»Was tut ein Roman, was in kürzerer Form die Erzählung? Mit einem Haifischbiß reißen sie ein Stück aus der Zeit, schnappen sich ein Stück der Schöpfung und bearbeiten es nach Gutdünken.« Gleich in zwei Etappen stellt sich Sibylle Lewitscharoff ans Rednerpult, um sich Gedanken über Literatur zu machen: In den berühmten Frankfurter Poetikvorlesungen sowie den Zürcher Poetikvorlesungen 2011 befaßt sie sich mit großer Weltliteratur und Schlüsselromanen zweifelhaften Charakters, seziert Figurennamen - »Josef K.: auch ein verflucht guter Name!« - und Romananfänge, wettert gegen den schnöden Realismus und wirbt für den Auftritt von Engeln und sprechenden Tieren in der Fiktion. Gleichzeitig erlaubt der Blick auf das fremde Werk immer auch Rückschlüsse auf das eigene. Hier wird das Gute, Wahre und Schöne verhandelt - lehrreich, polemisch und hochvergnüglich.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kristina Maidt-Zinke scheint von der Erkenntnisfülle, die ihr dieser Band mit den Frankfurter und den Zürcher Poetikvorlesungen von Sibylle Lewitscharoff bietet, überwältigt. Zweifel am Guten, Schönen, Wahren lässt sie sich bevorzugt von dieser Autorin auseinandersetzen, die des Komischen, der Ironie, der Klarsicht, der Sprache gleichermaßen mächtig ist, bibelfest überdies, wie die Rezensentin feststellt, die über die hier dargelegten Bezüge zwischen Glauben und Literatur durchaus überrascht ist. Wie Lewitscharoff munter assoziierend Exkurse, Anekdoten und Bekenntnisse nicht zu einem eigenen Werkkommentar, auch nicht zu einer systematischen Poetik, aber zum Vergnügen der Rezensentin zusammenbindet, stimmt Maidt-Zinke glücklich. Polemisch, fügt sie hinzu, sind die Einlassungen zu Bibelübersetzungen, zu Johannes Kerner, zum Regietheater etc. auch. Und voller Lob der Tradition, wenn sie Riesen wie Kafka und Beckett umarmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2012Wider die literarische Coolness
Sibylle Lewitscharoff liest jetzt den Affen die Leviten
In seiner Dankesrede zum Zürcher Literaturpreis 1966 hatte Emil Staiger den Romanen und Bühnenstücken der Nachkriegsliteratur mangelnde Gesittung vorgeworfen. "Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft." Die Aufregung war immens, der vormals verehrte Literaturprofessor, der große Meister der immanenten Interpretation, wurde mit Schimpf und Schande überhäuft und zog sich verbittert zurück. Seitdem hat sich kein prominenter Akteur des Literaturbetriebs dergleichen getraut.
Sibylle Lewitscharoff hat sich in ihrem vergangenen Herbst erschienenen Roman "Blumenberg" nicht gescheut, dem berühmten Philosophen einen leibhaftigen Löwen auf den Teppich seines Arbeitszimmers zu legen, ebenso löwenherzig wettert sie nun in ihren Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen gegen den zeitgenössischen Realismus und dessen Liebäugeln mit dem Vulgären. Bei aller Notwendigkeit genauer Beobachtung gehöre es zu seinen unangenehmen Schlagseiten, "im Dreck, im Verkommenen zu wühlen", möglichst unter der Vorspiegelung, dabei gewesen zu sein. Überhaupt gebe es "zu viele coole Texte über kaputte Typen. Die halbe Leipziger Romanschule übt sich darin, übrigens meist bar jeder eigenen Erfahrung in so extremen Milieus."
In der erzählenden Literatur sieht sie eine Überbewertung der Kreativität, hinter der meist nicht mehr stecke als ein Ringen um Anerkennung "mittels Provokation, Skandalen und Markierungsgesten"; mit eher schwächlichen Resultaten, namentlich der Preisgabe der Formen, "die das Mögliche erkunden". Auch das deutsche Theater sei der "Idiotie des Schockhaften" verfallen. Es zeige eine Gesellschaft "von schreienden Verrückten, die herumbatzen und herumschmieren wie Kleinkinder", eine Gesellschaft, die sich offenbar "als menschlichen Schrott betrachtet". Aber auch die Größen neigten auf ihre älteren Tage zur vulgären Regression, zu "hochnotpeinlichen alterssexelnden Suaden" Martin Walser, zu "ranschmeißerischem Unfug" Günter Grass in der "kindergartenhaften Eingemeindung" Fontanes, zur "Kalauermaschine" Elfriede Jelinek.
Gegen den "Eigenkreativwahn" der Heutigen und das "Affentheater des Zeitgeschmacks" beschwört Sibylle Lewitscharoff wie schon Staiger die leuchtenden Sterne der Tradition, Homer, Ovid, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe und ihren "Lieblingsautor" Kafka. Sie plädiert damit für die Inspiration aus der Tradition: "Gerade das etwas fremd Gewordene aus vergangenen Zeiten hat oft die Kraft, die eigenen Haltungen, das eigene Denken zu bereichern und in unverhoffte Richtungen zu lenken."
Wie Hans Blumenberg begreift die Autorin den Menschen als ein trostbedürftiges Mängelwesen, das nach "Erlösung von Schmutz und Schuld" dürstet, nach Entlastung vom Druck des Realitätsprinzips und nach Orientierung in einer unübersichtlichen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu ihrem Verehrer Denis Scheck scheint Sibylle Lewitscharoff die klassizistische Formel der Einheit des Guten, Wahren und Schönen bei allem Augenzwinkern durchaus ernst zu nehmen. So verpflichtet sie die Literatur unumwunden auf die Vermittlung sittlicher Werte, vor allem auf die "Zähmung unserer mörderischen Energien", zugleich aber auf ästhetisches Vergnügen. Damit wird wie schon bei Emil Staiger unverkennbar das Horazsche prodesse et delectare gegen die zeitgenössische Literatur ausgespielt.
Dass diese Thesen einen neuen Literaturstreit auslösen, ist weder zu befürchten noch gar zu erhoffen. In Zeiten der massenmedialen Verbreitung des Vulgären ruft auch die traditionsbewusste Provokation nur mehr müdes Achselzucken hervor. Für Leser aber, die beim Namen gerufen werden wollen und die gleichermaßen gern mit den Toten und den Lebenden sprechen, für alle, die sich der herrischen Maßgabe des Realismus nicht beugen mögen, sind Sibylle Lewitscharoffs freche Lektüren eine große Freude. Denn sie ist kraft ihres Namens nicht nur eine ernste Levitenleserin, sondern im Schreiben auch ein "Witsch", ein listig unzuverlässiges Wesen, ja sogar gut schwäbisch ein dem Albernen gewogenes "Käsperle".
FRIEDMAR APEL
Sibylle Lewitscharoff: "Vom Guten, Wahren und Schönen". Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 200 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sibylle Lewitscharoff liest jetzt den Affen die Leviten
In seiner Dankesrede zum Zürcher Literaturpreis 1966 hatte Emil Staiger den Romanen und Bühnenstücken der Nachkriegsliteratur mangelnde Gesittung vorgeworfen. "Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft." Die Aufregung war immens, der vormals verehrte Literaturprofessor, der große Meister der immanenten Interpretation, wurde mit Schimpf und Schande überhäuft und zog sich verbittert zurück. Seitdem hat sich kein prominenter Akteur des Literaturbetriebs dergleichen getraut.
Sibylle Lewitscharoff hat sich in ihrem vergangenen Herbst erschienenen Roman "Blumenberg" nicht gescheut, dem berühmten Philosophen einen leibhaftigen Löwen auf den Teppich seines Arbeitszimmers zu legen, ebenso löwenherzig wettert sie nun in ihren Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen gegen den zeitgenössischen Realismus und dessen Liebäugeln mit dem Vulgären. Bei aller Notwendigkeit genauer Beobachtung gehöre es zu seinen unangenehmen Schlagseiten, "im Dreck, im Verkommenen zu wühlen", möglichst unter der Vorspiegelung, dabei gewesen zu sein. Überhaupt gebe es "zu viele coole Texte über kaputte Typen. Die halbe Leipziger Romanschule übt sich darin, übrigens meist bar jeder eigenen Erfahrung in so extremen Milieus."
In der erzählenden Literatur sieht sie eine Überbewertung der Kreativität, hinter der meist nicht mehr stecke als ein Ringen um Anerkennung "mittels Provokation, Skandalen und Markierungsgesten"; mit eher schwächlichen Resultaten, namentlich der Preisgabe der Formen, "die das Mögliche erkunden". Auch das deutsche Theater sei der "Idiotie des Schockhaften" verfallen. Es zeige eine Gesellschaft "von schreienden Verrückten, die herumbatzen und herumschmieren wie Kleinkinder", eine Gesellschaft, die sich offenbar "als menschlichen Schrott betrachtet". Aber auch die Größen neigten auf ihre älteren Tage zur vulgären Regression, zu "hochnotpeinlichen alterssexelnden Suaden" Martin Walser, zu "ranschmeißerischem Unfug" Günter Grass in der "kindergartenhaften Eingemeindung" Fontanes, zur "Kalauermaschine" Elfriede Jelinek.
Gegen den "Eigenkreativwahn" der Heutigen und das "Affentheater des Zeitgeschmacks" beschwört Sibylle Lewitscharoff wie schon Staiger die leuchtenden Sterne der Tradition, Homer, Ovid, Vergil, Dante, Shakespeare, Goethe und ihren "Lieblingsautor" Kafka. Sie plädiert damit für die Inspiration aus der Tradition: "Gerade das etwas fremd Gewordene aus vergangenen Zeiten hat oft die Kraft, die eigenen Haltungen, das eigene Denken zu bereichern und in unverhoffte Richtungen zu lenken."
Wie Hans Blumenberg begreift die Autorin den Menschen als ein trostbedürftiges Mängelwesen, das nach "Erlösung von Schmutz und Schuld" dürstet, nach Entlastung vom Druck des Realitätsprinzips und nach Orientierung in einer unübersichtlichen Wirklichkeit. Im Gegensatz zu ihrem Verehrer Denis Scheck scheint Sibylle Lewitscharoff die klassizistische Formel der Einheit des Guten, Wahren und Schönen bei allem Augenzwinkern durchaus ernst zu nehmen. So verpflichtet sie die Literatur unumwunden auf die Vermittlung sittlicher Werte, vor allem auf die "Zähmung unserer mörderischen Energien", zugleich aber auf ästhetisches Vergnügen. Damit wird wie schon bei Emil Staiger unverkennbar das Horazsche prodesse et delectare gegen die zeitgenössische Literatur ausgespielt.
Dass diese Thesen einen neuen Literaturstreit auslösen, ist weder zu befürchten noch gar zu erhoffen. In Zeiten der massenmedialen Verbreitung des Vulgären ruft auch die traditionsbewusste Provokation nur mehr müdes Achselzucken hervor. Für Leser aber, die beim Namen gerufen werden wollen und die gleichermaßen gern mit den Toten und den Lebenden sprechen, für alle, die sich der herrischen Maßgabe des Realismus nicht beugen mögen, sind Sibylle Lewitscharoffs freche Lektüren eine große Freude. Denn sie ist kraft ihres Namens nicht nur eine ernste Levitenleserin, sondern im Schreiben auch ein "Witsch", ein listig unzuverlässiges Wesen, ja sogar gut schwäbisch ein dem Albernen gewogenes "Käsperle".
FRIEDMAR APEL
Sibylle Lewitscharoff: "Vom Guten, Wahren und Schönen". Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 200 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die gebürtige Stuttgarterin bietet wahrlich Erhellendes - mit viel Humor.«
»Für Leser ... die sich der herrischen Maßgabe des Realismus nicht beugen mögen, sind Sibylle Lewitscharoffs freche Lektüren eine große Freude.« Friedmar Apel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20120609