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Was haben Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, ein Fenster in einem Büroturm und ein Poncho gemeinsam? Auf den ersten Blick so gut wie nichts, auf den zweiten jedoch etwas sehr Grundlegendes, das zudem allgegenwärtig ist: rechteckige Flächen. Unsere Welt ist voll von ihnen, aber weder die Natur noch unsere Einbildungskraft bringen sie hervor. Ausgehend von der Bildfläche, dem unsichtbaren Grund, der es Farbe und Linie gestattet, zum Bild zu werden, erkundet Manfred Sommer diese so elementare wie diskrete Figuration und damit zusammenhängende Phänomene wie Grenze und Saum, Rand und Rahmen,…mehr

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Produktbeschreibung
Was haben Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, ein Fenster in einem Büroturm und ein Poncho gemeinsam? Auf den ersten Blick so gut wie nichts, auf den zweiten jedoch etwas sehr Grundlegendes, das zudem allgegenwärtig ist: rechteckige Flächen. Unsere Welt ist voll von ihnen, aber weder die Natur noch unsere Einbildungskraft bringen sie hervor. Ausgehend von der Bildfläche, dem unsichtbaren Grund, der es Farbe und Linie gestattet, zum Bild zu werden, erkundet Manfred Sommer diese so elementare wie diskrete Figuration und damit zusammenhängende Phänomene wie Grenze und Saum, Rand und Rahmen, Gitter und Karos, Raster und Pixel. Er beschreibt ihre Genese, die in der Jungsteinzeit beginnt: Rechteckig werden hier erstmals Felder gepflügt, später Häuser gebaut und Stoffe gewoben - und die Bilder wandern aus den Höhlen an die weißen Wände, um dort mit dem offenen Fenster um den schönsten Blick zu konkurrieren. Von der Bildfläche ist eine faszinierende Reise durch unsere rektangulare Welt, mit überraschenden Abzweigungen, etwa zu einem Malerwettstreit in der Antike, Husserls Überlegungen zur Geometrie oder den Bayerischen Meisterschaften im Gespannpflügen. Sie lehrt uns, eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit neu zu sehen.

Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, I ausgeliefert werden.

Autorenporträt
Manfred Sommer, geboren 1945, war bis zu seiner Pensionierung 2010 Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist u. a. Herausgeber zahlreicher Schriften Hans Blumenbergs aus dem Nachlass.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.2016

Kommt Kultur denn um den rechten Winkel nicht herum?
Flächenkunde: Manfred Sommer sucht nach den Ursprüngen unseres Hangs zum Rechteck und wartet dabei mit bemerkenswerten Beschreibungen auf

Tafelbilder, Buchseiten, Notizblöcke, Computerbildschirme: Die Bildflächen und Schriftflächen, die uns permanent umgeben, weisen alle eine rechteckige Form auf. Diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt für Manfred Sommers umfassende Studie "Von der Bildfläche". Die von Sommer beschriebene universale "Herrschaft rechteckiger Flächigkeit" in der materiellen Kultur der Moderne ist für ihn ein Oberflächenphänomen, das auf einen viel fundamentaleren Sachverhalt verweist: Rektangularität als die prägende Form, in der wir überhaupt "wahrnehmen und denken, sprechen und fühlen, unsere Welt gestalten und unser Zusammenleben organisieren".

Das Rechteck gilt Sommer als eine "von uns gemachte Form von apriorischer Valenz". Es ist die Aufgabe einer "Gestaltgeschichte", den geschichtlichen Ausgangspunkt des Rektangulären aufzusuchen. Er findet ihn in der Frühgeschichte des Menschen: der Jungsteinzeit. Die neolithische Revolution setze eine "Kultur der Rektangularität" in Kraft. In der Jungsteinzeit werde nämlich der Übergang von einer runden Feldform des Ackers zu einer rechteckigen vollzogen, womit "Rechteckigkeit überhaupt erst in die Welt" gekommen sei. Nicht der vielfach von Philosophen überschätzte Handwerker, sondern der pflügende Landmann müsse deshalb als die zentrale kulturstiftende Figur ausgezeichnet werden. Sobald die agrarische Bearbeitung des Bodens der rechteckigen Fläche das Feld bereitet habe, fänden sich weitere Verfahren der Rektangularisierung ein: Der neolithische Hausbau, der rechteckige Wände einführt, und die jungsteinzeitliche Webkunst, die rechteckige Stoffbahnen produziert. Diese Verfahren des Pflügens, Flechtens und Webens hätten es erst erlaubt, dass die uns heute bekannten Bild- und Schreibflächen zu ihrer rechteckigen Form fanden.

Gestaltgeschichte ist für Sommer also Ursprungsgeschichte. Die Frage, wie der Mensch ursprünglich "auf die Bildfläche gekommen" ist, führt zu einer umwegigen Suche nach der Urszene der menschlichen Kultur, die alles Folgende ankündigt und im Kern schon enthält. Mit einer gleichsam heideggerschen Geste gilt es, zu zeigen, dass Bildgestaltung, Schriftsprache und Flächenberechnung "gleichen Ursprungs" sind, dass sich also die Totalität unserer Lebenswelt philosophisch in einem urgeschichtlichten Anfangspunkt versammeln lässt.

Im Hintergrund dieses Projekts steht das Bedürfnis einer anthropologischen Neubeschreibung des kulturschaffenden Menschen: Die Bildfläche des Künstlers, die Schreibfläche des Typographen, die Ebene des Geometers und sogar der Syllogismus (der hier tatsächlich als "Denkpflügen" charakterisiert wird) zeichnen uns laut Sommer alle als Erben jungsteinzeitlicher Rektangularisierungserfolge aus.

Wer Sommer diese "Konstitutionsgeschichte des Rechtecks" abnehmen möchte, steht vor einem Problem: Wie können jungsteinzeitliche agrarische Verfahren der Rektangularisierung noch heute eine "apriorische Valenz" aufweisen und eine "normative Kraft" ausüben? Die Übertragungskonzepte, die Sommer aufbietet, bleiben im Vergleich zu seinen erschöpfenden Rekonstruktionen der neolithischen Kultur merkwürdig vage: "Habitualisierung", "Sedimentierung" und "Tradition" hätten dazu geführt, dass die Lebenswelten der Jungsteinzeit noch die heutige Lebenswelt prägten und neolithische Kulturmuster noch Jahrtausende später "Selbstverständlichkeiten" darstellten.

Eine Schwierigkeit derartig weit aufgeklappter gestaltgeschichtlicher Großerzählungen besteht darin, dass den übergreifenden Prozessen keine spezifischen sozialen Akteure mehr zugeschrieben werden können. Die rechteckige Fläche ist hier ein fundamentales Formprinzip der menschlichen Kultur, das sich hinter dem Rücken aller Akteure auswirkt, dessen Lebenswelten es prägt. Damit gerät aus dem Blick, dass Rektangularisierung ein sozialer Prozess sein kann, der auf zurechenbaren Entscheidungen beruht, die wiederum einer kritischen Beurteilung ausgesetzt werden können - auch fundamentale Formbildungen sind kein seinsgeschichtliches Schicksal.

Blickt man etwa auf die Rektangularisierung der landwirtschaftlichen Flächen in der Moderne, kann man daran zweifeln, dass hier der Hinweis auf ein apriorisches Formrepertoire reicht, das am Ursprung der menschlichen Kultur steht. Es gab und gibt nämlich Formen der Landwirtschaft, die die Ondulationen der Landschaft aufnehmen und sich an den ungeraden Verlaufsformen des Bodens ausrichten: Die terrassenförmigen Hänge des südostasiatischen Reisanbaus sind hier nur ein Beispiel.

Wie der amerikanische Agrarhistoriker und Kulturanthropologe James C. Scott faktengesättigt herausgearbeitet hat, ist die massive Rektangularisierung der agrarischen und urbanen Lebenswelten keineswegs ein anthropologisches Faktum von apriorischer Valenz, sondern ein Produkt zentraler Herrschaftsverfahren moderner Politik. Im Rahmen einer modernen politisch-administrativ forcierten Neuordnung landwirtschaftlicher Flächen und urbaner Räume und einer ökonomisch-technologisch getriebenen Planung setzt sich die Rektangularisierung der ländlichen und städtischen Lebenswelten überhaupt erst durch.

Der sich daraus ergebende Einwand ist nicht, dass Sommers historische Erzählung die geschichtliche Empirie nur selektiv einbezieht (seinem philosophischen Projekt mag durchaus zugestanden werden, in einem hohen Maße typisierend und spekulativ zu verfahren), sondern vielmehr, dass hier im Kleide einer mit universalem Erklärungsanspruch auftretenden Anthropologie letztlich eine Ursprungsgeschichte der rechtwinkligen Kultur der europäischen Moderne erzählt wird. Es handelt sich um eine Tiefenerzählungen, die unsere Lebenswelt mit der anthropologischen Würde konstitutionsgeschichtlicher Unvermeidlichkeit ausstatten möchte.

Neben seiner Ursprungserzählung bietet Sommer auch eine ambitionierte Phänomenologie der rechteckigen Fläche, die er selbst "Flächenkunde" nennt. Diese mit bemerkenswerter Beschreibungskunst verfasste Formlogik rektangulärer Bildflächen ist nicht nur besser gelungen als die gestaltgeschichtliche Großerzählung, sondern auch so eigenständig, dass sie auf eine "gestaltgenetische" Herleitung, die von der ebenen Ackerfläche und der glatten Hauswand des Neolithikums über das in der Wand eingelassene rechteckige Fenster zur bemalten Bildfläche reicht, gar nicht angewiesen wäre.

Sommers Betrachtungen sind erste Schritte in Richtung einer allgemeinen Theorie der flächenhaften Darstellung, die Stoff, Format, Textur und Form von bildlichen und schriftlichen Darstellungsweisen näher ins Auge zu fassen erlaubt. Sie werden gerade in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf Resonanz stoßen, in denen sich jüngst wieder eine verstärkte Beschäftigung mit grundlegenden Fragen darstellerischer Formen und Formate beobachten lässt. Im Rahmen dieses neu entfachten Interesses an Problemen der Darstellung wird intensiv über die Frage debattiert, wie Formen und Formate vorstrukturieren, welche bildlichen und sprachlichen Darstellungen überhaupt möglich sind; oder wie sich Größenverhältnisse im Bereich von Form und Format auf die Wahrnehmung von künstlerischen oder wissenschaftlichen Darstellungen auswirken. Dafür erweisen sich Sommers Beobachtungen als aufschlussreich.

Dass dreidimensionale Darstellungsformen und -formate in ihnen fast durchgängig ausgebeblendet bleiben, zeigt freilich, welche Macht die moderne Hegemonie der rektangulären Fläche auch in der heutigen Philosophie noch ausübt: Selbst Sommers Phänomenologie steht weiterhin in ihrem Bannkreis.

CARLOS SPOERHASE

Manfred Sommer: "Von der Bildfläche". Eine Archäologie der Lineatur.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 544 S., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Eine Empfehlung als Sommerlektüre für den Strand, wunderbar geschrieben, ohne die typischen philosophischen Phrasen.« Radio Bremen 20160630