In den meinungsprägenden Werken zur jüngeren deutschen Geschichte läuft die Entwicklung auf den Nationalstaat zu, mit dem sich die ›verspätete Nation‹ doch noch in den europäischen Normalweg eingeordnet habe. Hier wird die Geschichte anders erzählt: das Alte Reich – kein Hindernis auf einem ›Sonderweg‹ zum Nationalstaat und zur deutschen Staatsnation, sondern historische Wurzel des deutschen Föderalismus. Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Nationalstaat – diese Perspektive öffnet einen Blick, der die deutsche Geschichte nicht auf ein Ziel ausrichtet, das die Gegenwart vorgibt, sondern ihre Offenheit und Umbrüche sichtbar macht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Florian Keisinger erfährt von Dieter Langewiesche, dass die EU noch einen weiten Weg hat bis zur Flexibilität einer "Einheit in staatlicher Vielfalt" und dass dergleichen schon einmal existierte. Langewiesches Blick zurück in die Geschichte scheint ihm insofern wertvoll, weil der Autor die neuzeitliche Ordnung des Föderalismus in seinem Essay noch einmal verdeutlicht, ihre Ursprünge, Voraussetzungen und Geschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2021Am Anfang
war die Föderation
Dieter Langewiesches anderer Blick auf die Nation
Die Präambel des Grundgesetzes forderte die Deutschen einst auf, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Vordergründig bezog sich das auf das ebenfalls im Grundgesetz formulierte „Wiedervereinigungsgebot“. Historisch jedoch stellt sich die Frage: Auf welche Einheit des deutschen Volkes wurde hier eigentlich abgezielt? Etwa auf die kurze Spanne 1871 bis 1945, die nicht nur die zwölf Jahre nationalsozialistischer Gewaltherrschaft umfasste, sondern auch einen bemerkenswerten Bruch in der jahrhundertelangen Kontinuität deutscher Geschichte verkörperte?
In der Formulierung der Väter und Mütter des Grundgesetzes von 1949 finden sich Anklänge an das, was Jahrzehnte später in die „Meistererzählungen“ der deutschen Geschichtsschreibung einging. Egal ob Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler, trotz unterschiedlicher Perspektiven läuft bei allen die Vergangenheit auf den deutschen Nationalstaat zu. Mit ihm habe sich die deutsche Geschichte auf den europäischen „Normalweg“ begeben, sei die „verspätete Nation“ zum Nationalstaat geworden. Die Vorgeschichte des Deutschen Reiches hingegen habe sich dabei als schwere Bürde erwiesen, namentlich der territoriale Flickenteppich des Alten Reiches und später des Deutschen Bundes hätten die staatliche Überführung in das Gehäuse eines zentralisierten Nationalstaates à la Frankreich oder Großbritannien lange Zeit verhindert. Erst mit der Reichsgründung 1871, so das Urteil der wortführenden Historiker wie auch implizit des Grundgesetzes, konnte dieser Makel behoben und die staatliche Bestimmung der Deutschen doch noch realisiert werden.
Dem widerspricht der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in einem schlanken Essay „Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat“. Pointiert lautet seine Botschaft: Am Anfang war nicht die Revolution und auch nicht Napoleon, sondern die Föderation. Aus ihr erwuchs über die Jahrhunderte der Nationalstaat föderaler Prägung, wie wir ihn in seinen Grundzügen noch heute kennen. Die deutsche Vielstaatlichkeit sei dabei ebenso wenig historische Bürde gewesen wie die Ereignisse 1871 ihr zwangsläufiges Resultat; denn zum einen hätte alles auch anders kommen können, zum anderen habe der historische Partikularismus die vorstaatliche Nationsbildung überhaupt erst ermöglicht, da er die Idee der Nation für die Menschen greifbar machte, etwa durch das praktische Überwinden von Zoll- und Wirtschaftsgrenzen. Die Zeitgenossen hätten derlei Vereinheitlichung durchaus als eine Form der Nationsbildung verstanden, denn das Bewusstsein, einer gemeinsamen Nation anzugehören, wenngleich verteilt auf mehrere Staaten und unter dem Dach eines föderativen Reichsverbundes, sei vorhanden gewesen – allerdings ohne den weitergehenden staatlichen Zentralisierungsdruck.
Das klingt auf sympathische Weise modern. Zumal wenn man sich vor Augen führt, dass die föderativen Staatenverbünde, die dem Nationalstaat von 1871 vorangingen, keine rein deutschen Gebilde waren, sondern europäisch verflochten. Das gilt sowohl für den Deutschen Bund, der Territorien in Personalunion mit den Niederlanden, Luxemburg und Großbritannien umfasste, als auch – und sogar noch stärker – für das Alte Reich. Dazu kommt, dass beide Großverbünde grundsätzlich auf Bewahrung abzielten; Kriege nach innen gab es zwar, doch weder Altes Reich noch Deutscher Bund traten nach außen expansiv auf. Das tat erst der zentralisierte und homogenisierte Nationalstaat; er drängte auf koloniale Eroberungen und auf territoriale Konvergenz von Staats- und Kulturnation. Wenn sich das Bild der Verspätung auf Deutschland historisch treffend anwenden lässt, dann als „verspätetes Imperium“ oder „verspäteter Kolonialstaat“.
Erhellend ist das neuzeitliche Ordnungsmodell des föderativen Staatenverbundes aber auch beim heutigen Blick auf Europa. Einerseits deutet der blutige und kriegerische Weg zum zentral gesteuerten Nationalstaat, der praktisch alle modernen Nationen verbindet, an, wie schwierig es ist, aus den bestehenden europäischen Staaten etwas völlig Neues zu formen, wofür es kein historisches Vorbild gibt. Andererseits stellt die Europäisierung den Föderalismus womöglich nicht nur vor neue Herausforderungen (was sie zweifellos tut), sondern bietet umgekehrt der Föderalismus auch die eine oder andere Hilfestellung bei der Europäisierung.
Einheit in staatlicher Vielfalt kennzeichnete die deutsche und Teile der europäischen Ordnung über Jahrhunderte – und so soll es, geht es nach dem politischen Willen der EU und der in ihr organisierten Staaten, auch in Zukunft wieder sein. Dazu zähl(t)en Vereinheitlichungen etwa der Rechts- und Wirtschaftsordnungen, aber auch im Verkehrswesen und im Militär. Die historische Lösung war lange Zeit eine im Staatenverbund abgebildete Vielstaatlichkeit, welche die Mitglieder zu einer Wirtschafts-, Rechts- und Verteidigungsgemeinschaft zusammenschloss, ihnen ansonsten aber ein hohes Maß an Autonomie zugestand.
Davon sind wir derzeit in der EU noch ein gutes Stück entfernt. Die einstige Flexibilität der Staatenwelt scheint mit der Etablierung des modernen Nationalstaats verloren gegangen zu sein, der sich ganz offensichtlich schwer damit tut, Souveränität – zumal in sensiblen staatlichen Domänen wie etwa der Verteidigung – zu teilen oder gar zu Gunsten eines größeren Ganzen aufzugeben. Der Blick zurück in die deutsche Geschichte zeigt: Hier waren wir schon einmal weiter.
FLORIAN KEISINGER
Florian Keisinger ist Historiker.
Die deutsche Vielstaatlichkeit
über Jahrhunderte sei nicht
unbedingt eine Bürde gewesen
Mit dem Nationalstaat
ging auch ein Verlust
der Flexibilität einher
Dieter Langewiesche:
Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte. Heidelberger Akademische Bibliothek. Kröner Verlag,
Stuttgart 2020.
112 Seiten, 19,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
war die Föderation
Dieter Langewiesches anderer Blick auf die Nation
Die Präambel des Grundgesetzes forderte die Deutschen einst auf, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Vordergründig bezog sich das auf das ebenfalls im Grundgesetz formulierte „Wiedervereinigungsgebot“. Historisch jedoch stellt sich die Frage: Auf welche Einheit des deutschen Volkes wurde hier eigentlich abgezielt? Etwa auf die kurze Spanne 1871 bis 1945, die nicht nur die zwölf Jahre nationalsozialistischer Gewaltherrschaft umfasste, sondern auch einen bemerkenswerten Bruch in der jahrhundertelangen Kontinuität deutscher Geschichte verkörperte?
In der Formulierung der Väter und Mütter des Grundgesetzes von 1949 finden sich Anklänge an das, was Jahrzehnte später in die „Meistererzählungen“ der deutschen Geschichtsschreibung einging. Egal ob Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler, trotz unterschiedlicher Perspektiven läuft bei allen die Vergangenheit auf den deutschen Nationalstaat zu. Mit ihm habe sich die deutsche Geschichte auf den europäischen „Normalweg“ begeben, sei die „verspätete Nation“ zum Nationalstaat geworden. Die Vorgeschichte des Deutschen Reiches hingegen habe sich dabei als schwere Bürde erwiesen, namentlich der territoriale Flickenteppich des Alten Reiches und später des Deutschen Bundes hätten die staatliche Überführung in das Gehäuse eines zentralisierten Nationalstaates à la Frankreich oder Großbritannien lange Zeit verhindert. Erst mit der Reichsgründung 1871, so das Urteil der wortführenden Historiker wie auch implizit des Grundgesetzes, konnte dieser Makel behoben und die staatliche Bestimmung der Deutschen doch noch realisiert werden.
Dem widerspricht der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in einem schlanken Essay „Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat“. Pointiert lautet seine Botschaft: Am Anfang war nicht die Revolution und auch nicht Napoleon, sondern die Föderation. Aus ihr erwuchs über die Jahrhunderte der Nationalstaat föderaler Prägung, wie wir ihn in seinen Grundzügen noch heute kennen. Die deutsche Vielstaatlichkeit sei dabei ebenso wenig historische Bürde gewesen wie die Ereignisse 1871 ihr zwangsläufiges Resultat; denn zum einen hätte alles auch anders kommen können, zum anderen habe der historische Partikularismus die vorstaatliche Nationsbildung überhaupt erst ermöglicht, da er die Idee der Nation für die Menschen greifbar machte, etwa durch das praktische Überwinden von Zoll- und Wirtschaftsgrenzen. Die Zeitgenossen hätten derlei Vereinheitlichung durchaus als eine Form der Nationsbildung verstanden, denn das Bewusstsein, einer gemeinsamen Nation anzugehören, wenngleich verteilt auf mehrere Staaten und unter dem Dach eines föderativen Reichsverbundes, sei vorhanden gewesen – allerdings ohne den weitergehenden staatlichen Zentralisierungsdruck.
Das klingt auf sympathische Weise modern. Zumal wenn man sich vor Augen führt, dass die föderativen Staatenverbünde, die dem Nationalstaat von 1871 vorangingen, keine rein deutschen Gebilde waren, sondern europäisch verflochten. Das gilt sowohl für den Deutschen Bund, der Territorien in Personalunion mit den Niederlanden, Luxemburg und Großbritannien umfasste, als auch – und sogar noch stärker – für das Alte Reich. Dazu kommt, dass beide Großverbünde grundsätzlich auf Bewahrung abzielten; Kriege nach innen gab es zwar, doch weder Altes Reich noch Deutscher Bund traten nach außen expansiv auf. Das tat erst der zentralisierte und homogenisierte Nationalstaat; er drängte auf koloniale Eroberungen und auf territoriale Konvergenz von Staats- und Kulturnation. Wenn sich das Bild der Verspätung auf Deutschland historisch treffend anwenden lässt, dann als „verspätetes Imperium“ oder „verspäteter Kolonialstaat“.
Erhellend ist das neuzeitliche Ordnungsmodell des föderativen Staatenverbundes aber auch beim heutigen Blick auf Europa. Einerseits deutet der blutige und kriegerische Weg zum zentral gesteuerten Nationalstaat, der praktisch alle modernen Nationen verbindet, an, wie schwierig es ist, aus den bestehenden europäischen Staaten etwas völlig Neues zu formen, wofür es kein historisches Vorbild gibt. Andererseits stellt die Europäisierung den Föderalismus womöglich nicht nur vor neue Herausforderungen (was sie zweifellos tut), sondern bietet umgekehrt der Föderalismus auch die eine oder andere Hilfestellung bei der Europäisierung.
Einheit in staatlicher Vielfalt kennzeichnete die deutsche und Teile der europäischen Ordnung über Jahrhunderte – und so soll es, geht es nach dem politischen Willen der EU und der in ihr organisierten Staaten, auch in Zukunft wieder sein. Dazu zähl(t)en Vereinheitlichungen etwa der Rechts- und Wirtschaftsordnungen, aber auch im Verkehrswesen und im Militär. Die historische Lösung war lange Zeit eine im Staatenverbund abgebildete Vielstaatlichkeit, welche die Mitglieder zu einer Wirtschafts-, Rechts- und Verteidigungsgemeinschaft zusammenschloss, ihnen ansonsten aber ein hohes Maß an Autonomie zugestand.
Davon sind wir derzeit in der EU noch ein gutes Stück entfernt. Die einstige Flexibilität der Staatenwelt scheint mit der Etablierung des modernen Nationalstaats verloren gegangen zu sein, der sich ganz offensichtlich schwer damit tut, Souveränität – zumal in sensiblen staatlichen Domänen wie etwa der Verteidigung – zu teilen oder gar zu Gunsten eines größeren Ganzen aufzugeben. Der Blick zurück in die deutsche Geschichte zeigt: Hier waren wir schon einmal weiter.
FLORIAN KEISINGER
Florian Keisinger ist Historiker.
Die deutsche Vielstaatlichkeit
über Jahrhunderte sei nicht
unbedingt eine Bürde gewesen
Mit dem Nationalstaat
ging auch ein Verlust
der Flexibilität einher
Dieter Langewiesche:
Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte. Heidelberger Akademische Bibliothek. Kröner Verlag,
Stuttgart 2020.
112 Seiten, 19,90 Euro.
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