Die Grunderfahrung des geflüchteten Menschen bedeutet immer den Verlust von Heimat, Sprache und Zugehörigkeit. Georges-Arthur Goldschmidt ist einer der zentralen Autoren der Holocaustliteratur. Er berichtet mit expressiver Kraft von den Erfahrungen eines Kindes, das zum Opfer der Willkürmaßnahmen und der antisemitischen Verfolgung durch die NS-Diktatur geworden ist. Als Sohn einer schon im 19. Jahrhundert zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie war er in Deutschland in größter Gefahr. Deshalb schickten seine Eltern den zehnjährigen Georges-Arthur und seinen älteren Bruder Erich 1938 zuerst nach Italien. Im folgenden Jahr flüchteten sie weiter nach Frankreich. Im Internat in Annecy war Goldschmidt ebenfalls traumatisierender Gewalt ausgesetzt. Schließlich versteckten ihn Bergbauern in Savoyen bis zum Kriegsende und retteten dadurch sein Leben. Goldschmidts Werk ist zutiefst geprägt vom Gefühl existentieller Ortlosigkeit zwischen den Sprachen und zwischen den Ländern. Er hat dem Leid der Verfolgung in seinen Werken einen unvergesslichen Ausdruck verliehen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2020Eins und doppelt
Georges-Arthur Goldschmidts neues Buch "Vom Nachexil"
Das Lebensthema von Georges-Arthur Goldschmidt ist der Heimatverlust. Nicht, dass er keine hätte: Goldschmidt lebt seit 1939 in Frankreich und dort seit 1948 im Pariser Stadtteil Belleville, ist und fühlt sich als Franzose. Doch er besitzt eine Doppelheimat, und aus der, die an der Basis seines Lebens liegt, ist er vertrieben worden. Aus dem 1928 in Reinbek geborenen Protestanten Jürgen Arthur Goldschmidt machten die Nürnberger Rassengesetze 1935 einen Juden, und seine Eltern, selbst schon Kinder getaufter jüdischer Familien, schickten ihn und seinen älteren Bruder 1938 auf ein Internat in Italien, bevor die Geschwister nach Erlass antisemitischer Gesetze auch dort weiter nach Frankreich flohen. Sie blieben während der deutschen Besatzung unentdeckt, die Mutter jedoch starb während des Krieges, und der Vater, nach Theresienstadt deportiert, überlebte die NS-Zeit nur kurz. Es hätte nichts mehr geben sollen, was den zu Georges-Arthur Goldschmidt gewordenen jungen Mann an Deutschland band.
Doch es gab die deutsche Sprache, die Goldschmidt in Paris studierte und später dann lehrte. Sie gab ihm den Schlüssel zum Verständnis dessen, was ihm widerfahren ist, angetan wurde, und der eingangs gebrauchte Begriff der Doppelheimat lehnt sich an eine Überlegung an, die am Anfang von Goldschmidts neuem Buch "Vom Nachexil" steht and als bestimmendes Element der Exilerfahrung Doppelsprachigkeit erkennt: "Doppelsprachigkeit ist vielleicht etwas anderes als Zweisprachigkeit, diese ist ein einfaches Sprache-Können, eine Technizität, jemand, der zweisprachig ist, spricht die eine so gut wie die andere Sprache, vielleicht mit einer gewissen Hintergrundlosigkeit oder besser gesagt mit einem zusätzlichen Hintergrund, den man sich durch das Erlernen der Sprache angeeignet hat. Der Doppelsprachige schleppt aber immer die eine Sprache unter der anderen mit, ob er will oder nicht. Die Zweitsprache hat er nicht gewählt, sie begründete sein Überleben." Daraus resultiert eine innere Spaltung, die sämtliche Bücher Goldschmidts prägt und sein Schreiben zu einem macht, das wie kaum ein weiteres die Ambivalenzen des zwanzigsten Jahrhunderts ausdrücken kann.
Dieses Schreiben beruht auf der meisterhaften Beherrschung beider Sprachen, die einen unverkennbaren Tonfall geschaffen hat. Jedes neue Buch stimmt ihn an, entwickelt ihn aber auch im Kontext des neuen Bewusstseins seiner selbst fort. Spät in "Vom Nachexil" findet sich eine bezeichnende Überlegung bei der Erinnerung an die Reinbeker Kindheit: "Sein Deutsch, das war die Sprache, die jeder sprach und verstand, die unumflort die Mitte traf, die nicht nebenbei redete, sondern alles von sich wegschob, was auch anders hätte gesagt werden können, eine Sprache, die das schon Gesagte zur Absicherung der Rede wiederholt." Indem man Goldschmidt zum Verzicht auf diese Sprache zwang, wurde die zweite nicht nur zum gängigen Verständigungsmittel, sondern auch im Sinne der zitierten Ausführung zur Absicherung gegen den Redeverlust: Wiederholung ist das Grundprinzip des Schriftstellers geworden, szenisch vor allem durch vielfache Heraufbeschwörung von Elementarerfahrungen aus Kindheit und Jugend, nun aber auch "wörtlich". Im neuen Buch wird gleich der erste Absatz nur fünf Seiten später fast wortidentisch wiederholt - das ist kein Versehen des Autors oder Versagen des Lektorats, sondern im Fixieren der Formulierung das Äquivalent zur wiederholten Vergegenwärtigung prägender Szenen dieses gespaltenen Lebens.
Wen Goldschmidts Ringen mit sich und seiner Vergangenheit (und mit der Gegenwart: Während der Niederschrift von "Vom Nachasyl" drückt er am dritten Jahrestag des Attentats auf "Charlie Hebdo" seine Verzweiflung über die Wiederkehr der Pogrome aus) kaltlässt, der verkennt das Brennende dieses Kampfs ums Überleben, das nun schon mehr als achtzig Jahre währt. Erst mit Mitte fünfzig veröffentlichte Goldschmidt sein erstes Buch, das damals Peter Handke fürs deutsche Publikum entdeckte und übersetzte. Es war der Beginn einer Heimkehr, mit der Goldschmidt auch die untergründige Hälfte seiner Doppelsprache wieder zurückgewann. "Vom Nachexil", sein erste Publikation bei Wallstein, ist bereits das fünfte seiner insgesamt fast zwanzig Bücher, das auf Deutsch geschrieben wurde.
ANDREAS PLATTHAUS.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Vom Nachexil".
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
88 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Georges-Arthur Goldschmidts neues Buch "Vom Nachexil"
Das Lebensthema von Georges-Arthur Goldschmidt ist der Heimatverlust. Nicht, dass er keine hätte: Goldschmidt lebt seit 1939 in Frankreich und dort seit 1948 im Pariser Stadtteil Belleville, ist und fühlt sich als Franzose. Doch er besitzt eine Doppelheimat, und aus der, die an der Basis seines Lebens liegt, ist er vertrieben worden. Aus dem 1928 in Reinbek geborenen Protestanten Jürgen Arthur Goldschmidt machten die Nürnberger Rassengesetze 1935 einen Juden, und seine Eltern, selbst schon Kinder getaufter jüdischer Familien, schickten ihn und seinen älteren Bruder 1938 auf ein Internat in Italien, bevor die Geschwister nach Erlass antisemitischer Gesetze auch dort weiter nach Frankreich flohen. Sie blieben während der deutschen Besatzung unentdeckt, die Mutter jedoch starb während des Krieges, und der Vater, nach Theresienstadt deportiert, überlebte die NS-Zeit nur kurz. Es hätte nichts mehr geben sollen, was den zu Georges-Arthur Goldschmidt gewordenen jungen Mann an Deutschland band.
Doch es gab die deutsche Sprache, die Goldschmidt in Paris studierte und später dann lehrte. Sie gab ihm den Schlüssel zum Verständnis dessen, was ihm widerfahren ist, angetan wurde, und der eingangs gebrauchte Begriff der Doppelheimat lehnt sich an eine Überlegung an, die am Anfang von Goldschmidts neuem Buch "Vom Nachexil" steht and als bestimmendes Element der Exilerfahrung Doppelsprachigkeit erkennt: "Doppelsprachigkeit ist vielleicht etwas anderes als Zweisprachigkeit, diese ist ein einfaches Sprache-Können, eine Technizität, jemand, der zweisprachig ist, spricht die eine so gut wie die andere Sprache, vielleicht mit einer gewissen Hintergrundlosigkeit oder besser gesagt mit einem zusätzlichen Hintergrund, den man sich durch das Erlernen der Sprache angeeignet hat. Der Doppelsprachige schleppt aber immer die eine Sprache unter der anderen mit, ob er will oder nicht. Die Zweitsprache hat er nicht gewählt, sie begründete sein Überleben." Daraus resultiert eine innere Spaltung, die sämtliche Bücher Goldschmidts prägt und sein Schreiben zu einem macht, das wie kaum ein weiteres die Ambivalenzen des zwanzigsten Jahrhunderts ausdrücken kann.
Dieses Schreiben beruht auf der meisterhaften Beherrschung beider Sprachen, die einen unverkennbaren Tonfall geschaffen hat. Jedes neue Buch stimmt ihn an, entwickelt ihn aber auch im Kontext des neuen Bewusstseins seiner selbst fort. Spät in "Vom Nachexil" findet sich eine bezeichnende Überlegung bei der Erinnerung an die Reinbeker Kindheit: "Sein Deutsch, das war die Sprache, die jeder sprach und verstand, die unumflort die Mitte traf, die nicht nebenbei redete, sondern alles von sich wegschob, was auch anders hätte gesagt werden können, eine Sprache, die das schon Gesagte zur Absicherung der Rede wiederholt." Indem man Goldschmidt zum Verzicht auf diese Sprache zwang, wurde die zweite nicht nur zum gängigen Verständigungsmittel, sondern auch im Sinne der zitierten Ausführung zur Absicherung gegen den Redeverlust: Wiederholung ist das Grundprinzip des Schriftstellers geworden, szenisch vor allem durch vielfache Heraufbeschwörung von Elementarerfahrungen aus Kindheit und Jugend, nun aber auch "wörtlich". Im neuen Buch wird gleich der erste Absatz nur fünf Seiten später fast wortidentisch wiederholt - das ist kein Versehen des Autors oder Versagen des Lektorats, sondern im Fixieren der Formulierung das Äquivalent zur wiederholten Vergegenwärtigung prägender Szenen dieses gespaltenen Lebens.
Wen Goldschmidts Ringen mit sich und seiner Vergangenheit (und mit der Gegenwart: Während der Niederschrift von "Vom Nachasyl" drückt er am dritten Jahrestag des Attentats auf "Charlie Hebdo" seine Verzweiflung über die Wiederkehr der Pogrome aus) kaltlässt, der verkennt das Brennende dieses Kampfs ums Überleben, das nun schon mehr als achtzig Jahre währt. Erst mit Mitte fünfzig veröffentlichte Goldschmidt sein erstes Buch, das damals Peter Handke fürs deutsche Publikum entdeckte und übersetzte. Es war der Beginn einer Heimkehr, mit der Goldschmidt auch die untergründige Hälfte seiner Doppelsprache wieder zurückgewann. "Vom Nachexil", sein erste Publikation bei Wallstein, ist bereits das fünfte seiner insgesamt fast zwanzig Bücher, das auf Deutsch geschrieben wurde.
ANDREAS PLATTHAUS.
Georges-Arthur Goldschmidt: "Vom Nachexil".
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
88 S., geb., 18,- [Euro].
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