei Kernthemen von Voltaires Leben und Werk behilft er sich nicht selten mit Schlagworten. Zu Voltaires eigenen religiösen Überzeugungen fällt ihm wenig mehr ein, als das angebliche Urteil eines von Voltaires jesuitischen Lehrern aufzugreifen, er würde einmal zu einem "Herold des Deismus". Allerdings waren religionskritische Haltungen seit dem späten siebzehnten Jahrhundert in Adelskreisen weit verbreitet und Voltaires Credo, die Dogmen der Religion gehörten einer vernünftigen Prüfung unterzogen, wenig originell.
Bei Reinhardt steht ihm eine Phalanx bornierter und bösartiger Gegner gegenüber, die sich zusammensetzt aus Jesuiten, Jansenisten und der "Monopolkirche". Das von den Jesuiten herausgegebene "Journal de Trévoux" wird pauschal so charakterisiert, dass Texte, die dort "als bedenklich oder schlimmer eingestuft wurden, regelmäßig den öffentlichen Bannstrahl auf sich zogen und daraufhin vom Henker verbrannt wurden". Konkret dürfte damit das Beispiel des Abbé de Prades gemeint sein, für den Voltaire sich einsetzte und der zeitgleich mit ihm den Schutz des Preußenkönigs genoss; an ihm hätten sich sehr anschaulich die Zensurmechanismen und die Kämpfe um die "Enzyklopädie" illustrieren lassen. Voltaire mag zwar allergisch auf Konkurrenz reagiert haben, aber er war letztlich kein Einzelkämpfer. Und nicht zuletzt war ein Grund für seine immense Wirkung die bröckelnde Front der Gegner. Um es mit dem Voltaire-Kenner René Pomeau zu formulieren: Voltaire reüssierte nicht als Kämpfer gegen seine Zeit, sondern gerade weil er sich mit seinem Zeitalter im Einklang befand.
Schließlich setzte der Erfolg Voltaires ein, als er längst von radikaleren Tendenzen überholt wurde. Doch der materialistischen Gegenseite ergeht es in Reinhardts Biographie nicht viel besser. So dem Philosophen Julien Offray de La Mettrie, über den es wenig mehr zu lesen gibt, als dass er von Friedrich dem Großen als "Faktotum zur Abschreckung zartbesaiteter Gemüter" nach Sanssouci geholt worden sei. Was Reinhardt nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass La Mettrie Voltaire schon früh vor dem König warnte und mit Informationen versorgte, die ihm Einblicke in den Intrigenmechanismus am preußischen Hof verschafften. Dass Voltaire La Mettries Materialismus zutiefst suspekt war, hätte Gelegenheit geboten, seine moralischen und religiösen Überzeugungen schärfer zu konturieren. So aber ist Voltaire weniger "in seiner Zeit" als vielmehr in einem holzschnittartigen Panorama verortet. SONJA ASAL
Volker Reinhardt: "Voltaire". Die Abenteuer der Freiheit.
Verlag C. H. Beck, München 2022. 607 S., Abb., geb., 32,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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