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Nachlesen in Opferberichten und Prozessakten: Laura Wolters soziologische Studie zu Gewalt gegen Frauen
Wer seinem Buch eine ausdrückliche Inhaltswarnung vorausschickt, muss dafür Gründe haben. Laura Wolters' soziologische Studie hat sie. Ihre "Soziologie der Gruppenvergewaltigung" ist keine angenehme Lektüre. Der Gegenstand verlangt dem Leser ab, sich auf vielen Seiten mit expliziten Beschreibungen von Gewaltanwendungen gegen Frauen auseinanderzusetzen. Erst in der Sprache der Täter, die in ihrer triumphierenden Brutalität eher ein Geheul ist, und dann in der Sprache der Soziologin, distanziert, sachlich, kalt.
Wolters weiß, dass ihr Buch eine besondere Begründung braucht. Wollte man das primäre Erkenntnisinteresse dieser Studie auf eine möglichst kurze Formel bringen, dann lautet sie nicht: Warum finden Gruppenvergewaltigungen statt, oder wie sind sie zu verhindern? Wolters interessiert vielmehr, wie sie stattfinden, was dabei eigentlich passiert. Etwa in der Kölner Silvesternacht 2015, auf die sie immer wieder zurückkommt. Aber das Buch ist kein Beitrag zur Kriminologie. Ratschläge zur Prävention von Gewalt werden nicht gegeben.
Das Material von Wolters sind Erfahrungsberichte von Opfern, gerichtliche Zeugenaussagen und Prozessakten. Auch literarische Verarbeitungen von Gruppenvergewaltigungen finden sich darunter. Wolters taucht in diese Berichte ein, untersucht die Worte, deutet "Gewalthandeln als soziales Geschehen". Ihr interaktionistischer Zugang zur Gewalt stellt die Frage, "wie die Beteiligten in der Gewaltsituation - Täter und Opfer - ihr Tun im Vollzug deuten". In Wolters' Sprache liest sich das etwa so: Hier soll deutlich werden, "dass Opfer gemeinschaftlicher Übergriffe nicht notwendigerweise als schlichte Requisiten oder austauschbare Statistinnen behandelt werden, sondern auch über sehr spezifische Sexualisierungen in ihrer Agency und ihrem Subjektstatus - explizit und gewaltsam - durch die Täter adressiert werden können". Wolters interessiert an Gruppenvergewaltigungen, "wie sich die praktische Koordination, das Miteinander sowie (Be-)Deutungen und Sinnzuschreibungen in der Gruppensituation entfalten - auch zwischen Tätern und Opfer".
Das mag sich für manche Ohren empörend ausnehmen, weil hier eine Symmetrie anklingt. Wer wie Wolters Gewalt als soziales Handeln beschreiben will, der muss aber Sinndeutungen auf beiden Seiten unterstellen. Das Opfer der Vergewaltigung redet in dieser Deutung des Geschehens also mit, deutet mit, denkt mit. Das klingt dann bei Wolters so: "Trotz der erheblichen Asymmetrie der Interaktion verwickelt der Täter sein Opfer in eine (auch) verbale Verhandlung darum, ob das Opfer sich fügt und an dem Übergriff mitwirkt." In einer Darstellung, die diese "Mitwirkung" des Opfers nicht erkennt, sei also die Gewalt als "totale Handlungsasymmetrie" zwischen Tätern und Opfern "nur verkürzt beschrieben".
Würde soziologische Handlungsanalyse verkürzen, wäre sie überflüssig. Sie muss unterstellen, dass da immer mehr geschieht, als den Handelnden selbst gerade bewusst ist. Damit stellt sie eine fundamentale Kontinuität her zwischen allen Arten von Handlungen. Also hier auch zwischen dem konsensuellen Geschlechtsverkehr eines Liebespaares und der Vergewaltigung einer Frau durch mehrere Männer. Wenn Wolters etwa herausfindet, dass die Vergewaltiger auch alltägliche Dinge tun während ihrer Tat, dann sei das dennoch "keine Relativierung der Brutalität, sondern ein Argument dagegen, dass Gewalt grundsätzlich anders funktioniert als andere Interaktionen".
Wenn man sich bis zu dieser Einsicht durch das Buch gekämpft hat, bleibt für Wolters ein "Gefühl des Unbehagens". Haben die Frauen in der Kölner Silvesternacht bei ihrer Misshandlung tatsächlich mitgewirkt? Darin liegt eine schwer erträgliche Zumutung. Die lesende Teilnahme an der geschilderten Gewalt hat auch etwas Voyeuristisches. Gegen dieses Gefühl fordert Wolters eine Einsicht, die man ihrem Buch verdanken soll: dass der hier erbrachte Nachweis der "Normalität kollektiver sexueller Gewalt" überleiten soll zur Erkenntnis der "Gewalt der Normalität". Das ist eine wichtige Einsicht, die man hier aber nicht geschenkt bekommt. "Schreiben heißt leiden", bemerkt Wolters zum Abschluss ihrer Arbeit. Das gilt fürs Lesen manchmal auch. GERALD WAGNER
Laura Wolters: "Vom Antun und Erleiden". Eine Soziologie der Gruppenvergewaltigung.
Hamburger Edition, HIS Verlag, Hamburg 2022. 312 S., geb., 35,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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