Ulrich Siegs Inventur der historischen Auseinandersetzungen um den Antisemitismus, seiner Vertreter und seiner Gegner offenbart verstörend aktuelle Muster. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah wähnten viele den Antisemitismus endgültig am Ende. Die ebenso menschenverachtende wie irrationale Ideologie hatte ihre Fratze gezeigt und schien immer weniger in eine international vernetzte, auf Kooperation angewiesene Welt zu passen. Doch die Hoffnung auf ein Verschwinden des Antisemitismus hat sich als Illusion erwiesen. Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008 stehen schroffe Feindbilder wieder auf der Tagesordnung. Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis nach einem "Sündenbock" für das Börsen-Desaster. Als hasserfülltes Vorurteil und Projektionsfläche eigener Ängste wirkt das Gift Antisemitismus immer noch. Ulrich Sieg konzentriert sich in seiner Ideengeschichte des modernen Antisemitismus auf den deutschsprachigen Raum. Er erklärt, wie der Judenhass nach 1871 die politische Kultur des Kaiserreichs prägen konnte. Auch an den international bewunderten deutschen Universitäten spielte er eine entscheidende Rolle. Im Unterschied zu den sich dynamisch entfaltenden Naturwissenschaften oder der Medizin fehlte es in den Geisteswissenschaften an "kreativen Nischen" für jüdische Wissenschaftler, die in traditionsreichen Fächern wie Geschichte oder Philosophie diskriminiert und exkludiert wurden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ludger Heil stellt diesen Band als eine Kompilation von Aufsätzen vor, die der Marburger Historiker Ulrich Sieg bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat. Sie alle widmen sich dem Aufkommen des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Deutschland, seiner Begriffsgeschichte und seiner ideengeschichtlichen Einordnung. Einige Fragen sieht der Rezensent in diesem Band unbeantwortet gelassen, die Fokussierung auf den akademischen Antisemitismus lässt ihn aber zu Erkenntnissen über Fanatismus in gelehrtem Gewand kommen, die der Rezensent offenbar zu schätzen weiß. Besonders hervor hebt er dabei Siegs Aufsatz über "judenfeindliche Selbstverständlichkeiten" an der Universität Marburg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.05.2022Judenhass
in gelehrtem Gewand
Ulrich Sieg über den modernen Antisemitismus
Der Judenhass von der Antike bis in die Gegenwart ist ein Begleiter zivilisatorischen Denkens; Hass, der sich als Blutspur durch die Geschichte zieht, als eine zählebige Tradition, als ein „kultureller Code“ oder als „Erlösungsantisemitismus“, kurz: Im Antisemitismus manifestiert sich eine Ideologie, die sich von der Elimination aller Juden die Rettung der Welt verspricht.
Mit der Gründung des Kaiserreichs 1871 – damit beginnt Ulrich Sieg seine Studie zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus – war die Judenemanzipation an ihr vorläufiges Ende gelangt, blieb fortan jedoch ein fragiles politisches Zugeständnis. Die konservativen Eliten neigten grundsätzlich dazu, alle politischen Freiheitsrechte, also auch die Judenemanzipation, als staatliche Konzession mit dem Vorbehalt des Widerrufs zu betrachten. Man billigte dem Judentum allenfalls den Rang einer geduldeten Religion zu.
Das Hardenberg’sche Edikt von 1812 „betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ bedeutete zwar einen entscheidenden Einschnitt, weil es der überkommenen Paria-Existenz der Juden ein Ende setzte. Dennoch blieb ihre soziale Eingliederung mit einer schweren Hypothek belastet, weil sie nicht wie in den fortgeschrittenen Ländern durch erfolgreiche Volkserhebungen von unten erkämpft, sondern von den konservativen Machtträgern aus politischem Kalkül von oben gewährt worden war.
In der Zeitspanne von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik war die Geschichte der Juden in Deutschland einerseits durch fortschreitende Assimilation, andererseits jedoch durch wachsende Widerstände gegen diesen Integrationsprozess gekennzeichnet. Die wirtschaftliche Krise, die sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 im „Gründerkrach“ von 1873 niederschlug, war der Ausgangspunkt einer organisierten antijüdischen Bewegung. Zwar war Judenhass nichts Neues in Deutschland, aber im Unterschied zu früheren Zeiten war der Hass jetzt nicht gegen die Bekenner des jüdischen Glaubens gerichtet, sondern gegen die Angehörigen der „jüdischen Rasse“.
Die „moderne“ Judenfeindschaft in Deutschland bedurfte einer nomenklatorischen Sprachregelung, und diese erhielt sie durch den von Wilhelm Marr 1879 in Umlauf gebrachten Begriff „Antisemitismus“. Doch galt dieses Wort als „ein wenig nebulös“, war um 1880 noch kein weithin „zustimmungsfähiges Fahnenwort“, wie Ulrich Sieg schreibt, spielte aber für das innenpolitische Klima eine wichtige Rolle – und sollte es für lange Zeit bleiben. „Antisemitismus“ war fortan der Sammelbegriff, mit dem sämtliche antijüdischen Motive der vorangegangenen Jahrzehnte gebündelt, etikettiert und zudem alle Vorurteile und Ressentiments „verwissenschaftlicht“ werden konnten.
Und so formierte sich der „moderne“ Antisemitismus seit den 1870er-Jahren im politisch-gesellschaftlichen Raum und fand als integraler Bestandteil Eingang in Parteiprogramme. Hier manifestierte sich eine fortschritts- und demokratiefeindliche Ideologie, die bewusstseinsstiftend auf die nachfolgenden Jahrzehnte wirkte. Als neues, alles überlagerndes Moment antisemitischer Pseudotheorien bildete sich der Begriff der „Rasse“ heraus. Die Agitation mit dieser Volkstumsdoktrin basierte auf einer angeblichen – biologisch begründeten – Höher- beziehungsweise Minderwertigkeit bestimmter Völker und Menschengruppen, in der sozialdarwinistische Lehren vom Sieg des stärkeren Volkes über schwächere mit religiösen Ressentiments gegen die Juden verschmolzen. Die Identifikation der Juden mit ausschließlich negativen, unveränderlichen Rasseeigenschaften, wie sie von Antisemiten vom Schlage eines Paul de Lagarde propagiert wurde, war zugleich eine Absage an die Ideen der Aufklärung und des Liberalismus. Seinen kirchlichen und universitären Segen erhielt der moderne Antisemitismus durch den Hofprediger Adolf Stoecker und den Historiker Heinrich von Treitschke. Kirche und Katheder waren eine unheilige Allianz eingegangen und gaben die Parole aus: „Die Juden sind unser Unglück!“
Ulrich Sieg kompilierte in seinem Buch zehn bereits früher von ihm veröffentlichte disparate Aufsätze und bündelte sie zu einem ideengeschichtlichen Sammelband, der allerdings entscheidende Fragen zum eliminatorischen Antisemitismus unbeantwortet lässt. Siegs Fokus liegt auf einen Antisemitismus, der fanatisch in gelehrtem Gewand daherkam und sich als eine „Macht ideologisierter Wissenschaft“ Bahn brach. Dieser akademische Antisemitismus führte zu einer signifikanten Benachteiligung jüdischer Wissenschaftler.
Ein Aufsatz sticht heraus: Bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte des Neukantianismus kommt Sieg zu einem neuen Forschungsertrag, indem er „judenfeindliche Selbstverständlichkeiten“ an Deutschlands ältester protestantischer Universität, Marburg, aufspürt. An der lebenslangen Freundschaft zwischen dem jüdischen Kantorensohn Hermann Cohen und dem aus einer protestantischen Pastorenfamilie stammenden Paul Natorp, beide dem kritischen Geist Kants verpflichtet, diagnostiziert Sieg eine „menschliche Doppelbödigkeit“. Wie ein überraschender Fund zeigt, tat das ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Cohens Lehrstuhl wurde gleichwohl nach dessen Ruhestand 1912 mit einem mediokren Nachfolger – Erich Rudolf Jaensch – besetzt, der sich später als Antisemit zu erkennen gab.
LUDGER HEID
Der Publizist Paul de Lagarde
und der Prediger Adolf Stoeker
bereiteten den Boden
Ulrich Sieg:
Vom Ressentiment
zum Fanatismus.
Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022.
318 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in gelehrtem Gewand
Ulrich Sieg über den modernen Antisemitismus
Der Judenhass von der Antike bis in die Gegenwart ist ein Begleiter zivilisatorischen Denkens; Hass, der sich als Blutspur durch die Geschichte zieht, als eine zählebige Tradition, als ein „kultureller Code“ oder als „Erlösungsantisemitismus“, kurz: Im Antisemitismus manifestiert sich eine Ideologie, die sich von der Elimination aller Juden die Rettung der Welt verspricht.
Mit der Gründung des Kaiserreichs 1871 – damit beginnt Ulrich Sieg seine Studie zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus – war die Judenemanzipation an ihr vorläufiges Ende gelangt, blieb fortan jedoch ein fragiles politisches Zugeständnis. Die konservativen Eliten neigten grundsätzlich dazu, alle politischen Freiheitsrechte, also auch die Judenemanzipation, als staatliche Konzession mit dem Vorbehalt des Widerrufs zu betrachten. Man billigte dem Judentum allenfalls den Rang einer geduldeten Religion zu.
Das Hardenberg’sche Edikt von 1812 „betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ bedeutete zwar einen entscheidenden Einschnitt, weil es der überkommenen Paria-Existenz der Juden ein Ende setzte. Dennoch blieb ihre soziale Eingliederung mit einer schweren Hypothek belastet, weil sie nicht wie in den fortgeschrittenen Ländern durch erfolgreiche Volkserhebungen von unten erkämpft, sondern von den konservativen Machtträgern aus politischem Kalkül von oben gewährt worden war.
In der Zeitspanne von der Reichsgründung bis zum Ende der Weimarer Republik war die Geschichte der Juden in Deutschland einerseits durch fortschreitende Assimilation, andererseits jedoch durch wachsende Widerstände gegen diesen Integrationsprozess gekennzeichnet. Die wirtschaftliche Krise, die sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 im „Gründerkrach“ von 1873 niederschlug, war der Ausgangspunkt einer organisierten antijüdischen Bewegung. Zwar war Judenhass nichts Neues in Deutschland, aber im Unterschied zu früheren Zeiten war der Hass jetzt nicht gegen die Bekenner des jüdischen Glaubens gerichtet, sondern gegen die Angehörigen der „jüdischen Rasse“.
Die „moderne“ Judenfeindschaft in Deutschland bedurfte einer nomenklatorischen Sprachregelung, und diese erhielt sie durch den von Wilhelm Marr 1879 in Umlauf gebrachten Begriff „Antisemitismus“. Doch galt dieses Wort als „ein wenig nebulös“, war um 1880 noch kein weithin „zustimmungsfähiges Fahnenwort“, wie Ulrich Sieg schreibt, spielte aber für das innenpolitische Klima eine wichtige Rolle – und sollte es für lange Zeit bleiben. „Antisemitismus“ war fortan der Sammelbegriff, mit dem sämtliche antijüdischen Motive der vorangegangenen Jahrzehnte gebündelt, etikettiert und zudem alle Vorurteile und Ressentiments „verwissenschaftlicht“ werden konnten.
Und so formierte sich der „moderne“ Antisemitismus seit den 1870er-Jahren im politisch-gesellschaftlichen Raum und fand als integraler Bestandteil Eingang in Parteiprogramme. Hier manifestierte sich eine fortschritts- und demokratiefeindliche Ideologie, die bewusstseinsstiftend auf die nachfolgenden Jahrzehnte wirkte. Als neues, alles überlagerndes Moment antisemitischer Pseudotheorien bildete sich der Begriff der „Rasse“ heraus. Die Agitation mit dieser Volkstumsdoktrin basierte auf einer angeblichen – biologisch begründeten – Höher- beziehungsweise Minderwertigkeit bestimmter Völker und Menschengruppen, in der sozialdarwinistische Lehren vom Sieg des stärkeren Volkes über schwächere mit religiösen Ressentiments gegen die Juden verschmolzen. Die Identifikation der Juden mit ausschließlich negativen, unveränderlichen Rasseeigenschaften, wie sie von Antisemiten vom Schlage eines Paul de Lagarde propagiert wurde, war zugleich eine Absage an die Ideen der Aufklärung und des Liberalismus. Seinen kirchlichen und universitären Segen erhielt der moderne Antisemitismus durch den Hofprediger Adolf Stoecker und den Historiker Heinrich von Treitschke. Kirche und Katheder waren eine unheilige Allianz eingegangen und gaben die Parole aus: „Die Juden sind unser Unglück!“
Ulrich Sieg kompilierte in seinem Buch zehn bereits früher von ihm veröffentlichte disparate Aufsätze und bündelte sie zu einem ideengeschichtlichen Sammelband, der allerdings entscheidende Fragen zum eliminatorischen Antisemitismus unbeantwortet lässt. Siegs Fokus liegt auf einen Antisemitismus, der fanatisch in gelehrtem Gewand daherkam und sich als eine „Macht ideologisierter Wissenschaft“ Bahn brach. Dieser akademische Antisemitismus führte zu einer signifikanten Benachteiligung jüdischer Wissenschaftler.
Ein Aufsatz sticht heraus: Bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte des Neukantianismus kommt Sieg zu einem neuen Forschungsertrag, indem er „judenfeindliche Selbstverständlichkeiten“ an Deutschlands ältester protestantischer Universität, Marburg, aufspürt. An der lebenslangen Freundschaft zwischen dem jüdischen Kantorensohn Hermann Cohen und dem aus einer protestantischen Pastorenfamilie stammenden Paul Natorp, beide dem kritischen Geist Kants verpflichtet, diagnostiziert Sieg eine „menschliche Doppelbödigkeit“. Wie ein überraschender Fund zeigt, tat das ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Cohens Lehrstuhl wurde gleichwohl nach dessen Ruhestand 1912 mit einem mediokren Nachfolger – Erich Rudolf Jaensch – besetzt, der sich später als Antisemit zu erkennen gab.
LUDGER HEID
Der Publizist Paul de Lagarde
und der Prediger Adolf Stoeker
bereiteten den Boden
Ulrich Sieg:
Vom Ressentiment
zum Fanatismus.
Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022.
318 Seiten, 28 Euro.
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