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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie Funktionäre des Nationalsozialismus die frühe bundesdeutsche Gesundheitspolitik prägen konnten
Im Kanon der Berliner Bundesministerien war das Gesundheitsministerium während der Corona-Krise die wohl lauteste Stimme - notgedrungen, denn die Pandemie erforderte von den amtierenden Ministern beständiges Erklären und Entscheiden. Die historische Untersuchung zur Gründungszeit des zunächst in Bonn beheimateten Ressorts, die Lutz Kreller und Franziska Kuschel vorgelegt haben, kommt darum zum richtigen Zeitpunkt. Zwar wäre die von zahlreichen historischen Quellen getragene Untersuchung auch im vorpandemischen Zeitalter schon wertvoll gewesen. Doch die zwischenzeitlich herausgehobene Bedeutung des Bundesgesundheitsministeriums, kurz BMG, lässt die Frage nach seinen Ursprüngen umso wesentlicher erscheinen.
Im Detail zeichnen die Historiker nach, warum das unter dem Namen Bundesministerium für Gesundheitswesen (BMGes) gegründete Ressort verspätet kam - 1961 war das, zwölf Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik. Schon zu Weimarer Zeiten oblag die Gesundheitspolitik vielfach den Ländern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt die Dezentralisierung von Kompetenzen dann als Instrument der Alliierten, eine ungewollte Konzentration politischer Macht zu erschweren. Hinzu kamen der Umstand, dass die zu Beginn der Bundesrepublik mitregierende Union in der Gesundheitspolitik über wenig Profil verfügte - anders als die SPD, die schon in den Fünfzigerjahren aus der Opposition heraus mit eigenen Konzepten aufwarten konnte -, sowie die Festlegung des ersten Kanzlers Konrad Adenauer, sich auch insofern von der sozialistischen DDR abzugrenzen, als die Regierung in Bonn darauf verzichtete, ein eigenes Ministerium für Gesundheitswesen zu etablieren. Zentrale Gesundheitspolitik wurde in Bonn darum zunächst zwölf Jahre lang aus dem Innenministerium betrieben, das dafür eine eigene Abteilung erhielt.
Neben den lauter werdenden Forderungen der Ärzteschaft, für Gesundheitsfragen ein eigenes Ministerium zu gründen, verschaffte die Dynamik des Bundestagswahlkampfs 1961 dem Thema zusätzliches Gewicht. Und weil nach der Wahl die Frauen in der Union bei Adenauer darauf drängten, bei der Besetzung von Ministerposten berücksichtigt zu werden, standen die Zeichen für das neue BMGes günstig. Geleitet wurde der "Schmelztiegel der ministeriellen Exekutive Bonns", dessen Beamten aus sieben Ressorts zusammengezogen worden waren, von Elisabeth Schwarzhaupt, einer promovierten Juristin. Die Untersuchung Krellers und Kuschels reicht bis Anfang der Siebzigerjahre. Sie umfasst auch jene Jahre, in denen das Ministerium von den Sozialdemokratinnen Käte Strobel und Katharina Focke geleitet wurde, die nach Darstellung der Autoren mehr Energie darauf verwenden konnten, die Arbeit des Ministeriums inhaltlich zu prägen. Schwarzhaupts Leistung bestand demnach in erster Linie darin, überhaupt ein funktionsfähiges Ministerium vorweisen zu können.
Die größte Stärke der Untersuchung besteht aber in der Liebe zum Detail, mit der die Autoren nachweisen, dass selbst offenkundige Belastungen aus der Zeit des Nationalsozialismus bei der Rekrutierung von Personal in der jungen Bundesrepublik oft kaum Gewicht hatten - auch und gerade in der Gesundheitspolitik, die vor dem Hintergrund von Rassenwahn und Eugenik der Nationalsozialisten alles andere als unproblematisch gelten kann. Anhand von Personalakten können die Autoren nachweisen, dass Nazi-Belastungen bekannt waren, aber keine Rolle spielten. Zwischen 1962 und 1973 war demnach bei fast der Hälfte aller leitenden Beamten eine frühere Mitgliedschaft in der NSDAP aktenkundig. Kreller und Kuschel werben gleichwohl überzeugend dafür, den Faktor der historischen Belastung nicht auf eine Parteizugehörigkeit zu reduzieren. Vielfach waren leitende Beamte in der Zeit des Nationalsozialismus Mitglied in SA und SS gewesen oder stützten die menschenverachtende Ideologie auf andere Weise - insbesondere im ärztlichen Bereich, der mit der Gesundheitspolitik auch insofern verknüpft ist, als Mediziner einen nicht unerheblichen Anteil am Personal eines jeden Gesundheitsministeriums ausgemacht haben.
Eindrücklich schildern Lutz Kreller und Franziska Kuschel, dass die leitenden Beamten schon in den Fünfzigerjahren ihre "Karrieren aus der NS-Zeit zumeist ungebrochen" fortsetzen konnten. Als Zeugen rufen sie zunächst den Juristen Walter Bargatzky auf, der während des Krieges im von Deutschland besetzten Paris "antisemitische Verfolgungsmaßnahmen rechtlich legitimierte", wie die Autoren schreiben. Selbst nach dem Krieg ließ Bargatzky Sympathien für den "geringeren Rang der Farbigen" erkennen, ohne dass dies seiner Berufung zum Spitzenbeamten hätte schaden können. Bargatzky wurde zum Staatssekretär berufen.
Das Muster wiederholt sich bei einem anderen Mann, den Kreller und Kuschel "graue Eminenz des Bonner Gesundheitsressorts" nennen: Abteilungsleiter Josef Stralau, der die bundesdeutsche Gesundheitspolitik zunächst aus dem Innenministerium und später aus dem BMGes heraus geprägt hatte. Als Amtsarzt im Nationalsozialismus konnte Stralau ausweislich der Analyse als "umtriebiger Rassenhygieniker" gelten. Die Autoren argumentieren, dass Stralau angeordnet hat, dass während seiner Zeit in Oberhausen zahlreiche Menschen mit vermeintlichen Erbkrankheiten gegen ihren Willen sterilisiert worden waren - weil ihre "volksbiologische Brauchbarkeit" als "gering bezeichnet werden" müsse, wie es in einem Untersuchungsbericht der Behörde im Jahr 1938 hieß. Zudem verfügte Stralau Eheverbote aus erbbiologischen Gründen - eine Tätigkeit ganz im Sinne des nationalsozialistischen Regimes. Die "Täterschaft eines Amtsarztes im ,Dritten Reich'" spielte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren demnach offenbar keine Rolle.
Stralau als mächtiger Beamter vermochte die Konturen der Bonner Gesundheitspolitik in seinem Sinne zu prägen. Mit Erfolg leistete er über Jahre Widerstand gegen eine Forderung der Ärzteschaft: Die Mediziner verlangten, den während der Nazizeit verwendeten Begriff der Bestallung wieder in Approbation zu ändern - die Zulassung zum ärztlichen Beruf sollte nicht mehr mit einer politischen Treueverpflichtung einhergehen, wie es im Nationalsozialismus der Fall war. Und mehr noch: Stralaus "unumschränkte Machtposition" im Ministerium habe gar dazu geführt, dass die 1933 von den Nazis definierten "Erbkrankheiten" laut Kreller und Kuschel die Grundlage einer bundesdeutschen Sterilisationspolitik bilden sollten. Gegen Entschädigungsansprüche früherer Opfer wehrte sich Stralau. Die überkommenen rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten waren demnach noch in den Sechzigerjahren Bestandteil einer bundesdeutschen Debatte - auch weil historisch belastete Ärzte weiterhin an hoher Stelle Zugang zum System hatten. Die umstrittene Regelung zur Sterilisation wurde übrigens erst 1974 aufgehoben - nach Stralaus Pensionierung im Januar 1971. KIM BJÖRN BECKER
Lutz Kreller/ Franziska Kuschel: Vom "Volkskörper" zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 368 S., 36,- Euro.
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