Ein neuer Blick auf Pompeji und die befreiende Kraft der Kultur Garküchen, ein Sklavenzimmer, griechische Theater, Villen, Thermen und Tempel - die Ausgrabungen in Pompeji offenbaren eine Welt. Doch was hat sie mit uns zu tun? Gabriel Zuchtriegel, der neue Direktor des Weltkulturerbes, legt eindrucksvoll dar, dass verschüttete Altertümer, starre Ruinen und schweigende Bilder uns noch heute verändern können. Fast täglich kommt Gabriel Zuchtriegel bei seiner Arbeit an der Kreuzung der zwei Hauptachsen Pompejis vorbei, steht da, wo am Morgen des 25. Oktober im Jahr 79 n. Chr. eine ganze Stadt unter Asche und Geröll versank. Wenn Zuchtriegel die Skulptur des im Schlaf überraschten Fischerjungen sieht, muss er an seinen Sohn denken, der sich genauso einrollt, um nicht zu frieren. Dass solche Momente wesentlich sind, um zu vermitteln, was die Antike mit uns zu tun hat, darum geht es in diesem Buch. Gabriel Zuchtriegel bringt uns anhand der archäologischen Entdeckungen vom 19. Jahrhundert bis heute neben Ausgrabungstechniken auch Fragestellungen näher, die mit dem Wandel der Gesellschaft und unserer Gegenwart verknüpft sind. Das alles verbindet er mit seinem Werdegang als Archäologe, der Pompeji nicht nur als Weltkulturerbe erhalten möchte, sondern sich dafür einsetzt, dass alle diesen Ort als den ihren begreifen.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Sabine Seifert freut sich über den frischen Wind, den Gabriel Zuchtriegel mit seinem Buch in die archäologische Szene bringt. Denn der 1981 geborene und damit als Vertreter einer neuen Generation gehandelte Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji setzt sich in seinem Buch über die untergegangene Stadt auch mit Themenfeldern auseinander, die in seinem Fachgebiet bisher wenig Beachtung erfuhren, lobt Seifert: So etwa mit sexueller Gewalt, die die antike Mythologie durchzog und dabei so selbstverständlich war, dass es gar keine Begriffe dafür gab, oder auch mit Postkolonialismus und Diskursanalyse, so die Kritikerin. Dass Zuchtriegel sein Buch in Richtung solcher Themen öffne und in diesem Zuge auch sein eigenes Hadern mit der Archäologie in seinem beruflichen Werdegang thematisiere, findet Seifert spannend. Auch andere Kapitel, die sich etwa um das erste freigelegte Sklavenzimmer oder um ein nicht altehrwürdiges, sondern alltägliches Pompei mit Werkstätten, Schenken und Wohnungen drehen, findet sie so "lebendig", dass ihr eine Vorkenntnis zu Pompeji nicht notwendig scheint. Einzig über die "Probleme der Konservierung und des Denkmalschutzes" bezüglich der Ausgrabungen hätte sie gern noch etwas mehr gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2023Die Kunst der Griechen mit der Seele suchend
Liebeserklärung an die Archäologie: Gabriel Zuchtriegel, Direktor der Welterbestätte Pompeji, lädt ein zu Entdeckungen in der untergegangen Stadt.
Rund sechshundertmal im Jahr rückt im Archäologischen Park von Pompeji der medizinische Notdienst aus. Bei etwa jedem fünften Einsatz handelt es sich um Herz-Kreislauf-Probleme. Das heiße Wetter gilt als nur ein Grund dafür. In den Medien wird über das Stendhal-Syndrom spekuliert, benannt nach dem französischen Schriftsteller, den die Besichtigung der Basilica di Santa Croce in Florenz 1817 "in eine Art Ekstase" versetzte, die in Erschöpfung umschlug, "mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen". Die Psychologin Graziella Magherini hat die kulturelle Reizüberflutung bei ausländischen Touristen der Kunstmetropole diagnostiziert und 1979 mehr als hundert Fallgeschichten in einem Buch beschrieben: Herzrasen, Atemnot und Hyperventilation, Ohnmacht, Schwindel, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen zählen zu den Symptomen.
Mit diesen "Risiken und Nebenwirkungen" eröffnet Gabriel Zuchtriegel, seit gut zwei Jahren Direktor der Welterbestätte, sein Buch. "Ich selbst blieb bisher verschont", gesteht er und räumt ein, an einigen Orten in Pompeji für sich "eine gewisse Gefährdung" zu sehen: So bei der Skulptur eines im Schlaf überraschten Fischerjungen, der sich in seinen Kapuzenmantel eingerollt hat, "wie mein achtjähriger Sohn das manchmal macht". Das eigentliche Problem aber ist für den Archäologen ein anderes, er nennt es "Sammlersyndrom": Die Einstellung, antike Kunstwerke zu Besitztümern herabzuwürdigen und unter den Pompeji-Besuch einen Haken zu setzen, womöglich gar eine Scherbe mitgehen zu lassen. Da ist ihm Stendhal näher, der beim Verlassen der Kirche empfand, "das alles spricht lebendig zu meiner Seele", und zur Gruppe der "spirituellen Pilger" gehört, die ins Museum gehen, "um Energie zu tanken, sich selbst besser kennenzulernen", Verlustgefühle inklusive. "Wir können alle dieser Gruppe beitreten", ruft Zuchtriegel dem Leser zu: "Probieren Sie es selbst aus!"
Das Buch ist weniger eine Anleitung als eine Einladung dazu. Keine wissenschaftliche Studie, vermittelt es auch Grundwissen und Ergebnisse der Forschung, vor allem aber eine unakademische Zuwendung, die nicht von der eigenen Erfahrungswelt abstrahiert, sondern mit den Altertümern in Dialog treten und eine sinnliche Wahrnehmung erschließen lässt. "Emotionale Triebfeder" ist ein Schlüsselbegriff des 1981 geborenen Autors, seine Biographie steht dafür: Angefangen bei dem Gymnasiasten als von den Eltern seiner Mitschüler engagierter Latein-Nachhilfelehrer in Oberschwaben über den Studenten der Humboldt-Universität, der sich mit seiner Abschlussarbeit über Latrinen und Abwassersysteme in antiken griechischen Städten als Nestbeschmutzer des Fachs auszeichnet, und den Direktor des Archäologischen Parks von Paestum und Vela bis zur für ihn selbst überraschenden Berufung zum Hüter des Archäologischen Parks von Pompeji mit gerade einmal 39 Jahren.
Leben und Archäologie, Archäologie und Leben: Zuchtriegel trennt sie auch nicht in der Darstellung, Stationen der Biographie werden nicht chronologisch aneinandergereiht, sondern eingeflochten. Wie er dabei vom einen zum anderen (und wieder zurück) kommt, die Geschichte der im Jahre 79 n. Chr. untergegangenen Stadt wie auch die der 1748 begonnenen Ausgrabung rekapituliert, Funde und Werke einordnet, Fragen der Interpretation und Restaurierung erörtert und immer wieder aktuelle Bezüge herstellt, wie er ab- und wieder zurückschweift, sich in Debatten stürzt, die Absurditäten der Bürokratie oder die Sensationslust der Presse kritisch streift, das alles und manches mehr fügt sich, farbig und luzide erzählt, zu einer Liebeserklärung an die Archäologie: Fremd und faszinierend, wie sie der Gegenwart entgegentritt, zeigt sie dieser ihre Grenzen und ihre Veränderbarkeit auf.
Das biographische Band verknüpft vier essayistische Kapitel. "Was ist dran an klassischer Kunst?", fragt das erste. Dass die Römer in der griechischen Kunst, mit der sie Tempel, Häuser und Gärten schmückten, ihre "Klassik" hatten, nimmt Zuchtriegel als Ausgangspunkt, den Begriff neu zu bedenken: zunächst an der Statue des Apollo Citarista, dann an der Gestalt des Hermaphroditus, die ihn Vorstellungen zum antiken Umgang mit Körpern und Sexualität sondieren lässt. "Im Sog des Ritus" geht der engen Verzahnung von Religion und Kunst nach, erklärt den Aufstieg des Dionysus zum "neuem Gott", würdigt die "Operation Mysterienvilla" von Amedeo Maiuri während des Faschismus als maßstabsetzende Grabung und diskutiert die konträren Deutungen des Freskenzyklus in ihrem Saal von Paul Veyne und Gilles Sauron.
Das Kapitel "Eine Stadt am Rande der Katastrophe" wartet mit einer neuen Schätzung der Größe Pompejis auf: Nicht nur zwölf- oder zwanzigtausend, sondern eher 45.000 Menschen lebten in einer "vollgestopften Stadt" und mithin auf sehr engem Raum. Was den jüngsten Fund des Sklavenzimmers der Civita Giuliana so bedeutend macht, ist der "Seltenheitswert des Alltäglichen": Ein Titel, der, so Zuchtriegel, auch Programm ist und "als Überschrift für meinen persönlichen Zugang zur Archäologie und zu Pompeji stehen könnte". "Was am Ende zählt", muss aber der Leser dieses Buches, in seiner Entdeckerfreude gestärkt, selbst bestimmen.
Schon Zuchtriegels Vorgänger Massimo Osanna, der 2014 antrat und "die (tatsächlichen und angeblichen) Skandale (...) vergessen ließ", hatte die Ausgrabungsstätte geöffnet. Sein "Grande Progetto Pompei" schärfte die Aufmerksamkeit für das Alltagsleben und entwarf das neue Bild einer lebendigen, kompletten Stadt, deren Bewohner - im Schnitt waren es vor der Pandemie mehr als zehntausend Besucher - sich aber meist nur einen Tag in ihr aufhalten. Zuchtriegel, der, fast eine Generation jünger als Osanna, diesen Maestro nennt, baut das aus. Leidenschaftlich berichtet er von dem Vorhaben, das er im ersten Jahr für sein wichtigstes hält: Ein Theaterworkshop mit Jugendlichen aus dem von Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsemigration und der Camorra kontaminierten Umland, der eine emotionale Bindung zu der von vielen "als eine Art Ufo" wahrgenommenen antiken Stadt herstellte und diese zu einem Teil ihres Lebens machte. Aristophanes' Komödie "Die Vögel" wurde adaptiert und zum "Traum vom Fliegen", mit dem der nächste große Fund, was für ein schöner Zufall, in Verbindung trat: Marcus Venerius Secundio, der sich das Grab bauen ließ, war ein freigelassener Sklave, der zu Wohlstand gelangt war und, so die Inschrift, "allein griechische und lateinische Spiele über vier Tage veranstaltete". Vielleicht wird damit angedeutet, wo Zuchtriegel mit Pompeji hinwill. Das Theaterprojekt unternimmt den Versuch, die antike Stadt vom Bann des Vergangenen zu befreien: So verstanden und belebt, ist sie keine eingefrorene Welt, kein "nur" musealer Ort mehr.
"Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch", notiert Goethe am 16. März 1787, fünf Tage nach dem Besuch in Pompeji, in der "Italienischen Reise", nachdem er sich schon bei seiner Ankunft in Italien "wie neu geboren" vorgekommen war. Eine Art Wandlung hat auch Zuchtriegel, der die Annahme der italienischen Staatsbürgerschaft 2020 eine "Herzensangelegenheit" nennt, an sich beobachtet. Schon bei seiner ersten Grabung mit einem rein italienischen Team hatte er das Gefühl, "in Italien irgendwie besser reinzupassen", formuliert er salopp: "Tatsächlich sagen mir Freunde, die mich sowohl als 'Deutschen' als auch als 'Italiener' kennen, dass ich in der italienischen Fassung wesentlich extrovertierter wirke . . ." Gut möglich, dass das dem auf Deutsch, doch entspannt und unvergrübelt geschriebenen Buch zugutegekommen ist. ANDREAS ROSSMANN
Gabriel Zuchtriegel: "Vom Zauber des Untergangs". Was Pompeji über uns erzählt.
Propyläen Verlag, Berlin 2023. 240 S., Abb., geb., 29,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Liebeserklärung an die Archäologie: Gabriel Zuchtriegel, Direktor der Welterbestätte Pompeji, lädt ein zu Entdeckungen in der untergegangen Stadt.
Rund sechshundertmal im Jahr rückt im Archäologischen Park von Pompeji der medizinische Notdienst aus. Bei etwa jedem fünften Einsatz handelt es sich um Herz-Kreislauf-Probleme. Das heiße Wetter gilt als nur ein Grund dafür. In den Medien wird über das Stendhal-Syndrom spekuliert, benannt nach dem französischen Schriftsteller, den die Besichtigung der Basilica di Santa Croce in Florenz 1817 "in eine Art Ekstase" versetzte, die in Erschöpfung umschlug, "mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete umzufallen". Die Psychologin Graziella Magherini hat die kulturelle Reizüberflutung bei ausländischen Touristen der Kunstmetropole diagnostiziert und 1979 mehr als hundert Fallgeschichten in einem Buch beschrieben: Herzrasen, Atemnot und Hyperventilation, Ohnmacht, Schwindel, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen zählen zu den Symptomen.
Mit diesen "Risiken und Nebenwirkungen" eröffnet Gabriel Zuchtriegel, seit gut zwei Jahren Direktor der Welterbestätte, sein Buch. "Ich selbst blieb bisher verschont", gesteht er und räumt ein, an einigen Orten in Pompeji für sich "eine gewisse Gefährdung" zu sehen: So bei der Skulptur eines im Schlaf überraschten Fischerjungen, der sich in seinen Kapuzenmantel eingerollt hat, "wie mein achtjähriger Sohn das manchmal macht". Das eigentliche Problem aber ist für den Archäologen ein anderes, er nennt es "Sammlersyndrom": Die Einstellung, antike Kunstwerke zu Besitztümern herabzuwürdigen und unter den Pompeji-Besuch einen Haken zu setzen, womöglich gar eine Scherbe mitgehen zu lassen. Da ist ihm Stendhal näher, der beim Verlassen der Kirche empfand, "das alles spricht lebendig zu meiner Seele", und zur Gruppe der "spirituellen Pilger" gehört, die ins Museum gehen, "um Energie zu tanken, sich selbst besser kennenzulernen", Verlustgefühle inklusive. "Wir können alle dieser Gruppe beitreten", ruft Zuchtriegel dem Leser zu: "Probieren Sie es selbst aus!"
Das Buch ist weniger eine Anleitung als eine Einladung dazu. Keine wissenschaftliche Studie, vermittelt es auch Grundwissen und Ergebnisse der Forschung, vor allem aber eine unakademische Zuwendung, die nicht von der eigenen Erfahrungswelt abstrahiert, sondern mit den Altertümern in Dialog treten und eine sinnliche Wahrnehmung erschließen lässt. "Emotionale Triebfeder" ist ein Schlüsselbegriff des 1981 geborenen Autors, seine Biographie steht dafür: Angefangen bei dem Gymnasiasten als von den Eltern seiner Mitschüler engagierter Latein-Nachhilfelehrer in Oberschwaben über den Studenten der Humboldt-Universität, der sich mit seiner Abschlussarbeit über Latrinen und Abwassersysteme in antiken griechischen Städten als Nestbeschmutzer des Fachs auszeichnet, und den Direktor des Archäologischen Parks von Paestum und Vela bis zur für ihn selbst überraschenden Berufung zum Hüter des Archäologischen Parks von Pompeji mit gerade einmal 39 Jahren.
Leben und Archäologie, Archäologie und Leben: Zuchtriegel trennt sie auch nicht in der Darstellung, Stationen der Biographie werden nicht chronologisch aneinandergereiht, sondern eingeflochten. Wie er dabei vom einen zum anderen (und wieder zurück) kommt, die Geschichte der im Jahre 79 n. Chr. untergegangenen Stadt wie auch die der 1748 begonnenen Ausgrabung rekapituliert, Funde und Werke einordnet, Fragen der Interpretation und Restaurierung erörtert und immer wieder aktuelle Bezüge herstellt, wie er ab- und wieder zurückschweift, sich in Debatten stürzt, die Absurditäten der Bürokratie oder die Sensationslust der Presse kritisch streift, das alles und manches mehr fügt sich, farbig und luzide erzählt, zu einer Liebeserklärung an die Archäologie: Fremd und faszinierend, wie sie der Gegenwart entgegentritt, zeigt sie dieser ihre Grenzen und ihre Veränderbarkeit auf.
Das biographische Band verknüpft vier essayistische Kapitel. "Was ist dran an klassischer Kunst?", fragt das erste. Dass die Römer in der griechischen Kunst, mit der sie Tempel, Häuser und Gärten schmückten, ihre "Klassik" hatten, nimmt Zuchtriegel als Ausgangspunkt, den Begriff neu zu bedenken: zunächst an der Statue des Apollo Citarista, dann an der Gestalt des Hermaphroditus, die ihn Vorstellungen zum antiken Umgang mit Körpern und Sexualität sondieren lässt. "Im Sog des Ritus" geht der engen Verzahnung von Religion und Kunst nach, erklärt den Aufstieg des Dionysus zum "neuem Gott", würdigt die "Operation Mysterienvilla" von Amedeo Maiuri während des Faschismus als maßstabsetzende Grabung und diskutiert die konträren Deutungen des Freskenzyklus in ihrem Saal von Paul Veyne und Gilles Sauron.
Das Kapitel "Eine Stadt am Rande der Katastrophe" wartet mit einer neuen Schätzung der Größe Pompejis auf: Nicht nur zwölf- oder zwanzigtausend, sondern eher 45.000 Menschen lebten in einer "vollgestopften Stadt" und mithin auf sehr engem Raum. Was den jüngsten Fund des Sklavenzimmers der Civita Giuliana so bedeutend macht, ist der "Seltenheitswert des Alltäglichen": Ein Titel, der, so Zuchtriegel, auch Programm ist und "als Überschrift für meinen persönlichen Zugang zur Archäologie und zu Pompeji stehen könnte". "Was am Ende zählt", muss aber der Leser dieses Buches, in seiner Entdeckerfreude gestärkt, selbst bestimmen.
Schon Zuchtriegels Vorgänger Massimo Osanna, der 2014 antrat und "die (tatsächlichen und angeblichen) Skandale (...) vergessen ließ", hatte die Ausgrabungsstätte geöffnet. Sein "Grande Progetto Pompei" schärfte die Aufmerksamkeit für das Alltagsleben und entwarf das neue Bild einer lebendigen, kompletten Stadt, deren Bewohner - im Schnitt waren es vor der Pandemie mehr als zehntausend Besucher - sich aber meist nur einen Tag in ihr aufhalten. Zuchtriegel, der, fast eine Generation jünger als Osanna, diesen Maestro nennt, baut das aus. Leidenschaftlich berichtet er von dem Vorhaben, das er im ersten Jahr für sein wichtigstes hält: Ein Theaterworkshop mit Jugendlichen aus dem von Arbeitslosigkeit, Wirtschaftsemigration und der Camorra kontaminierten Umland, der eine emotionale Bindung zu der von vielen "als eine Art Ufo" wahrgenommenen antiken Stadt herstellte und diese zu einem Teil ihres Lebens machte. Aristophanes' Komödie "Die Vögel" wurde adaptiert und zum "Traum vom Fliegen", mit dem der nächste große Fund, was für ein schöner Zufall, in Verbindung trat: Marcus Venerius Secundio, der sich das Grab bauen ließ, war ein freigelassener Sklave, der zu Wohlstand gelangt war und, so die Inschrift, "allein griechische und lateinische Spiele über vier Tage veranstaltete". Vielleicht wird damit angedeutet, wo Zuchtriegel mit Pompeji hinwill. Das Theaterprojekt unternimmt den Versuch, die antike Stadt vom Bann des Vergangenen zu befreien: So verstanden und belebt, ist sie keine eingefrorene Welt, kein "nur" musealer Ort mehr.
"Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkner Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch", notiert Goethe am 16. März 1787, fünf Tage nach dem Besuch in Pompeji, in der "Italienischen Reise", nachdem er sich schon bei seiner Ankunft in Italien "wie neu geboren" vorgekommen war. Eine Art Wandlung hat auch Zuchtriegel, der die Annahme der italienischen Staatsbürgerschaft 2020 eine "Herzensangelegenheit" nennt, an sich beobachtet. Schon bei seiner ersten Grabung mit einem rein italienischen Team hatte er das Gefühl, "in Italien irgendwie besser reinzupassen", formuliert er salopp: "Tatsächlich sagen mir Freunde, die mich sowohl als 'Deutschen' als auch als 'Italiener' kennen, dass ich in der italienischen Fassung wesentlich extrovertierter wirke . . ." Gut möglich, dass das dem auf Deutsch, doch entspannt und unvergrübelt geschriebenen Buch zugutegekommen ist. ANDREAS ROSSMANN
Gabriel Zuchtriegel: "Vom Zauber des Untergangs". Was Pompeji über uns erzählt.
Propyläen Verlag, Berlin 2023. 240 S., Abb., geb., 29,- Euro.
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»Zaubern mit Scherben - Gabriel Zuchtriegels so famoses wie ungewöhnliches Buch« Reinhard Brembeck Süddeutsche Zeitung 20230614