Deutschland als Vorbild? Susan Neiman vergleicht den deutschen und den amerikanischen Umgang mit dem Erbe der eigenen Geschichte.
Wie können Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen? Lässt sich – politisch gesehen – etwas von den Deutschen lernen? Als Susan Neiman, eine junge jüdische Amerikanerin, in den achtziger Jahren ausgerechnet nach Berlin zog, war das für viele in ihrem Umfeld nicht nachvollziehbar. Doch sie blieb in Berlin und erlebte hier, wie die Deutschen sich ernsthaft mit den eigenen Verbrechen auseinandersetzten: im Westen wie im Osten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Als dann mit Donald Trump ein Mann Präsident der USA wurde, der dem Rassismus neuen Aufschwung verschaffte, beschloss sie, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen war: in die amerikanischen Südstaaten, wo das Erbe der Sklaverei noch immer die Gegenwart bestimmt. Susan Neiman verknüpft persönliche Porträts mit philosophischer Reflexion und fragt: Wie sollten Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen?
Wie können Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen? Lässt sich – politisch gesehen – etwas von den Deutschen lernen? Als Susan Neiman, eine junge jüdische Amerikanerin, in den achtziger Jahren ausgerechnet nach Berlin zog, war das für viele in ihrem Umfeld nicht nachvollziehbar. Doch sie blieb in Berlin und erlebte hier, wie die Deutschen sich ernsthaft mit den eigenen Verbrechen auseinandersetzten: im Westen wie im Osten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Als dann mit Donald Trump ein Mann Präsident der USA wurde, der dem Rassismus neuen Aufschwung verschaffte, beschloss sie, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen war: in die amerikanischen Südstaaten, wo das Erbe der Sklaverei noch immer die Gegenwart bestimmt. Susan Neiman verknüpft persönliche Porträts mit philosophischer Reflexion und fragt: Wie sollten Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen?
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, L ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2020Reise in die Vergangenheit
Vom Umgang mit Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und den Vereinigten Staaten
Die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus ist ein Skandal. Sie erzählt von millionenfachem Leid und Tod, von Vertuschung und zögerlicher Aufarbeitung. Angesichts dieser Tatsachen ist es erschütternd, dass Antisemitismus und Rassismus auch in der Gegenwart sichtbar sind. Nach dem Massaker von Charleston 2015, bei dem ein weißer Amerikaner neun Afroamerikaner ermordete, beschloss Susan Neiman, ein Buch zu schreiben. Es nimmt die deutsche "Vergangenheitsaufarbeitung" als Beispiel, um den Umgang mit Rassismus in den Vereinigten Staaten zu beleuchten.
Neiman erzählt darin auch ihre eigene Geschichte. Sie ist eine politisch engagierte Jüdin, die in Atlanta aufgewachsen ist und heute als Philosophin in Berlin lebt. Es ist ein persönliches Buch geworden, in dem die Autorin ihre kosmopolitischen Überzeugungen deutlich macht und zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen lässt. Entstanden ist es während eines Roadtrips durch Deutschland und den Süden der Vereinigten Staaten, wo Neiman erinnerungspolitisch engagierten Bürgern begegnete. In Gestalt einer Gruppe amerikanischer Laiendarsteller, die Bürgerkriegssoldaten mimen, oder dem Brandenburger AfD-Vorsitzenden kommen gelegentlich auch jene zu Wort, die kein Interesse daran haben, sich der Vergangenheit kritisch zu stellen. Der Text gewinnt damit zwar an Multiperspektivität, wird jedoch streckenweise repetitiv und hat deutliche Längen.
Das Buch basiert auf drei Prämissen: Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit sitzt wie ein Stachel im Fleisch der Gegenwart. Der vergangenheitspolitische Weg Deutschlands ist ein Erfolg. Er ist beispielgebend. Nicht jeder wird diesen Voraussetzungen zustimmen wollen. So ist fraglich, ob der deutsche Umgang mit der Vergangenheit in einer Fortschrittsgeschichte aufgeht. In der Adenauerzeit wandelten zahlreiche ehemalige Nazis auf Bonner Behördenfluren. Im Schatten des Kalten Krieges, als die kommunistische Bedrohung beschworen wurde, trieben kaum beachtete rechte Terrorgruppen ihr Unwesen. Antisemitische und rassistische Anschläge werden bis heute verübt. Nach Angaben des Bundeskriminalamts hat es dabei seit 1990 109 Tote gegeben. Das spricht für eine Kontinuität rechten Denkens und Handelns in Deutschland. Vor kurzem hat Jürgen Habermas vor dem "Wiederaufleben des Rechtsextremismus" gewarnt. Wo also ist die heilsame Kraft der Aufarbeitung zu spüren?
Neiman erwähnt diese Kritik natürlich, beharrt aber auf deutschen Errungenschaften, die sie mit der Situation in den Vereinigten Staaten kontrastiert: Es gibt eine hohe Aufmerksamkeit für die Opfer in der Geschichte. Antisemitische Vorfälle mobilisieren regelmäßig öffentlichen Protest. Es existieren keine Denkmäler, die Nazis rühmen, weil sie Nazis waren.
In den Abschnitten des Buches, die sich mit der Rassentrennung in Amerika befassen, zeichnet die Autorin dagegen ein düsteres Bild. Auf ihrer Reise durch den Süden der Vereinigten Staaten findet sie jeden Ort, den sie durchquert, mit Rassismus verbunden. Tatsächlich beendete der Sieg der Union im Bürgerkrieg 1865 zwar die Sklaverei, die aber durch neue Formen der Leibeigenschaft ersetzt wurde. Durch grausame Lynchmorde kamen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Tausende zu Tode, die nicht weiß waren. Der Mythos, die Südstaaten hätten im Bürgerkrieg vor allem für ihre Freiheit und nicht für die fortdauernde Gefangenschaft von beinahe vier Millionen Schwarzen gekämpft, lebt immer noch fort. Symbol dieser Lost Cause ist die Konföderiertenflagge, mit der - so schließt sich der Kreis - auch der Attentäter von Charleston posierte.
Auch hier ließe sich wieder Wasser in den von der Autorin servierten, wegen der bedrückenden Befunde recht sauren Wein gießen, doch das ginge an der richtigen Intention des Buches vorbei. Indem Neiman die deutsche und amerikanische Erinnerungskultur einander gegenüberstellt, setzt sie Holocaust und Segregation nicht gleich, sondern ruft dazu auf, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Auch Barack Obama interessierte sich bei einem Besuch in Buchenwald dafür, welche Botschaften KZ-Gedenkstätten für ein zu gründendes nationales Museum der Sklaverei in den Vereinigten Staaten bereithielten (das bis heute nicht existiert).
Auf ihrem Weg entdeckt Neiman interessante Parallelen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, etwa das lange Schweigen oder das mühsame Ringen Einzelner um Aufklärung. Zu leicht wird heute vergessen, dass auch die deutsche Erinnerungslandschaft maßgeblich auf zivilgesellschaftlichen Initiativen basierte, die Orte des NS-Terrors mühsam ins öffentliche Bewusstsein hoben. Staatliche Unterstützung kam erst später. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich heute in den Vereinigten Staaten ab. Privatleute restaurieren Sklavenunterkünfte, neue Museen und Gedenkstätten klären über Rassismus auf, ebenso wie Organisationen, die sich auch für Bildung abgehängter Bevölkerungsgruppen einsetzen. Es gibt also Hoffnung.
Wenig überzeugend ist dagegen das Kapitel zur Erinnerungspolitik der DDR geraten, in dem Neiman beweisen will, dass die DDR der Bundesrepublik in Sachen Aufarbeitung voraus war. Zweifellos waren manche Kommunisten - vor allem in der Frühphase der DDR - von hehren Absichten getrieben. Dennoch illustriert eine zitierte SED-Verlautbarung von 1949, die Faschismus und Rassenhass den Kampf ansagt, vor allem die hochgradig ideologisierte Sprache der DDR, in der Antifaschismus eine vorgeschriebene Grundhaltung mit staatslegitimierender Funktion war. Auch in der DDR kam es zu ausländerfeindlicher Gewalt, die es nicht geben durfte und die deshalb weitgehend unbekannt geblieben ist. Das KZ Buchenwald, das Neiman als Beispiel für einen verantwortungsvollen Umgang der DDR mit der NS-Vergangenheit nennt, zeigt die deutlichen Grenzen der Aufarbeitung. Es war als Museum des kommunistischen Widerstandes konzipiert und steht damit für eine Gedenkkultur, in der die Juden bis tief in die 1980er Jahre am unteren Ende der Opferhierarchie standen.
Insgesamt wirft Neimans Reise zahlreiche Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss. Wie weit reicht die Verpflichtung zurück, Reparationen für Gewalt und Unrecht zu leisten? Welche Ideen gibt es, eine erstarrte Gedenkkultur zu revitalisieren? Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Überwindung begrenzter Weltanschauungen. Es belegt, dass die Vergangenheit, so fern sie zu sein scheint, uns plötzlich ganz nah rücken kann.
CHRISTOPH NÜBEL
Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020. 576 S., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Umgang mit Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und den Vereinigten Staaten
Die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus ist ein Skandal. Sie erzählt von millionenfachem Leid und Tod, von Vertuschung und zögerlicher Aufarbeitung. Angesichts dieser Tatsachen ist es erschütternd, dass Antisemitismus und Rassismus auch in der Gegenwart sichtbar sind. Nach dem Massaker von Charleston 2015, bei dem ein weißer Amerikaner neun Afroamerikaner ermordete, beschloss Susan Neiman, ein Buch zu schreiben. Es nimmt die deutsche "Vergangenheitsaufarbeitung" als Beispiel, um den Umgang mit Rassismus in den Vereinigten Staaten zu beleuchten.
Neiman erzählt darin auch ihre eigene Geschichte. Sie ist eine politisch engagierte Jüdin, die in Atlanta aufgewachsen ist und heute als Philosophin in Berlin lebt. Es ist ein persönliches Buch geworden, in dem die Autorin ihre kosmopolitischen Überzeugungen deutlich macht und zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen lässt. Entstanden ist es während eines Roadtrips durch Deutschland und den Süden der Vereinigten Staaten, wo Neiman erinnerungspolitisch engagierten Bürgern begegnete. In Gestalt einer Gruppe amerikanischer Laiendarsteller, die Bürgerkriegssoldaten mimen, oder dem Brandenburger AfD-Vorsitzenden kommen gelegentlich auch jene zu Wort, die kein Interesse daran haben, sich der Vergangenheit kritisch zu stellen. Der Text gewinnt damit zwar an Multiperspektivität, wird jedoch streckenweise repetitiv und hat deutliche Längen.
Das Buch basiert auf drei Prämissen: Die nicht aufgearbeitete Vergangenheit sitzt wie ein Stachel im Fleisch der Gegenwart. Der vergangenheitspolitische Weg Deutschlands ist ein Erfolg. Er ist beispielgebend. Nicht jeder wird diesen Voraussetzungen zustimmen wollen. So ist fraglich, ob der deutsche Umgang mit der Vergangenheit in einer Fortschrittsgeschichte aufgeht. In der Adenauerzeit wandelten zahlreiche ehemalige Nazis auf Bonner Behördenfluren. Im Schatten des Kalten Krieges, als die kommunistische Bedrohung beschworen wurde, trieben kaum beachtete rechte Terrorgruppen ihr Unwesen. Antisemitische und rassistische Anschläge werden bis heute verübt. Nach Angaben des Bundeskriminalamts hat es dabei seit 1990 109 Tote gegeben. Das spricht für eine Kontinuität rechten Denkens und Handelns in Deutschland. Vor kurzem hat Jürgen Habermas vor dem "Wiederaufleben des Rechtsextremismus" gewarnt. Wo also ist die heilsame Kraft der Aufarbeitung zu spüren?
Neiman erwähnt diese Kritik natürlich, beharrt aber auf deutschen Errungenschaften, die sie mit der Situation in den Vereinigten Staaten kontrastiert: Es gibt eine hohe Aufmerksamkeit für die Opfer in der Geschichte. Antisemitische Vorfälle mobilisieren regelmäßig öffentlichen Protest. Es existieren keine Denkmäler, die Nazis rühmen, weil sie Nazis waren.
In den Abschnitten des Buches, die sich mit der Rassentrennung in Amerika befassen, zeichnet die Autorin dagegen ein düsteres Bild. Auf ihrer Reise durch den Süden der Vereinigten Staaten findet sie jeden Ort, den sie durchquert, mit Rassismus verbunden. Tatsächlich beendete der Sieg der Union im Bürgerkrieg 1865 zwar die Sklaverei, die aber durch neue Formen der Leibeigenschaft ersetzt wurde. Durch grausame Lynchmorde kamen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Tausende zu Tode, die nicht weiß waren. Der Mythos, die Südstaaten hätten im Bürgerkrieg vor allem für ihre Freiheit und nicht für die fortdauernde Gefangenschaft von beinahe vier Millionen Schwarzen gekämpft, lebt immer noch fort. Symbol dieser Lost Cause ist die Konföderiertenflagge, mit der - so schließt sich der Kreis - auch der Attentäter von Charleston posierte.
Auch hier ließe sich wieder Wasser in den von der Autorin servierten, wegen der bedrückenden Befunde recht sauren Wein gießen, doch das ginge an der richtigen Intention des Buches vorbei. Indem Neiman die deutsche und amerikanische Erinnerungskultur einander gegenüberstellt, setzt sie Holocaust und Segregation nicht gleich, sondern ruft dazu auf, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Auch Barack Obama interessierte sich bei einem Besuch in Buchenwald dafür, welche Botschaften KZ-Gedenkstätten für ein zu gründendes nationales Museum der Sklaverei in den Vereinigten Staaten bereithielten (das bis heute nicht existiert).
Auf ihrem Weg entdeckt Neiman interessante Parallelen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, etwa das lange Schweigen oder das mühsame Ringen Einzelner um Aufklärung. Zu leicht wird heute vergessen, dass auch die deutsche Erinnerungslandschaft maßgeblich auf zivilgesellschaftlichen Initiativen basierte, die Orte des NS-Terrors mühsam ins öffentliche Bewusstsein hoben. Staatliche Unterstützung kam erst später. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich heute in den Vereinigten Staaten ab. Privatleute restaurieren Sklavenunterkünfte, neue Museen und Gedenkstätten klären über Rassismus auf, ebenso wie Organisationen, die sich auch für Bildung abgehängter Bevölkerungsgruppen einsetzen. Es gibt also Hoffnung.
Wenig überzeugend ist dagegen das Kapitel zur Erinnerungspolitik der DDR geraten, in dem Neiman beweisen will, dass die DDR der Bundesrepublik in Sachen Aufarbeitung voraus war. Zweifellos waren manche Kommunisten - vor allem in der Frühphase der DDR - von hehren Absichten getrieben. Dennoch illustriert eine zitierte SED-Verlautbarung von 1949, die Faschismus und Rassenhass den Kampf ansagt, vor allem die hochgradig ideologisierte Sprache der DDR, in der Antifaschismus eine vorgeschriebene Grundhaltung mit staatslegitimierender Funktion war. Auch in der DDR kam es zu ausländerfeindlicher Gewalt, die es nicht geben durfte und die deshalb weitgehend unbekannt geblieben ist. Das KZ Buchenwald, das Neiman als Beispiel für einen verantwortungsvollen Umgang der DDR mit der NS-Vergangenheit nennt, zeigt die deutlichen Grenzen der Aufarbeitung. Es war als Museum des kommunistischen Widerstandes konzipiert und steht damit für eine Gedenkkultur, in der die Juden bis tief in die 1980er Jahre am unteren Ende der Opferhierarchie standen.
Insgesamt wirft Neimans Reise zahlreiche Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss. Wie weit reicht die Verpflichtung zurück, Reparationen für Gewalt und Unrecht zu leisten? Welche Ideen gibt es, eine erstarrte Gedenkkultur zu revitalisieren? Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Überwindung begrenzter Weltanschauungen. Es belegt, dass die Vergangenheit, so fern sie zu sein scheint, uns plötzlich ganz nah rücken kann.
CHRISTOPH NÜBEL
Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020. 576 S., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2020Langes Scheitern
In Sachen Vergangenheitsbewältigung können die USA
von Deutschland einiges lernen, schreibt die Philosophin Susan Neiman
VON FABIAN WOLFF
Wenige Tage vor der Wahl zum US-Präsidenten 2016 ging auf Twitter ein sarkastisches Meme umher. Das „deutsche Volk“ wandte sich in einem offenen Brief an die Amerikaner: „Wählt ruhig den Typen, der Minderheiten hasst und mit lauter Stimme verkündet, er könnte als einziger das Land retten. Was soll schon schiefgehen?“, gefolgt vom Hashtag #beentheredonethat – das hatten wir schon mal.
In Deutschland fanden das viele witzig, manche arrogant, einige sahen darin bizarrerweise Verharmlosung der Shoah. In den USA hingegen kam der Hashtag gut an: weil er den Imperativ, vor allem gegen Trump zu stimmen, so deutlich machte, und weil es so skurril, ironisch oder dialektisch war, dass jetzt ausgerechnet Deutschland die Welt zusammenhält, wenn auch nicht genesen lässt. Autokratenforscher zukünftiger Generationen werden vielleicht sagen können, wem Trump denn jetzt wirklich ähnelt – Ceaușescu hatte immerhin einen ähnlich geschmacklosen Palast – aber bis dahin scheinen das Dritte Reich und der Nationalsozialismus die offensichtlichsten und auch ergiebigsten Folien zu sein, um die beschworene Amerikanische Tragödie zu verstehen.
„Von den Deutschen lernen“ von Susan Neiman scheint auf einem ähnlichen Vergleich aufzubauen, aber die Philosophin hat kein Buch über Trump und den Zerfall der Demokratie geschrieben. Das Buch, begonnen unter Obama, legt den Umgang mit dem Erbe und der steten Präsenz von Rassismus in den USA und der Erinnerung an die Shoah in Deutschland nebeneinander, mit eindeutigem Impuls: die Deutschen machen es richtig, wir machen es falsch. Der Kernbegriff ist die „Vergangenheitsaufarbeitung“ – im englischen Original kommt das Wort, als wäre es eine Kant-Vokabel, oft kursiv unübersetzt vor – die Deutschland mit Bravour und die USA überhaupt nicht geleistet habe.
Um das zu beweisen, vollzieht sie Debatten nach, verknüpft Anekdoten und Momentaufnahmen und durchmisst deutsche und amerikanische Erinnerungskulturen. Immer wieder grundiert sie diese Streifzüge mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem eigenen Selbstverständnis als amerikanische Jüdin, (nicht aus einer der vermeintlich liberalen Großstädte, sondern aus dem Süden, aus Atlanta) die in ihrem Leben zweimal versucht hat, in Berlin zu leben. Der zweite, erfolgreichere Versuch hält an, seit 2000 ist sie Direktorin am Einstein Forum in Potsdam.
Ihr Buch, von Christina Goldmann ins Deutsche übersetzt, ist für ein Lesepublikum geschrieben, das in dieser Herkunft und diesem Weg etwas vage Exotisches erkennt und für die das Konzept „Jew in Germany“ immer auch wie ein finsterer Witz klingt – und die gleichzeitig bewundernd feststellen, dass es die überhaupt wieder gibt, Jews in Germany. Einige von ihnen lässt Neiman zu Wort kommen, ebenso wie selbstkritische Deutsche. Diese journalistischen Passagen wechseln sich ab mit argumentativen Teilen, in denen die konkrete Aufarbeitungsgeschichte als politischer und juristischer Prozess dargestellt wird, in West- wie in Ostdeutschland. Trotz des bekannten bis sehr bekannten Terrains sind diese Kapitel anregende Lektüre, vor allem wegen Neimans Auswahl an Interviewpartnern: darunter die Arendt-Expertin Bettina Stangneth, Jan Philipp Reemtsma in seiner Funktion als Organisator der Wehrmachtsausstellungen und die immer brillante Cilly Kugelmann, ehemalige Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin.
Die journalistischen Passagen sind eine Fortsetzung eines vor allem in den Neunzigern sehr vitalen Genres der intellektuellen Non-Fiction, in der skeptische jüdische Journalisten aus den USA das neue Deutschland durchwanderten und selten mochten, was sie sahen: Bücher wie Ron Rosenbaums wunderbares „Explaining Hitler“, das beißend deutsche Debatten über die Natur des Bösen an sich und der Nazis im Speziellen zerlegte. Neiman ist ungleich milder im Ton, etwas näher dran an sympathisierenden Deutschlandverstehern wie Neil MacGregor und Christopher Clark. Sie sieht dieselben Widersprüche, Verfehlungen und Neurosen wie Ron Rosenbaum, und würde auch nicht behaupten, dass die so gelobte working-off-the-past der Deutschen perfekt sei. Trotzdem fällt sie immer wieder auf einen rhetorischen Kniff zurück: in den USA sei es ja schließlich viel schlimmer.
Und das ist es auch. Amerikanische Erinnerungskultur ist in der Darstellung von Neiman ein Vakuum, oder, in Form von Statuen für Helden der Konföderierten, eine Pervertierung. Die Kapitel zu den Südstaaten sind atmosphärisch dichter als die zu Deutschland und funktionieren wie politische Reportagen: Neiman konzentriert sich auf Mississippi, das natürlich Trump Country ist, aber wie alle Südstaaten auch tief verwurzelte, und verwundete, schwarze Gemeinschaften hat. Dabei legt sie auch die Pathologie des Lost Cause dar, in der die Niederlage der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg zur Tragödie und seine Soldaten zu verfluchten Heroen verklärt werden, die nicht etwa für den Erhalt von Sklaverei als Gesellschafts- und Wirtschaftsform gekämpft haben, sondern einfach für den Stolz ihrer Heimat. In Mississippi wurde noch 1955, neunzig Jahre nach dem Ende der Sklaverei, Emmett Till, ein 14-jähriger schwarzer Junge auf Familienbesuch aus Chicago, von weißen Männern gelyncht weil er mit einer jungen weißen Frau gesprochen, sie eventuell auch nur angesehen hatte.
Schon diese zeitliche Dimension macht klar, dass es bei der amerikanischen Vergangenheitsbewältigung um mehr geht als „Sklaverei“. Auch das folgende Scheitern der Reconstruction, Jim Crow, Redlining und Polizeigewalt werden bei Neiman allesamt als Teil einer langen Rassismusgeschichte verstanden. Diese Erweiterung des historischen Blicks ist zu großen Teilen dem Journalisten und Essayisten Ta-Nehisi Coates zu verdanken, der es sogar geschafft hat, das Tabuwort „Reparationen“ in den Diskurs zu bringen. Auch wenn noch nicht alle verstehen, dass er in erster Linie Reparationen für die gezielte Ausgrenzung und Zerstörung von schwarzem wirtschaftlichen Leben nach dem Ende der Sklaverei meint.
Schon Coates führte in seinem Text „The Case For Reparations“ im Atlantic die Zahlungen von der BRD an den jungen Staat Israel als gelungenes Beispiel an. Dabei berührt diese, vor allem finanzielle Form der Schuldaufarbeitung, nicht den eigentlichen Konflikt.
Israel ist weit weg, die Juden ebenfalls. Deutsche Vergangenheitsaufarbeitung musste lange Jahre ohne real existierende Juden als Dialogpartner stattfinden, und die, die jetzt da sind, leiden unter der eingeübten Selbstbezogenheit der Deutschen. In den USA hingegen leben Weiß und Schwarz – historisch: die Täter und die Opfer – neben-, teilweise miteinander, gleichzeitig ist „schwarz“ eine historisch fluidere Kategorie als „jüdisch“. Solche Unterschiede sind essenziell, und sie verhindern, dass dem Vergleich zwischen den USA und Deutschland auch konkrete Handlungsempfehlungen folgen können. Als Gegenwartsbeschreibung strauchelt das Buch.
Gerade beginnt in Deutschland das längst überfällige laute Sprechen über Rassismus und Weiß-sein als zerstörerische, aber konstituierende Macht. Das zeigt, dass die Aufarbeitung der vergangenen Schuld keine Gesellschaft mit Bewusstsein für Ausgrenzung und Diskriminierung jenseits des sowohl engen als auch unvorstellbar tödlichem Kontext der Shoah geschaffen hat, und die Kolonialismusgeschichte fast gänzlich ausgespart wurde. Obwohl schon der englische Untertitel ihres Buches auf „race“ als Konzept verweist, hat Neiman dazu nicht viel zu sagen. Sie trifft Andreas Kalbitz, damals noch in der AfD, und geht auf Björn Höckes Rede vom „Denkmal der Schande“ ein. Der NSU taucht am Rande auf. Ihre Position zu deutschem Rassismus bezeichnet sie treffend als „das Glas ist halbvoll“.
Aus den USA-Kapiteln hingegen spricht vorsichtige Ablehnung allzu „identitätspolitischer“ Positionen, in denen zum Beispiel „schwarz“ eine politisch-soziale Größe und kein bloßer Nebenwiderspruch ist. Im Gegensatz zu anderen Liberalen wie Mark Lilla packt Neiman nicht das Hufeisen aus, schaut aber zum Beispiel mit Unwohlsein auf die Kontroverse um das Gemälde „Open Casket“ der weißen Malerin Dana Schutz, das den Leichnam von Emmett Till zeigt und im Jahr 2016 als weiße Aneignung und Kapitalisierung von schwarzem Schmerz verurteilt wurde. Dabei kann sich Neiman die Bemerkung nicht verkneifen, dass die Autorin des offenen Briefes gegen die Ausstellung, Hannah Black, „eine in Berlin lebende afrobritische Künstlerin” sei, mit dem Unterton, dass sie als solche auch selbst keine organische Verbindung zu Emmett Tills Leiden hätte.
Neimans Argumente und ihr Unwohlsein werden zurzeit aktuell fast täglich von der Realität, vielleicht auch von der Geschichte, überholt. Denn es gibt in den USA und weltweit tatsächlich gerade eine Bewegung, die auf der Straße für eine andere Erinnerungskultur kämpft und dabei immer größere Erfolge erzielt, aus einer explizit „identitätspolitischen“ Perspektive heraus, die der black lives. Sie stürzen Statuen und, so die Hoffnung, eine alte Gesellschaft um – unter Umgehung und Überschreitung der liberalen Normen, die Neiman zur Grundlage ihres Lobs der Wiedergutwerdung der Deutschen macht. Vermutlich ist aber gerade von eben diesen Protesten zu lernen, und nicht von den Deutschen.
Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2020. 576 Seiten, 28 Euro.
Zurzeit werden Neimans
Argumente fast stündlich
von der Realität überholt
In den USA hörte die Benachteiligung der Afroamerikaner nach dem Ende der Sklaverei noch lange nicht auf, vor allem im Süden des Landes sind die Gräben teilweise noch immer tief: Szene einer „Black Lives Matter“-Demonstration in Florida.
Foto: LAWRENCE BRYANT/reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Sachen Vergangenheitsbewältigung können die USA
von Deutschland einiges lernen, schreibt die Philosophin Susan Neiman
VON FABIAN WOLFF
Wenige Tage vor der Wahl zum US-Präsidenten 2016 ging auf Twitter ein sarkastisches Meme umher. Das „deutsche Volk“ wandte sich in einem offenen Brief an die Amerikaner: „Wählt ruhig den Typen, der Minderheiten hasst und mit lauter Stimme verkündet, er könnte als einziger das Land retten. Was soll schon schiefgehen?“, gefolgt vom Hashtag #beentheredonethat – das hatten wir schon mal.
In Deutschland fanden das viele witzig, manche arrogant, einige sahen darin bizarrerweise Verharmlosung der Shoah. In den USA hingegen kam der Hashtag gut an: weil er den Imperativ, vor allem gegen Trump zu stimmen, so deutlich machte, und weil es so skurril, ironisch oder dialektisch war, dass jetzt ausgerechnet Deutschland die Welt zusammenhält, wenn auch nicht genesen lässt. Autokratenforscher zukünftiger Generationen werden vielleicht sagen können, wem Trump denn jetzt wirklich ähnelt – Ceaușescu hatte immerhin einen ähnlich geschmacklosen Palast – aber bis dahin scheinen das Dritte Reich und der Nationalsozialismus die offensichtlichsten und auch ergiebigsten Folien zu sein, um die beschworene Amerikanische Tragödie zu verstehen.
„Von den Deutschen lernen“ von Susan Neiman scheint auf einem ähnlichen Vergleich aufzubauen, aber die Philosophin hat kein Buch über Trump und den Zerfall der Demokratie geschrieben. Das Buch, begonnen unter Obama, legt den Umgang mit dem Erbe und der steten Präsenz von Rassismus in den USA und der Erinnerung an die Shoah in Deutschland nebeneinander, mit eindeutigem Impuls: die Deutschen machen es richtig, wir machen es falsch. Der Kernbegriff ist die „Vergangenheitsaufarbeitung“ – im englischen Original kommt das Wort, als wäre es eine Kant-Vokabel, oft kursiv unübersetzt vor – die Deutschland mit Bravour und die USA überhaupt nicht geleistet habe.
Um das zu beweisen, vollzieht sie Debatten nach, verknüpft Anekdoten und Momentaufnahmen und durchmisst deutsche und amerikanische Erinnerungskulturen. Immer wieder grundiert sie diese Streifzüge mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem eigenen Selbstverständnis als amerikanische Jüdin, (nicht aus einer der vermeintlich liberalen Großstädte, sondern aus dem Süden, aus Atlanta) die in ihrem Leben zweimal versucht hat, in Berlin zu leben. Der zweite, erfolgreichere Versuch hält an, seit 2000 ist sie Direktorin am Einstein Forum in Potsdam.
Ihr Buch, von Christina Goldmann ins Deutsche übersetzt, ist für ein Lesepublikum geschrieben, das in dieser Herkunft und diesem Weg etwas vage Exotisches erkennt und für die das Konzept „Jew in Germany“ immer auch wie ein finsterer Witz klingt – und die gleichzeitig bewundernd feststellen, dass es die überhaupt wieder gibt, Jews in Germany. Einige von ihnen lässt Neiman zu Wort kommen, ebenso wie selbstkritische Deutsche. Diese journalistischen Passagen wechseln sich ab mit argumentativen Teilen, in denen die konkrete Aufarbeitungsgeschichte als politischer und juristischer Prozess dargestellt wird, in West- wie in Ostdeutschland. Trotz des bekannten bis sehr bekannten Terrains sind diese Kapitel anregende Lektüre, vor allem wegen Neimans Auswahl an Interviewpartnern: darunter die Arendt-Expertin Bettina Stangneth, Jan Philipp Reemtsma in seiner Funktion als Organisator der Wehrmachtsausstellungen und die immer brillante Cilly Kugelmann, ehemalige Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin.
Die journalistischen Passagen sind eine Fortsetzung eines vor allem in den Neunzigern sehr vitalen Genres der intellektuellen Non-Fiction, in der skeptische jüdische Journalisten aus den USA das neue Deutschland durchwanderten und selten mochten, was sie sahen: Bücher wie Ron Rosenbaums wunderbares „Explaining Hitler“, das beißend deutsche Debatten über die Natur des Bösen an sich und der Nazis im Speziellen zerlegte. Neiman ist ungleich milder im Ton, etwas näher dran an sympathisierenden Deutschlandverstehern wie Neil MacGregor und Christopher Clark. Sie sieht dieselben Widersprüche, Verfehlungen und Neurosen wie Ron Rosenbaum, und würde auch nicht behaupten, dass die so gelobte working-off-the-past der Deutschen perfekt sei. Trotzdem fällt sie immer wieder auf einen rhetorischen Kniff zurück: in den USA sei es ja schließlich viel schlimmer.
Und das ist es auch. Amerikanische Erinnerungskultur ist in der Darstellung von Neiman ein Vakuum, oder, in Form von Statuen für Helden der Konföderierten, eine Pervertierung. Die Kapitel zu den Südstaaten sind atmosphärisch dichter als die zu Deutschland und funktionieren wie politische Reportagen: Neiman konzentriert sich auf Mississippi, das natürlich Trump Country ist, aber wie alle Südstaaten auch tief verwurzelte, und verwundete, schwarze Gemeinschaften hat. Dabei legt sie auch die Pathologie des Lost Cause dar, in der die Niederlage der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg zur Tragödie und seine Soldaten zu verfluchten Heroen verklärt werden, die nicht etwa für den Erhalt von Sklaverei als Gesellschafts- und Wirtschaftsform gekämpft haben, sondern einfach für den Stolz ihrer Heimat. In Mississippi wurde noch 1955, neunzig Jahre nach dem Ende der Sklaverei, Emmett Till, ein 14-jähriger schwarzer Junge auf Familienbesuch aus Chicago, von weißen Männern gelyncht weil er mit einer jungen weißen Frau gesprochen, sie eventuell auch nur angesehen hatte.
Schon diese zeitliche Dimension macht klar, dass es bei der amerikanischen Vergangenheitsbewältigung um mehr geht als „Sklaverei“. Auch das folgende Scheitern der Reconstruction, Jim Crow, Redlining und Polizeigewalt werden bei Neiman allesamt als Teil einer langen Rassismusgeschichte verstanden. Diese Erweiterung des historischen Blicks ist zu großen Teilen dem Journalisten und Essayisten Ta-Nehisi Coates zu verdanken, der es sogar geschafft hat, das Tabuwort „Reparationen“ in den Diskurs zu bringen. Auch wenn noch nicht alle verstehen, dass er in erster Linie Reparationen für die gezielte Ausgrenzung und Zerstörung von schwarzem wirtschaftlichen Leben nach dem Ende der Sklaverei meint.
Schon Coates führte in seinem Text „The Case For Reparations“ im Atlantic die Zahlungen von der BRD an den jungen Staat Israel als gelungenes Beispiel an. Dabei berührt diese, vor allem finanzielle Form der Schuldaufarbeitung, nicht den eigentlichen Konflikt.
Israel ist weit weg, die Juden ebenfalls. Deutsche Vergangenheitsaufarbeitung musste lange Jahre ohne real existierende Juden als Dialogpartner stattfinden, und die, die jetzt da sind, leiden unter der eingeübten Selbstbezogenheit der Deutschen. In den USA hingegen leben Weiß und Schwarz – historisch: die Täter und die Opfer – neben-, teilweise miteinander, gleichzeitig ist „schwarz“ eine historisch fluidere Kategorie als „jüdisch“. Solche Unterschiede sind essenziell, und sie verhindern, dass dem Vergleich zwischen den USA und Deutschland auch konkrete Handlungsempfehlungen folgen können. Als Gegenwartsbeschreibung strauchelt das Buch.
Gerade beginnt in Deutschland das längst überfällige laute Sprechen über Rassismus und Weiß-sein als zerstörerische, aber konstituierende Macht. Das zeigt, dass die Aufarbeitung der vergangenen Schuld keine Gesellschaft mit Bewusstsein für Ausgrenzung und Diskriminierung jenseits des sowohl engen als auch unvorstellbar tödlichem Kontext der Shoah geschaffen hat, und die Kolonialismusgeschichte fast gänzlich ausgespart wurde. Obwohl schon der englische Untertitel ihres Buches auf „race“ als Konzept verweist, hat Neiman dazu nicht viel zu sagen. Sie trifft Andreas Kalbitz, damals noch in der AfD, und geht auf Björn Höckes Rede vom „Denkmal der Schande“ ein. Der NSU taucht am Rande auf. Ihre Position zu deutschem Rassismus bezeichnet sie treffend als „das Glas ist halbvoll“.
Aus den USA-Kapiteln hingegen spricht vorsichtige Ablehnung allzu „identitätspolitischer“ Positionen, in denen zum Beispiel „schwarz“ eine politisch-soziale Größe und kein bloßer Nebenwiderspruch ist. Im Gegensatz zu anderen Liberalen wie Mark Lilla packt Neiman nicht das Hufeisen aus, schaut aber zum Beispiel mit Unwohlsein auf die Kontroverse um das Gemälde „Open Casket“ der weißen Malerin Dana Schutz, das den Leichnam von Emmett Till zeigt und im Jahr 2016 als weiße Aneignung und Kapitalisierung von schwarzem Schmerz verurteilt wurde. Dabei kann sich Neiman die Bemerkung nicht verkneifen, dass die Autorin des offenen Briefes gegen die Ausstellung, Hannah Black, „eine in Berlin lebende afrobritische Künstlerin” sei, mit dem Unterton, dass sie als solche auch selbst keine organische Verbindung zu Emmett Tills Leiden hätte.
Neimans Argumente und ihr Unwohlsein werden zurzeit aktuell fast täglich von der Realität, vielleicht auch von der Geschichte, überholt. Denn es gibt in den USA und weltweit tatsächlich gerade eine Bewegung, die auf der Straße für eine andere Erinnerungskultur kämpft und dabei immer größere Erfolge erzielt, aus einer explizit „identitätspolitischen“ Perspektive heraus, die der black lives. Sie stürzen Statuen und, so die Hoffnung, eine alte Gesellschaft um – unter Umgehung und Überschreitung der liberalen Normen, die Neiman zur Grundlage ihres Lobs der Wiedergutwerdung der Deutschen macht. Vermutlich ist aber gerade von eben diesen Protesten zu lernen, und nicht von den Deutschen.
Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Übersetzt aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2020. 576 Seiten, 28 Euro.
Zurzeit werden Neimans
Argumente fast stündlich
von der Realität überholt
In den USA hörte die Benachteiligung der Afroamerikaner nach dem Ende der Sklaverei noch lange nicht auf, vor allem im Süden des Landes sind die Gräben teilweise noch immer tief: Szene einer „Black Lives Matter“-Demonstration in Florida.
Foto: LAWRENCE BRYANT/reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Neiman schafft es auf eine furchtlose und graziöse Art, sich zwischen sämtliche Stühle zu setzen." Michael Maar, Deutschlandfunk Kultur, 1.12.2020
"Die Autorin nimmt die Leserinnen und Leser mit auf Reportagen. Sie führt sie ebenso leichtfüßig durch die deutsche Provinz wie durch die Südstaaten der USA. Hier wie dort gibt sie Einblicke in das Alltagsleben von Menschen, die mit der Last der Vergangenheit kämpfen." Sabine Bitter, SRF, 05.11.2020
"Ein wirklich starkes Buch." Lukas Hammerstein, Bayern 2, 24.09.2020
"Susan Neimans Buch 'Von den Deutschen lernen' liest sich wie ein Kommentar zur Stunde. [...] Vor allem hat Neiman überaus lesenswerte Zeitzeugen-Interviews geführt, mit denen sie den Spuren der Aufarbeitung in Ost wie West folgt [...]. Entstanden ist so ein wirklich spannender und ungewöhnlicher Blick auf deutsche Geschichtsaufarbeitung." Katrin Wenzel, MDR Kultur, 18.07.2020
"Was die Philosophin mit ihrem Buch anregen möchte, ist, die Wahrheitssuche beim Umgang mit der jeweils eigenen Gewaltgeschichte als 'eine Einübung in Universalismus' zu verstehen. Wie Reemtsma zielt sie auf eine supranationale Auseinandersetzung mit Gewalt, eine Auseinandersetzung, die ohne moralpolitische Leitlinien nicht auskommt. Unabdingbar, so kann man sie verstehen, gerade in heutigen Zeiten grassierender Identitätspolitiken. [...] absolut anregend und lehrreich." Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 21.06.2020
"Susan Neimans Buch ist eine eindrucksvolle vergleichende Ethnographie der Vergangenheitsaufarbeitung. Wirksam kann ein solcher Vergleich nur werden, wenn er sich an Maßstab gebenden universellen Prinzipien orientiert. Diese Prinzipien findet Susan Neiman in der Philosophie der Aufklärung und nicht zuletzt in Kants 'Metaphysik der universellen Gerechtigkeit'." Wolf Lepenies, Die Welt, 04.04.2020
"Neiman, die Philosophin, ist die Meisterin im Erkennen der feinen Unterschiede. Das zeichnet sie als Denkerin aus. [...] Sie erzählt in ihrem äußerst lesenswerten Buch, wie sie nach Mississippi reiste, um dort den Wurzeln des Rassismus nachzuspüren. [...] Der Rassismus und die Gewalt seien in der amerikanischen Geschichte verharmlost und verschwiegen worden. Das sei ein großer Fehler, findet die Philosophin: 'Hier können wir von den Deutschen lernen', sagt sie." Michael Hesse, Kölner Stadt-Anzeiger, 15.03.2020
"'Von den Deutschen lernen' zielt vor allem auf die deutsche Erinnerungskultur ab. Der Umgang mit dem Bösen, sagt sie, sei ein zutiefst philosophisches Problem und könne doch nicht allein abstrakt gelöst werden. Also verwebt die Autorin Analytisches und Anekdotisches." Ronald Düker, Philosophie Magazin, 3/2020
"Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Überwindung begrenzter Weltanschauungen. Es belegt, dass die Vergangenheit, sofern sie zu sein scheint, uns plötzlich ganz nah rücken kann." Christoph Nübel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2020
"Zur Vorbereitung des Buches verbrachte Susan Neiman vor drei Jahren ein Sabbatical in Mississippi und nutzte es für eine bemerkenswerte Feldstudie, die von ihrer tief empfundenen politischen Berufung der Philosophie zeugt. [...] 'Von den Deutschen lernen' ist eine zeitgeschichtliche Untersuchung des Umgangs mit dem Holocaust in Deutschland und mit dem Rassismus in Amerika." Harald Loch, Augsburger Allgemeine, 5.5.2020
"Die Autorin nimmt die Leserinnen und Leser mit auf Reportagen. Sie führt sie ebenso leichtfüßig durch die deutsche Provinz wie durch die Südstaaten der USA. Hier wie dort gibt sie Einblicke in das Alltagsleben von Menschen, die mit der Last der Vergangenheit kämpfen." Sabine Bitter, SRF, 05.11.2020
"Ein wirklich starkes Buch." Lukas Hammerstein, Bayern 2, 24.09.2020
"Susan Neimans Buch 'Von den Deutschen lernen' liest sich wie ein Kommentar zur Stunde. [...] Vor allem hat Neiman überaus lesenswerte Zeitzeugen-Interviews geführt, mit denen sie den Spuren der Aufarbeitung in Ost wie West folgt [...]. Entstanden ist so ein wirklich spannender und ungewöhnlicher Blick auf deutsche Geschichtsaufarbeitung." Katrin Wenzel, MDR Kultur, 18.07.2020
"Was die Philosophin mit ihrem Buch anregen möchte, ist, die Wahrheitssuche beim Umgang mit der jeweils eigenen Gewaltgeschichte als 'eine Einübung in Universalismus' zu verstehen. Wie Reemtsma zielt sie auf eine supranationale Auseinandersetzung mit Gewalt, eine Auseinandersetzung, die ohne moralpolitische Leitlinien nicht auskommt. Unabdingbar, so kann man sie verstehen, gerade in heutigen Zeiten grassierender Identitätspolitiken. [...] absolut anregend und lehrreich." Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 21.06.2020
"Susan Neimans Buch ist eine eindrucksvolle vergleichende Ethnographie der Vergangenheitsaufarbeitung. Wirksam kann ein solcher Vergleich nur werden, wenn er sich an Maßstab gebenden universellen Prinzipien orientiert. Diese Prinzipien findet Susan Neiman in der Philosophie der Aufklärung und nicht zuletzt in Kants 'Metaphysik der universellen Gerechtigkeit'." Wolf Lepenies, Die Welt, 04.04.2020
"Neiman, die Philosophin, ist die Meisterin im Erkennen der feinen Unterschiede. Das zeichnet sie als Denkerin aus. [...] Sie erzählt in ihrem äußerst lesenswerten Buch, wie sie nach Mississippi reiste, um dort den Wurzeln des Rassismus nachzuspüren. [...] Der Rassismus und die Gewalt seien in der amerikanischen Geschichte verharmlost und verschwiegen worden. Das sei ein großer Fehler, findet die Philosophin: 'Hier können wir von den Deutschen lernen', sagt sie." Michael Hesse, Kölner Stadt-Anzeiger, 15.03.2020
"'Von den Deutschen lernen' zielt vor allem auf die deutsche Erinnerungskultur ab. Der Umgang mit dem Bösen, sagt sie, sei ein zutiefst philosophisches Problem und könne doch nicht allein abstrakt gelöst werden. Also verwebt die Autorin Analytisches und Anekdotisches." Ronald Düker, Philosophie Magazin, 3/2020
"Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Überwindung begrenzter Weltanschauungen. Es belegt, dass die Vergangenheit, sofern sie zu sein scheint, uns plötzlich ganz nah rücken kann." Christoph Nübel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.5.2020
"Zur Vorbereitung des Buches verbrachte Susan Neiman vor drei Jahren ein Sabbatical in Mississippi und nutzte es für eine bemerkenswerte Feldstudie, die von ihrer tief empfundenen politischen Berufung der Philosophie zeugt. [...] 'Von den Deutschen lernen' ist eine zeitgeschichtliche Untersuchung des Umgangs mit dem Holocaust in Deutschland und mit dem Rassismus in Amerika." Harald Loch, Augsburger Allgemeine, 5.5.2020